Philip Rosin
Helmut Kohl hat in seinen Regierungsjahren von 1982 bis 1998 die Bundesrepublik Deutschland so nachhaltig verändert wie vor ihm nur Konrad Adenauer. Standen in den 1980er Jahren die Sanierung der Staatsfinanzen und innenpolitische Reformen im Mittelpunkt, konzentrierte sich die Regierungsarbeit nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 auf die Vollendung der Deutschen Einheit und den „Aufbau Ost“.
Am 1. Oktober 1982 wurde Helmut Schmidt mittels eines konstruktiven Misstrauensvotums gestürzt und Helmut Kohl von den Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit 256 gegen 235 Stimmen zum Bundeskanzler gewählt. Damit endete für die CDU/CSU eine 14 Jahre lange Durststrecke in der Opposition. Entsprechend groß war die Euphorie. Diese Entwicklung war zwei Jahre zuvor noch nicht abzusehen gewesen. Bei der Bundestagswahl 1980 konnte der Unions-Kanzlerkandidat Franz Josef Strauß mit 44,5 Prozent nicht an das Ergebnis Kohls aus dem Jahr 1976 (48,6 Prozent) anschließen. Die sozial-liberale Koalition unter Schmidt wurde klar im Amt bestätigt. Doch bald darauf zeigten sich deutliche Krisenerscheinungen sowohl zwischen den Regierungsparteien als auch innerhalb der SPD. Angesichts einer anhaltenden Wirtschaftsschwäche und stetig steigender Staatsschulden forderte die FDP einen Kurswechsel in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Deutlich wurde dies in einem Strategiepapier des liberalen Wirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff. Die SPD lehnte die Forderungen ab und sprach von einem „Scheidungsbrief“.
In der Außenpolitik spitzte sich zugleich ein Streit innerhalb der SPD zu. Angesichts einer zunehmenden Verschlechterung des Ost-West-Verhältnisses und sowjetischer Aufrüstung war auf maßgebliche Initiative von Bundeskanzler Schmidt hin 1979 der NATO-Doppelbeschluss gefasst worden, der Gesprächsbereitschaft gegenüber der Sowjetunion mit der Drohung nach Aufstellung nuklearer Mittelstreckenraketen bei Dialogverweigerung verband. Diesen Kurs trugen immer größere Teile der eigenen Partei nicht mit, allen voran Willy Brandt, der Parteivorsitzende und außerdem Schmidts Amtsvorgänger.
Auch in der Opposition hatte Kohl den Kontakt zur FDP nie abreißen lassen. Bereits das während der Großen Koalition von 1966 bis 1969 von der Union erfolglos verfolgte Ziel zur Einführung eines Mehrheitswahlrechts – was de facto das Ende der FDP bedeutet hätte – hatte er kritisch gesehen, denn dadurch waren die Liberalen in die Arme der SPD getrieben worden. Seit der Übernahme des Fraktionsvorsitzes 1976 war es sein Bestreben, diesen Prozess wieder umzukehren. Zu Hans-Dietrich Genscher entwickelte sich über die Jahre ein Vertrauensverhältnis, das die Grundlage dafür bot, eine gemeinsame Regierung zu bilden.
Ein Schlagwort Kohls, das er Anfang der 1980er mehrmals gebrauchte, blieb besonders im Gedächtnis, nämlich die „geistig-moralische Wende“. Von linker Seite wurde der Ausdruck fälschlicherweise als Bekenntnis zum Geschichtsrevisionismus interpretiert. Dem überzeugten Europäer Kohl wurde diese Einschätzung schon damals nicht gerecht. Im Rückblick zeigt sich noch deutlicher, dass Kohl – in den Worten Horst Möllers – „ein größeres kulturpolitisches Erbe hinterlassen [hat] als alle Kanzler vor und nach ihm.“ Das Bonner Haus der Geschichte, das Deutsche Historische Museum in Berlin und die Gründung der Deutschen Historischen Institute in Washington und Warschau zeugen bis heute von diesem Engagement.
Bereits eine der ersten Entscheidungen der neuen Bundesregierung war höchst umstritten. Kohl war daran gelegen, eine klare Legitimation durch die Wähler für sich und seine Regierung zu erhalten. Allerdings lässt das Grundgesetz keinen direkten Weg zu einer Auflösung des Bundestages und zu Neuwahlen zu. Daher stellte Kohl im Bundestag die Vertrauensfrage – allerdings nicht mit dem eigentlich vorgesehenen Ziel, eine Mehrheit zu erringen, sondern sie im Gegenteil zu verlieren. Die Abgeordneten der Koalition stimmten gegen den Kanzler und gaben so dem Bundespräsidenten die Möglichkeit, Neuwahlen auszurufen. Dieser Schritt ist lange diskutiert worden. In juristischer Hinsicht war er umstritten, politisch hingegen war die Absicht, den Souverän zeitnah über den Bonner Machtwechsel entscheiden zu lassen, nachvollziehbar und Ausdruck demokratischer Überzeugung. Im Jahr 2005 schließlich beschritt SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder den gleichen Weg, um Neuwahlen herbeizuführen.
Bei der vorgezogenen Bundestagswahl im März 1983 wurde die neue Koalition vom Wähler klar bestätigt. Während die SPD deutliche Verluste hinnehmen musste, gewannen die Unionsparteien 4,3 Prozent hinzu und kamen auf 48,8 Prozent der Stimmen. Eine Besonderheit des Wahlergebnisses war zudem der erstmalige Einzug der Partei „Die Grünen“ in den Bundestag. Am 29. März 1983 wurde Kohl im Bundestag abermals zum Bundeskanzler gewählt.
Deutschlandspiegel 345/1983.
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War die Ostpolitik bei der Bildung der sozial-liberalen Koalition die verbindende Klammer gewesen, so war es nun in der christlich-liberalen Regierung die Wirtschafts- und Finanzpolitik. Das Erbe des „Weltökonomen“ Helmut Schmidt bestand in hoher Arbeitslosigkeit, einer stark wachsenden Staatsverschuldung und geringem Wirtschaftswachstum. FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff und CDU-Finanzminister Gerhard Stoltenberg sorgten für einen Richtungswechsel. Mit einer Mischung aus Investitionsanreizen für Unternehmen, der stufenweisen Senkung von Steuern vor allem für Familien, der Konsolidierung des Haushalts und anderen Mitteln legten sie das Fundament für eine anhaltend positive wirtschaftliche Entwicklung und eine deutliche Reduktion der Neuverschuldung in den restlichen 1980er Jahren. Die christlich-liberale Koalition setzte auf mehr privates wirtschaftliches Engagement und brachte die (Teil-)Privatisierung der defizitären Staatsunternehmen Bundespost und Bundesbahn in Gang. Mit der Einführung des Privatfernsehens wurde die Programmvielfalt gesteigert.
Im Jahr 1984 wurde das Erscheinungsbild der Regierungskoalition zwischenzeitlich durch zwei Affären getrübt. In der „Flick-Affäre“ ging es um undurchsichtige Praktiken der Parteienfinanzierung und den Vorwurf der Bestechlichkeit. Im Zuge der Affäre traten Lambsdorff und Bundestagspräsident Rainer Barzel (CDU) von ihren Ämtern zurück. Der Bundestag setzte einen Untersuchungsausschuss ein, der auch Kohl befragte. Vertreter der Opposition erhoben im Anschluss den Vorwurf mangelnder Transparenz. Ganz anders gelagert war die „Kießling-Affäre“ um die mutmaßliche Homosexualität und potenzielle Erpressbarkeit eines hochrangigen Bundeswehr-Generals, in der das ungeschickte Agieren von Verteidigungsminister Manfred Wörner in den Blick geriet. Kohl griff schließlich ein und sorgte für die Rehabilitierung des zuvor unehrenhaft entlassenen Generals, der das Opfer einer Verwechslung oder einer Intrige geworden war. Ein Rücktrittsangebot Wörners lehnte Kohl ab.
Eine Herausforderung für Regierung und Gesellschaft blieb der Terrorismus. Im Dezember 1986 verabschiedete der Bundestag ein Gesetz zu dessen effektiverer Bekämpfung. Im April 1986 wurde ein Bombenanschlag auf die West-Berliner Diskothek La Belle verübt, die häufig von amerikanischen Soldaten besucht wurde und dessen Urheberschaft in Libyen lag. Auch die RAF setzte ihre blutigen Anschläge gegen den demokratischen Verfassungsstaat fort. Zu ihren Opfern gehörten unter anderen der Diplomat Gerold von Braunmühl, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank Alfred Herrhausen und der Chef der Treuhandanstalt Detlev Karsten Rohwedder.
Infolge der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wurde 1986 das Bundesumweltministerium neu geschaffen und mit Walter Wallmann, von 1987 an mit Klaus Töpfer besetzt. Zu den umweltpolitischen Entscheidungen der Regierung Kohl gehörten etwa das Verbot von verbleitem Normalbenzin, die Einbaupflicht von Katalysatoren in Neuwagen und die Stärkung des Recyclings-Prinzips bei Plastikverpackungen durch Einführung des Sammel- und Verwertungssystems „Der grüne Punkt“. Auf der Umweltkonferenz von Rio de Janeiro im Juni 1992, von der wichtige Impulse für den globalen Natur- und Klimaschutz ausgingen, betonte Kohl die Verantwortung gegenüber kommenden Generationen. „In ihrem Interesse wollen wir alle diese lebenswichtige Aufgabe fortan in den Mittelpunkt der internationalen Politik stellen.“
In der Außenpolitik demonstrierte die Regierung Kohl Verlässlichkeit. Sie trieb die Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses entschlossen voran – trotz der Massendemonstrationen Friedensbewegter auf der Bonner Hofgartenwiese. Im November 1983 billigte der Deutsche Bundestag die entsprechenden Stationierungsbeschlüsse. Ganz besonders lag dem Pfälzer Kohl das Verhältnis zu Frankreich am Herzen. Eine enge freundschaftliche Beziehung entwickelte er zum französischen Präsidenten François Mitterrand. Anlässlich der Gedenkfeierlichkeiten zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam es am 22. September 1984 zu einer bedeutenden Versöhnungsgeste, als beide Staatsmänner zwischen den Soldatengräbern von Verdun gemeinsam der Toten gedachten und sich spontan die Hände reichten.
Da in der Europapolitik weitgehend Stillstand herrschte, versuchten Kohl und Mitterrand – ab 1985 unterstützt durch EG-Kommissionspräsident Jacques Delors – erfolgreich, die zeitgenössisch so bezeichnete „Eurosklerose“ zu überwinden und den europäischen Integrationsprozess wieder in Gang zu bringen. Bereits unter deutscher EG-Präsidentschaft formulierten die Staats- und Regierungschefs im Juni 1983 das Ziel, die Gemeinschaft zur Europäischen Union auszubauen.
Mit der Unterzeichnung des Schengener Abkommens vom 15. Juni 1985 wurden die Passkontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft und freier Reiseverkehr zwischen den Mitgliedsstaaten geschaffen. Zum 1. Januar 1987 trat die „Einheitliche Europäische Akte“ in Kraft, durch die die Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten vertieft und der Weg zur Realisierung eines europäischen Binnenmarktes beschritten wurde.
Unter deutscher Ratspräsidentschaft wurde 1988 ein Expertenausschuss unter Delors’ Leitung eingesetzt, der die Realisierungsmöglichkeiten einer gemeinsamen europäischen Währung untersuchen sollte. Auf dem Gipfeltreffen von Maastricht im November 1991 wurde die Europäische Union geschaffen. Zum 1. Januar 1993 trat der Europäische Binnenmarkt in Kraft.
Das Verhältnis zur Sowjetunion gestaltete sich bis Mitte der 1980er Jahre schwierig. Aufgrund der häufigen Ämterwechsel der hochbetagten Staats- und Parteiführung war keine Kontinuität gegeben. Das änderte sich erst mit dem Amtsantritt von Michail Gorbatschow im Jahr 1985. Irritationen ob einer unbedachten Interview-Äußerung Kohls über den neuen charismatischen Generalsekretär der KPdSU konnten schnell überwunden werden, und es entwickelte sich ein bis dahin ungewöhnliches Vertrauensverhältnis.
Gegenüber der DDR bemühte sich die Regierung Kohl um einen distanzierten, aber korrekten Umgang. Sie leistete erhebliche Finanzleistungen an die SED-Führung, um im Gegenzug Erleichterungen etwa bei Besuchsreisen, der Bewilligung von Ausreiseanträgen oder der Entschärfung der Grenzanlagen zu erreichen. Im September 1987 reiste der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker zu einem offiziellen Staatsbesuch nach Bonn.
Die DDR feierte dieses Ereignis als einen Prestigeerfolg. In seiner beim gemeinsamen Staatsbankett gehaltenen Tischrede, die wie von Kohl zuvor gefordert live im Fernsehen der DDR übertragen wurde, ließ der Kanzler gleichwohl keinen Zweifel daran, dass die Bundesregierung sich mit der Zweistaatlichkeit Deutschlands nicht abfinden werde: „Die Präambel unseres Grundgesetzes steht nicht zur Disposition, weil sie unserer Überzeugung entspricht. Sie will das vereinte Europa, und sie fordert das gesamte deutsche Volk auf, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Das ist unser Ziel.“
Bei der Bundestagswahl 1987 mussten die Unionsparteien zwar Verluste hinnehmen, blieben mit 44,3 Prozent aber stärkste politische Kraft. Die christlich-liberale Koalition wurde fortgesetzt und Kohl am 11. März 1987 vom Bundestag ein drittes Mal zum Bundeskanzler gewählt. Fallende Umfragewerte und personelle Veränderungen innerhalb der CSU infolge des Ablebens ihres Vorsitzenden Strauß im Oktober 1988 führten im April 1989 schließlich zu einer größeren Kabinettsumbildung. Im Rahmen des Revirements wurde unter anderen der neue CSU-Vorsitzende Theo Waigel zum Bundesfinanzminister und der bisherige Chef des Bundeskanzleramts Wolfgang Schäuble (CDU) zum Bundesinnenminister ernannt.
In Teilen der CDU gab es Unzufriedenheit mit Kohl. Zu den Kritikern zählte auch Heiner Geißler. Im Sommer 1989 gab Kohl bekannt, den seit 1977 amtierenden CDU-Generalsekretär abzulösen. Im Vorfeld des Bremer CDU-Bundesparteitags im September 1989 gab es Gerüchte über einen möglichen „Putsch“ seiner Kritiker, doch letztlich wurde Kohl mit 571 von 718 Stimmen als Parteivorsitzender bestätigt.
Zeitgleich kam es zu markanten politischen Veränderungen in Osteuropa und auch in der DDR. Gegen das offizielle Ergebnis der Kommunalwahlen in der DDR regte sich Protest und Bürgerrechtlern gelang der Nachweis von Wahlfälschungen. Im Sommer und Herbst 1989 spitzte sich die Situation durch die Ausreisebewegung zu. Die ungarische Regierung öffnete ihre Grenze zu Österreich, zudem flohen Deutsche aus der DDR auf das Gelände der bundesdeutschen Botschaft in Prag. Zeitgleich weiteten sich die Proteste in der DDR zu Massendemonstrationen aus. Ein Missverständnis innerhalb der SED-Führung führte am Abend des 9. November 1989 zum Fall der Berliner Mauer. Kohl brach seinen Staatsbesuch in der Volksrepublik Polen ab und sprach bereits am 10. November auf zwei Kundgebungen zur Berliner Bevölkerung. In Telefonaten versicherte er Gorbatschow, dass Gerüchte über eine angebliche Gefährdung der sowjetischen Truppen in der DDR falsch seien, und er appellierte an ihn, für eine weiterhin friedliche Entwicklung zu sorgen.
Die Protestbewegung war keineswegs geeint in ihren Zielen. Manchen Demonstranten, vor allem führende Köpfe der Bewegung, ging es nur um Reformen innerhalb der DDR. Diejenigen jedoch, die nach dem Ruf „Wir sind das Volk“ jetzt die Parole „Wir sind ein Volk“ vertraten, fanden in Helmut Kohl ihren wichtigsten Unterstützer. Der Bundeskanzler setzte sich an die Spitze der Einheitsbewegung und hatte damit entscheidenden Anteil an der weiteren Entwicklung. Am 28. November 1989 präsentierte er im Bundestag das „Zehn-Punkte-Programm“ zu einer schrittweisen Annäherung zwischen West- und Ostdeutschland. Die Schaffung „konföderative[r] Strukturen“, die Errichtung „eine[r] bundesstaatliche[n] Ordnung“ und schließlich in Punkt zehn die „Wiedervereinigung“ waren Schlüsselbegriffe seines Plans. In einer umjubelten Rede in Dresden vor der Ruine der Frauenkirche machte Kohl am 19. Dezember 1989 deutlich, dass er sich mit aller Kraft für die Überwindung der Teilung Deutschlands einsetzen werde: „Mein Ziel bleibt – wenn die geschichtliche Stunde es zuläßt – die Einheit unserer Nation.“
Für die weitere Entwicklung zur Einheit waren zwei verschiedene Handlungsstränge entscheidend, die ineinandergriffen. Auf der einen Seite die innerdeutsche Ebene mit dem Verlust des Machtmonopols der SED, dem Gewinn des von Kohl geschmiedeten Wahlkampfbündnisses „Allianz für Deutschland“ unter Führung der Ost-CDU bei der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR vom 18. März 1990, der Umsetzung der Wirtschafts- und Währungsunion zum 1. Juli 1990 und schließlich der Aushandlung des Einigungsvertrags zwischen den beiden deutschen Regierungen unter Federführung der Innenminister Schäuble und Günther Krause.
Auf der anderen Seite gab es die politisch-diplomatische Ebene mit einer Vielzahl bilateraler Begegnungen Kohls mit anderen Staatsmännern wie dem amerikanischen Präsidenten George Bush, dem anfangs skeptischen Mitterrand und mit Gorbatschow, wobei ihr Zusammensein Mitte Juli 1990 im Kaukasus besondere symbolische Bedeutung erlangte. Auf Außenministerebene wurden zudem Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten, vertreten durch Hans-Dietrich Genscher und Markus Meckel, und den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs geführt, auf deren Haltung es entscheidend ankam, wenn es um Fragen ging, die Deutschland als Ganzes betrafen.
Mit der Unterzeichnung des „Zwei-plus-Vier-Vertrags“ am 12. September 1990 waren die Erlangung der vollen Souveränität Deutschlands und die Wiedervereinigung auch international abgesichert, die am 3. Oktober 1990 vollzogen wurde. Bei der ersten Sitzung des Bundestags im Berliner Reichstagsgebäude am Tag darauf zog Kohl folgendes Fazit: „Wann je […] hatte ein Volk die Chance, Jahrzehnte der schmerzlichen Trennung auf so friedliche Weise zu überwinden? Ohne Krieg und Gewalt, ohne Blutvergießen, in vollem Einvernehmen mit unseren Nachbarn und Partnern und mit ihrer Zustimmung haben wir die Einheit Deutschlands in Freiheit wiederherstellen können.“
Bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990 erhielt die christlich-liberale Koalition einen klaren Regierungsauftrag. Am 17. Januar 1991 wurde Kohl vom Bundestag wieder zum Bundeskanzler gewählt. Im Kabinett Kohl IV waren mit Angela Merkel (Jugend/Familie), Günther Krause (Verkehr) und Rainer Ortleb (Bildung/Wissenschaft) drei Ressortminister aus Ostdeutschland vertreten. Die SED-Nachfolgepartei PDS zog in den Bundestag ein und blieb in Ostdeutschland ein ernstzunehmender politischer Faktor. In der ersten Jahreshälfte 1991 beschäftige die Frage nach dem künftigen Parlaments- und Regierungssitz Politik und Öffentlichkeit. Bei der Abstimmung im Bundestag setzte sich Berlin knapp mit 338 gegen 320 Stimmen gegen Bonn durch. Auch Kohl stimmte für Berlin, denn – wie er es im Plenum formulierte – „Berlin war Brennpunkt deutscher Teilung und Sehnsucht deutscher Einheit. Ohne dieses Berlin der letzten vier Jahrzehnte und ohne das, was Berlin für uns bedeutet hat, wäre die deutsche Einheit nicht möglich gewesen.“
Deutschlandspiegel 459/1992.
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Die Bewältigung der Teilungsfolgen stand zunächst im Mittelpunkt des Regierungshandelns. Anders als zunächst beabsichtigt, ließ sich diese Aufgabe nicht ohne Steuerhöhungen bewältigen. Auch ein spezieller „Solidaritätszuschlag“ wurde zum 1. Juli 1991 eingeführt. Unter dem Motto „Aufbau Ost“ wurde im Verlauf der 1990er Jahre eine Vielzahl wirtschaftspolitischer Maßnahmen ergriffen, um die Lebensverhältnisse im Osten zu verbessern. Schwerpunkte waren Projekte zur Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur und zur Sanierung der in ihrer Bausubstanz maroden Innenstädte. Die noch von der DDR-Volkskammer eingesetzte Treuhandanstalt übernahm die Mammutaufgabe, die Betriebe der DDR-Planwirtschaft zu privatisieren. Ihre Rolle wird bis heute diskutiert. Auch wenn es zu Fehlentscheidungen kam und einige „Glücksritter“ aus Westdeutschland die unübersichtliche Situation ausnutzten, so ist doch festzuhalten, dass die originären Ursachen der Probleme in der Misswirtschaft der DDR-Führung begründet sind. Wohl für keine Formulierung musste Kohl so viel Kritik einstecken wie für die von den entstehenden „blühenden Landschaften“. In Teilen der ostdeutschen Bevölkerung entwickelte sich angesichts der Härten des Strukturwandels und der steigenden Arbeitslosigkeit ein Gefühl der Enttäuschung. Es war von einer „Vereinigungskrise“ (Jürgen Kocka) die Rede. Im Rückblick von 30 Jahren kann man jedoch feststellen, dass Kohl mit seiner Aussage längerfristig weitgehend richtig lag.
Mehrere fremdenfeindliche Ausschreitungen und Anschläge (Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln, Solingen) erschütterten die Bundesrepublik. Zum Anschlag von Solingen mit fünf Todesopfern sprach Kohl am 16. Juni 1993 im Rahmen einer Regierungserklärung im Bundestag den Angehörigen der Opfer sein Mitgefühl aus und verurteilte „ein unfassbares Maß an sittlicher Verrohung“.
Die 1990er Jahre waren eine Epoche des Umbruchs. Das Zeitalter der Globalisierung brach an. Im wiedervereinigten Deutschland wurde eine Vielzahl von Diskussionen zu Geschichte, Politik und Gesellschaft geführt. Dazu gehörte etwa die Debatte über eine Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Mit dem Kompromiss zur Neuregelung des Paragraphen 218 führte der Bundestag eine Fristenlösung mit Beratungspflicht ein. Auch die Zukunft der Kernenergie wurde intensiv diskutiert – aufgrund der vereinbarten Lieferungen von Atommüll in das Lager Gorleben besonders in der Amtszeit von Umweltministerin Merkel (1994–1998). Das bisher uneingeschränkt geltende Asylrecht wurde nach jahrelanger Diskussion auf Grundlage eines Kompromisses zwischen CDU/CSU, FDP und SPD im Jahr 1993 reformiert. Im selben Jahr reagierte die Bundesregierung auf die zunehmende Alterung der Gesellschaft und beschloss unter der Federführung von Arbeitsminister Norbert Blüm die Einführung einer Pflegeversicherung zum 1. Januar 1995. Im koalitionsinternen Streit über ein Gesetz zur Erleichterung der Wohnraumüberwachung zur Verbrechensbekämpfung wurde ein Kompromiss gefunden, den die FDP-Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger nicht mittragen wollte und Ende 1995 von ihrem Amt zurücktrat.
Auch in der Außenpolitik kamen neue Herausforderungen auf das wiedervereinigte Deutschland zu. Dabei rückte zunehmend die Frage von Auslandseinsätzen der Bundeswehr auch außerhalb des NATO-Gebiets in den Mittelpunkt. Das Grundgesetz sah ihren Einsatz nur für die Verteidigung und im multilateralen Kontext vor. Im Golfkrieg des Jahres 1991 zog sich Deutschland noch mit der Zahlung eines Geldbetrags von fast 18 Milliarden Mark aus der Affäre. Es folgte die Beteiligung an kleineren zivilen Einsätzen der Vereinten Nationen in Kambodscha und Somalia.
Wegen des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien begann die NATO 1993 eine Luftraumüberwachung. Zur Besatzung der Aufklärungsflugzeuge gehörten auch deutsche Soldaten. Es entbrannte ein Koalitionsstreit, weil die Union die deutschen Soldaten an Bord belassen und die FDP sie entfernen wollte. Die Freien Demokraten klagten daraufhin vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die eigene Regierung. In einem wegweisenden Urteil entschieden die Karlsruher Richter im Juli 1994, dass Einsätze der Bundeswehr im Rahmen von UNO und NATO weltweit zulässig seien, das Gericht band jedoch die deutsche Beteiligung an eine vorherige Zustimmung durch den Bundestag.
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An der engen Sicherheitspartnerschaft mit den Vereinigten Staaten wurde festgehalten, wie Kohl und Präsident Bill Clinton im Juli 1994 beim gemeinsamen Gang durch das Brandenburger Tor symbolisch zum Ausdruck brachten. Auf dem NATO-Gipfel von Madrid im Juli 1997 wurde der Weg zu Beitrittsverhandlungen mit Polen, Tschechien und Ungarn beschritten. Ein recht freundschaftliches Verhältnis entwickelte sich auch zwischen Kohl und dem russischen Präsidenten Boris Jelzin. Anlass zur Sorge gab allerdings die innere politische Instabilität der früheren Weltmacht. Einen außenpolitischen Schwerpunkt setzte die Regierung Kohl gegenüber Israel ebenso wie im Verhältnis zu Polen. Nach der Unterzeichnung des Grenzvertrags wurde im Juni 1991 ein gemeinsamer Freundschaftsvertrag geschlossen und auf trilateraler Ebene das „Weimarer Dreieck“ zur engeren Zusammenarbeit zwischen Bonn/Berlin, Paris und Warschau gegründet.
Im Dezember 1997 wurde mit den Beschlüssen des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs in Luxemburg die Osterweiterung der EU eingeleitet. Besonders Kohl hatte sich für dieses Ziel eingesetzt, denn seiner festen Überzeugung nach musste der Überwindung der deutschen Teilung die des europäischen Kontinents folgen. Beim vorherigen Gipfel im Juli 1997 war der Vertrag von Amsterdam beschlossen worden, durch den das Amt eines Hohen Beauftragten für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU geschaffen und die Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments gestärkt wurden. Auf dem Gipfel von Maastricht war bereits die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Währung vereinbart worden. Kohl warb in den 1990er Jahren intensiv für die Einführung des Euro, durch die die Einigung Europas seiner Ansicht nach unumkehrbar gemacht wurde. Später zeigte sich freilich, dass auch die Einheitswährung selbst nicht gegen Krisen gefeit war.
Bei der Bundestagswahl 1994 mussten die Unionsparteien leichte und die FDP starke Verluste hinnehmen. Die christlich-liberale Koalition verfügte jedoch weiterhin über eine knappe Mehrheit und konnte fortgesetzt werden. Die abermalige Wahl Kohls zum Kanzler durch den Bundestag fand am 15. November 1994 statt. Ein symbolisches Aufbruchssignal setzte der Kanzler mit der Ernennung des CDU-Bundestagsabgeordneten Jürgen Rüttgers zum „Zukunftsminister“.
Deutschlandspiegel 482/1994.
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Der politische Spielraum der Regierungsparteien wurde allerdings immer kleiner. Seit der Wahl Oskar Lafontaines zum Parteivorsitzenden 1995 verfolgte die SPD einen kompromisslosen Oppositionskurs, der auch eine Blockadepolitik im Bundesrat beinhaltete, wo SPD und Grüne eine Mehrheit hatten. Pläne der Koalition für eine Steuerreform („Petersberger Steuerbeschlüsse“) konnten daher nicht realisiert werden. Im Rentenreformgesetz von 1997 wurde durch die Einführung eines „demographischen Faktors“ der höheren Lebenserwartung und dem demographischen Wandel der Gesellschaft Rechnung getragen. Doch wurde dieser wichtige Reformschritt später von der rot-grünen Regierung vor dessen Inkrafttreten wieder rückgängig gemacht.
Im Bundestagswahlkampf 1998 vermochte es Kohl nicht mehr, den negativen Umfragetrend umzukehren. Nach 16 Jahren gab es in der Bevölkerung eine fühlbare Wechselstimmung. Die Unionsparteien kamen bei der Wahl am 27. September 1998 nur noch auf 35,1 Prozent und lagen damit deutlich hinter der SPD mit 40,9 Prozent. Am 27. Oktober 1998 übergab Kohl die Amtsgeschäfte an seinen Nachfolger Gerhard Schröder. Im Amt des CDU-Vorsitzenden folgte ihm am 7. November 1998 Wolfgang Schäuble nach.
Kohls hohes öffentliches Ansehen litt durch die Parteispendenaffäre der Jahre 1999/2000. Dessen ungeachtet bleibt er als großer Staatsmann in Erinnerung, der als „Kanzler der Einheit“ in einer Reihe mit den Staatsgründern Otto von Bismarck und Konrad Adenauer genannt werden kann. Als überzeugter Europäer hat er zudem den EU-Integrationsprozess entscheidend vorangetrieben. Außer Jean Monnet trägt allein Helmut Kohl den Titel „Ehrenbürger Europas“.
Am 2. Dezember 1976 gab Helmut Kohl sein Amt als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz auf und trat als Oppositionsführer an die Spitze der stärksten Fraktion im Deutschen Bundestag. Nicht nur harte Auseinandersetzungen mit Bundeskanzler Helmut Schmidt, sondern auch Machtkämpfe zwischen den beiden Schwesterparteien CDU und CSU bestimmten die kommenden Jahre.
Nach dem Ausscheiden aus dem Amt des Bundeskanzlers im Oktober 1998 hat Helmut Kohl weiterhin in vielfältiger Weise politisch gewirkt. Ein besonderes Anliegen war es ihm, die jungen Menschen für die europäische Einigung zu begeistern. Im Dezember 1998 wurde ihm der Titel „Ehrenbürger Europas“ verliehen. Überschattet wurden diese Jahre durch die Parteispendenaffäre 1999/2000 und den Freitod seiner ersten Ehefrau Hannelore 2001.