Jürgen Elvert
Für Helmut Kohl war Europa stets mehr als ein Wirtschaftsprojekt. Schon in seiner Regierungserklärung hatte er die Politische Union Europas zum Primärziel deutscher Europapolitik erklärt. Mit dem Vertrag von Maastricht erreichte Kohl den Höhepunkt seiner Europapolitik. 1998 wurde er für sein Engagement geehrt und zum „Ehrenbürger Europas“ ernannt.
Helmut Kohls Europapolitik lässt sich biographisch erklären – persönlich-biographisch über seinen Geburtsjahrgang 1930, der ihn das Kriegsende und Nachkriegszeit ebenso wie die deutsche Teilung und die schwierigen Anfänge des Einigungsprozesses in den 1950er Jahren erleben ließ, politisch-biographisch über die Anfänge seiner politischen Karriere in den 1950er Jahren. Als Bundeskanzler hatte Kohl öfter darauf hingewiesen, dass er sich in Bezug auf die großen Linien der bundesdeutschen Europapolitik als Sachwalter Konrad Adenauers sah. Somit lag für Kohl die europäische Integration zum einen im nationalen Interesse der Bundesrepublik Deutschland, zum anderen verstand er sie aus historischer Perspektive als einen wesentlichen Beitrag zur Vollendung einer Jahrhunderte alten Idee.
Für Kohl war Europa stets mehr als ein Wirtschaftsprojekt. Schon in den 1970er Jahren, zunächst noch als Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz und als Vorsitzender der CDU, dann als Oppositionsführer im Deutschen Bundestag, hatte er Europa als die Summe der Ideen und Aussagen des europäischen Geisteslebens bezeichnet. Dazu zählte er die Erfolge der Industrialisierung und Technisierung ebenso wie die Wirkungen der französischen Revolution, die 2000-jährige Geschichte des Christentums, die wechselvolle Geschichte sich ändernder Staatensysteme oder fruchtbare Friedens- und grausame Kriegszeiten. Die Überwindung nationalstaatlichen Denkens als Lehre aus zwei Weltkriegen ebenso wie den systemischen Konflikt im Zeitalter des Kalten Krieges verstand er als Verpflichtung, für eine Vertiefung und Verfestigung der europäischen politischen Strukturen zu kämpfen. Europa stellte sich ihm als das besonders vom 20. Jahrhundert geprägte Erbe des Abendlandes dar – und damit als ein Erbe, in dem die Gemeinschaft der freiheitlich-demokratischen Staaten in der Idee der Freiheit Gestalt angenommen und zum wesentlichen verbindenden Element in den Grundwerten, Idealen und Visionen der Europäischen Gemeinschaft geworden sei. Freiheit und Solidarität waren für ihn somit die beiden Seiten einer Medaille. Insofern war seine Forderung, die Unfreiheit im Osten Europas zu überwinden, stets mehr als nur ein Lippenbekenntnis. Er sah darin einen Akt gelebter europäischer Solidarität, in dem dann auch der Überwindung der deutschen Teilung eine bedeutende Rolle beizumessen war.
Die hier nur skizzenhaft angedeuteten Grundlinien des Kohl’schen Europaverständnisses waren kennzeichnend für die europapolitischen Aussagen des CDU-Vorsitzenden vor seiner Wahl zum Bundeskanzler, sie lagen im Wesentlichen auch auf einer Linie mit den entsprechenden Standpunkten seiner Partei und ihrer bayerischen Schwester, der CSU, in den 1970er Jahren. Auf der europäischen Ebene vertrat Kohl diese Positionen in der Europäischen Volkspartei (EVP), um deren Stärkung er sich seit den ersten Direktwahlen zum Europäischen Parlament 1979 stets bemüht hatte. Seiner Meinung nach stand die EVP schon Ende der 1970er Jahre auf einer programmatisch viel homogeneren Basis als die europäischen Liberalen oder Sozialisten. Das führte er auf drei gemeinsame Grundprinzipien zurück: Auf das Personalprinzip, das im Welt- und Menschenbild der christlich-humanistischen Tradition stand, welches einen personen-bezogenen Freiheitsbegriff bedingt, auf das Solidaritätsprinzip, welches die ordnungspolitischen Begrenzungen des Freiheitsbegriffs liefert, sowie auf das Subsidiaritätsprinzip, hervorgegangen aus einer gemeinsamen Sozialethik, deren konkrete Ausformulierung und transzendente Verankerung es vom Sozialismus und Kommunismus unterschied. Darüber hinaus einte die EVP, so eine Einschätzung Kohls aus dem Jahre 1977, der gemeinsame Wille zur politischen Einigung des freien Europas und zu einem erweiterten Rollenverständnis Europas im Nord-Süd-Verhältnis, in den Beziehungen zu anderen westlichen Staaten sowie im Verhältnis zu den Staaten des Ostblocks.
Bereits in seiner Regierungserklärung vom Herbst 1982 hatte Helmut Kohl die Politische Union Europas zum Primärziel deutscher Europapolitik erklärt. Er wollte dies über eine Verbesserung der Handlungsfähigkeit der Institutionen und Praktizierung der vertraglich vorgesehenen Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat sowie eine Stärkung des Europäischen Parlaments erreichen. In anderen Erklärungen aus der Frühzeit seiner Kanzlerschaft erfolgten auffallend häufig Bezüge auf die Genscher-Colombo-Initiative für eine „Europäische Akte“. Damit hatte sich Kohl in kurzer Zeit, auch gestützt auf das ökonomische und politische Gewicht der Bundesrepublik, zu einem engagierten Verfechter des von Außenminister Genscher schon vor der „Wende“ von 1982 proklamierten Kurses zur Vertiefung der Gemeinschaftsstrukturen gemacht. Für Kohl stellte eine „Europäische Akte“ jedoch keinesfalls bereits die finalité politique der europäischen Integration dar, er verstand sie vielmehr als Vorstufe zur Vollendung der „Vereinigten Staaten von Europa“.
Damit bekannte er sich ausdrücklich zu einer Traditionslinie, deren Anfang in Konrad Adenauers Europapolitik lag. Entsprechende Forderungen finden sich in zahlreichen Reden Kohls aus den 1980er Jahren, ebenso in den von ihm maßgeblich mitgestalteten Programmentwürfen der CDU. Dabei blieb allerdings unklar, wie sich die Vereinigten Staaten von Europa von einer Europäischen Union bzw. einer Politischen Union unterschieden. Dass sie darüber hinausgehen sollten, dürfte nicht zu bezweifeln sein, andererseits wusste der Realpolitiker Kohl sehr wohl, wie vorsichtig er im öffentlichen Gebrauch mit solchen Begriffen umgehen musste. Schließlich erinnerten die „Vereinigten Staaten“ auch an die USA und konnten Assoziationen hinsichtlich einer föderal gegliederten politischen Struktur hervorrufen. Damit jedoch hätte Kohl Euroskeptikern unnötige Munition in ihrem Kampf gegen eine weitere Vertiefung der Gemeinschaftsstrukturen geliefert, wohingegen der Verzicht auf eine Begriffskonkretisierung auch als eine Stärkung der intergouvernementalen Ebene im Sinne einer konföderalen Weiterentwicklung interpretiert werden konnte.
Doch trotz dieser begrifflichen Ambivalenz spricht vieles dafür, dass sich Helmut Kohl hinsichtlich seiner in den 1980er Jahren weiterentwickelten Vorstellungen von der europäischen finalité politique weiterhin am 1978 verabschiedeten Ludwigshafener Grundsatzprogramm der CDU orientierte, das als Ziel des Integrationsprozesses ausdrücklich die Herausbildung eines demokratischen europäischen Bundesstaates genannt hatte. Daran änderte sich im Verlauf der nächsten zehn Jahre wenig, auf dem Wiesbadener CDU-Parteitag von 1988 wurde die Schaffung der vereinigten Staaten von Europa erneut zum Primärziel christdemokratischer Europapolitik erklärt, welches über den Ausbau der EG zu einer Europäischen Union erreicht werden sollte. Diese wiederum sollte auf einem Fundament aus einer Politischen und Sicherheitsunion sowie einer Wirtschafts- und Währungsunion errichtet werden. Eine solche Union wäre von einer demokratisch legitimierten europäischen Exekutive zu regieren, der ein mit umfangreichen Befugnissen ausgestattetes Europäisches Parlament gegenüberstehen müsste, wohingegen der Europäische Rat bzw. der Ministerrat allmählich in eine zweite Kammer des Parlaments umzuwandeln wäre.
Doch wie wollte Helmut Kohl diese Ziele erreichen? Auch wenn das Europäische Währungssystem Ende der 1970er Jahre noch nicht völlig reibungslos arbeitete, weil die dazugehörigen Staaten in akuten oder auch nur vermeintlichen ökonomischen Krisensituationen immer noch reflexartig nationale Alleingänge zur Krisenbewältigung versuchten, waren die seit Ende der 1960er Jahre gemachten Fortschritte auf dem Gebiet der gemeinsamen Wirtschafts- und Währungspolitik besonders im Vergleich zum Stand der politischen Zusammenarbeit beachtlich. Insofern konzentrierte sich die Kohl-Regierung auf das Gebiet der politischen Zusammenarbeit im Integrationsraum. Die Genscher-Colombo-Initiative bot eine Bezugsgröße, die zwar aufgrund der Intervention einzelner, weniger integrationsfreundlicher Mitgliedstaaten hinsichtlich der Reichweite der Forderungen etwas abgeschwächt worden war, jedoch in ihrer Kernaussage immer noch Bestand hatte.
So lag es auf der Hand, dass sich die Regierung Kohl Anfang 1983, nach Übernahme der Ratspräsidentschaft, dem Projekt „Europäische Akte“ widmete. Eine erste Wegmarke dorthin stellte die im Juni 1983 auf dem Stuttgarter Gipfeltreffen verabschiedete „Feierliche Erklärung zur Europäischen Union“ dar. Trotz ihrer relativen Unverbindlichkeit spiegelte sich in ihr bereits der erklärte Wille der Mitgliedstaaten, auch die politische Zusammenarbeit im Integrationsraum zu vertiefen.
Wenngleich es nicht so beabsichtigt war, erhielten sie bei diesem Vorhaben Schützenhilfe von Seiten des Europäischen Parlaments, das unter der Leitung Altiero Spinellis einen Bericht veröffentlichte, in dem ein „Vertrag zur Gründung der Europäischen Union“ mit einer deutlichen Erweiterung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments gefordert wurde. Die Veröffentlichung des Spinelli-Berichts im Frühjahr 1984 fiel in die Zeit der französischen Ratspräsidentschaft unter François Mitterand. Dessen Europapolitik hatte sich anfangs nur in Nuancen von der seines Vorgängers unterschieden. Wie Valéry Giscard d’Estaing war auch Mitterand gewillt, die weitere Entwicklung der EG tatkräftig mitzugestalten und hatte daher kurz nach seinem Amtsantritt in mehreren Denkschriften eine neue relance européenne gefordert. In Anlehnung an den Durchbruch von 1955 auf dem Weg zu den Römischen Verträgen sollte sie dem Integrationsprozess neuen Schwung verleihen.
Allerdings war es ihm weder 1981 noch 1982 gelungen, im Gemeinschaftsraum in größerem Umfang Unterstützung für seine Ansätze zu gewinnen. Mit Helmut Kohl jedoch hatte er einen engagierten Mitstreiter gefunden, der die EG ebenfalls zum Kern einer Europäischen Union umgestalten wollte, die sich nicht nur als Gemeinsamen Markt begriff, sondern als eine politisch-moralische Wertegemeinschaft sui generis. Wie Kohl ging aber auch Mitterand davon aus, dass bis dorthin noch ein langer Weg zurückzulegen war, der einerseits von pragmatischen Problemlösungsansätzen, andererseits von Impulsen zur Dynamisierung des Integrationsprozesses gekennzeichnet sein musste.
Nachdem sich beide Politiker im Verlauf des Jahres 1983 bei mehreren Gelegenheiten gegenseitig unterstützt hatten, beide überdies über die dauernden Forderungen der britischen Premierministerin Margaret Thatcher nach einer Verringerung des britischen EG-Beitrags verärgert waren, hatten sie eine gemeinsame Vertrauensbasis gefunden, die dazu taugte, das Projekt „Europäische Union“ gemeinsam mit Erfolg vorantreiben zu können.
Die Bewährungsprobe dieser Zusammenarbeit stellte der Gipfel von Fontainebleau im Juni 1984 dar, für den beide eine gemeinsame Marschroute abgesteckt hatten. Mitterand und Kohl waren bereit, den britischen Rückzahlungsforderungen weit entgegenzukommen. Für den Fall, dass die britische Premierministerin sich dennoch unnachgiebig gegenüber ihren Strukturreformvorschlägen zeigen sollte und der Gipfel deshalb zu scheitern drohte, wären sie sogar bereit gewesen, eine Neugründung der EG ohne britische Beteiligung in Kauf zu nehmen. Nachdem diese Botschaft der britischen Regierung auf vertraulichem Wege zur Kenntnis gebracht worden war, stand einem erfolgreichen Abschluss der Ratstagung nichts mehr im Wege. Die britische Premierministerin konnte in ihrem Abschlusskommuniqué verkünden, dass sich die Staats- und Regierungschefs auf eine Minderung der britischen Nettobeiträge um 66% verständigt hatten. Frankreich und Deutschland übernahmen den Fehlbetrag zusätzlich zu ihren sonstigen Leistungen. Damit blieb die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) weiterhin sichergestellt und die Gemeinschaft handlungsfähig.
Die in Bonn nur zähneknirschend akzeptierten zusätzlichen Zahlungen an die EG waren für Helmut Kohl lediglich eine Investition in die Zukunft, da die Mittel teils direkt wieder nach Deutschland zurückflossen, teils im Rahmen des Strukturausgleichs ärmeren Regionen in Europa zugutekamen, die damit in größerem Umfang als bisher am EG-Binnenhandel partizipieren konnten, was wiederum von Vorteil für die deutsche Wirtschaft war. Nach der Verständigung in diesen zentralen Punkten wurden in Fontainebleau zudem die Voraussetzungen dafür geschaffen, die zeitgleich mit Spanien und Portugal geführten Beitrittsverhandlungen zügig abzuschließen. Des Weiteren wurden zwei Ausschüsse eingesetzt, von denen der eine – unter der Leitung des Italieners Pietro Adonnino – sich mit dem „Europa der Bürger“ befassen und Maßnahmen zur Stärkung einer europäischen Identität vorschlagen sollte, während der andere – unter dem Vorsitz des irischen Senators James Dooge – Vorschläge für eine Verbesserung der Gemeinschaftsstrukturen und der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) erarbeiten sollte. Damit war der Weg vorgezeichnet, der dann über die Einheitliche Europäische Akte 1987 direkt zur Wirtschafts- und Währungsunion sowie zum Maastrichter Vertrag über die Europäische Union im Jahre 1993 führen sollte.
Deutschlandspiegel 407/1988.
© BArch Bestand Film F 011738
Auch wenn der eben angedeutete pas de deux Kohl/Mitterand zweifellos eine entscheidende Voraussetzung für die Realisierung des Unionsprojektes gewesen ist, heißt das nicht, dass es zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich eine völlige Interessenkongruenz gegeben hätte. Sie waren freilich aufeinander angewiesen, um auf dem Gebiet der europäischen Integration Fortschritte zu erzielen: Wenn der eine nicht mitzog, hing der andere in der Luft. Auffassungsunterschiede gab es hinsichtlich der Reformen der Institutionen. Paris setzte deutlich erkennbar auf die intergouvernementale Zusammenarbeit zwischen den Regierungen und wehrte sich gegen eine zu starke Aufwertung des Parlaments, was von Bonn favorisiert wurde. Bonn kam dem linksrheinischen Nachbarn auf dem Gebiet der Währungspolitik entgegen. Dazu war allerdings ein Paradigmenwechsel in der deutschen Währungspolitik notwendig. Diese war bis 1987 von den „Ökonomisten“ aus dem Finanzministerium und der Bundesbank geprägt worden. 1988 jedoch forderte Außenminister Genscher – in Absprache mit der französischen Regierung – eine baldige Vollendung der Währungsunion. Das jedoch setzte ein Umschwenken der deutschen Währungspolitik von Ökonomismus zum Monetarismus voraus. Genscher konnte sich dabei der Unterstützung des Bundeskanzlers sicher sein, insbesondere nachdem dieser im Herbst 1989 einen innerparteilichen Sturzversuch überstanden hatte und daraus gestärkt hervorgegangen war. Damit verfügte Helmut Kohl in den eigenen Reihen wieder über genügend Autorität, um Bundesbank und Finanzministerium konstruktiv in diesen währungspolitischen Kurswechsel einzubinden. Im Gegenzug forderte die Bundesbank die Festlegung von Stabilitätskriterien, was vom Finanzministerium aufgegriffen und später im Stabilitätspakt festgeschrieben wurde. Widerstände seitens einiger Länderregierungen konnte Kohl durch sein hinzugewonnenes Gewicht als Bundeskanzler, aber auch über das interne Zugeständnis der langfristigen Ausweitung der Mitwirkung des Bundesrates an der Europapolitik der Bundesregierung überwinden.
Diese Zugeständnisse wurden dann, nach der deutschen Wiedervereinigung im Jahre 1990, im neuformulierten Artikel 23 des Grundgesetzes festgeschrieben. Unter dem Eindruck der dramatischen Umwälzungen gerade in der ehemaligen DDR wurden in vielen EG-Mitgliedstaaten alte Ängste vor einem möglicherweise übermächtigen vereinten Deutschland wach – und das, obwohl gerade die Außen- und Europapolitik der Bundesrepublik seit den 1950er Jahren an Konstanz und Zuverlässigkeit nichts zu wünschen übriggelassen hatte. In Großbritannien lud eine ob der Entwicklungen in Deutschland gänzlich verunsicherte Premierministerin Thatcher einen kleinen Kreis von Deutschland-Experten zu einem Gespräch auf ihren Landsitz nach Chequers, um sich über Deutschland und die Deutschen zu informieren – als ob sie darin ein völlig neues Thema entdeckt und nicht elf Jahre Zeit gehabt hätte, sich mit diesem Fall zu befassen. Und was Frankreich, die andere der beiden Siegermächte des Zweiten Weltkrieges unter dem Dach der EG, betraf, so sprachen manche Beobachter sogar von einer veritablen nationalen Krise, die sich angesichts der Maueröffnung und der daran anschließenden Ereignisse auf allen Ebenen des politischen Lebens gezeigt habe. In keinem anderen westlichen Land wurden ähnlich viele Ängste und Bedenken zur deutschen Vereinigung veröffentlicht wie hier. Und auch wenn die französischen Nachkriegsregierungen das Wiedervereinigungsziel der Bundesrepublik zumindest verbal immer unterstützt hatten, suchte Präsident Mitterand nach der Maueröffnung zunächst wochenlang nach einem Königsweg zwischen solchen Verpflichtungserklärungen und dem sich daraus möglicherweise ergebenden Macht- und Statusverlust, den er im Falle einer deutschen Wiedervereinigung für Frankreich befürchtete. Letztlich bedurfte es eines Machtwortes der großen Siegermacht des Krieges, der USA, um die europäischen Bündnispartner wieder auf Linie zu bringen. Unter Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung für das deutsche Volk und damit auch des Rechts auf Wiedervereinigung formulierte sie drei weitere Prinzipien als Voraussetzung dafür: Erstens sollte die Vereinigung innerhalb der Grenzen der DDR und der Bundesrepublik erfolgen, zweitens galt es, die Vereinigung friedlich und allmählich zu vollziehen, und drittens hatte der Verbleib des wiedervereinigten Deutschlands in der NATO und der EG gesichert zu sein. Damit waren die Voraussetzungen für die 2+4-Gespräche geschaffen, an deren Ende der 3. Oktober 1990 und damit die tatsächliche Wiedervereinigung Deutschlands stand.
In diesen Verhandlungen zeigte sich das eigentliche politische Können Helmut Kohls, hier avancierte er, auch in den Augen seiner Landsleute, von einem geschickten Parteimanager mit eher begrenzten Qualitäten als Regierungschef zu einem Staatsmann von internationalem Format. Dabei stellte der Forderungskatalog der Bush-Regierung für ihn kein Hindernis dar, weil er sich völlig mit den deutschland- und europapolitischen Zielsetzungen des Kanzlers deckte. Er war stets für die Wiedervereinigung Deutschlands in Recht und Freiheit und im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft sowie im Verbund mit der NATO eingetreten. Nun hatte ihm das Schicksal die Rolle zugespielt, diese Aufgabe zu erfüllen. Dass das souverän umgesetzt werden konnte, hängt freilich auch mit einem Mangel an Alternativen zusammen, schließlich hätte die Verweigerung der Zustimmung der Verbündeten zur deutschen Vereinigung EG und NATO in eine tiefe, möglicherweise sogar fatale Krise gestürzt. Im Umkehrschluss konnte die souveräne und vor allem berechenbare Art, mit der der deutsche Bundeskanzler den Vereinigungsprozess steuerte, in relativ kurzer Zeit die Bedenken und Ängste ausräumen, die es auf Seiten der deutschen Nachbarn gegeben hatte. Fest steht auch, dass der Vereinigungsprozess in Deutschland dem europäischen Integrationsprozess neuen Schub verlieh, galt es nun doch auch, die Gemeinschaftsstrukturen so zu festigen, dass sie nicht nur das größere Deutschland verkrafteten, sondern auch dazu taugten, all jenen Staaten ein Dach zu bieten, die zuvor im Einflussbereich der Sowjetunion gelegen hatten. Denn dass sich die EU nach ihrer Vollendung auch nach Osten öffnen musste, dass die Ostgrenze des europäischen Gemeinschaftsraums nicht durch den ehemaligen Eisernen Vorhang markiert werden durfte, hatte Helmut Kohl bereits in den 1970er Jahren gefordert. Nun sollte er die Gelegenheit erhalten, sein erstarktes politisches Gewicht dafür in die Waagschale der europäischen Gemeinschaftspolitik einzubringen.
Deutschlandspiegel 429/1990.
© BArch Bestand Film F 011757
Die Volkskammerwahl vom 18. März 1990 und das damit verbundene klare Bekenntnis der DDR-Bürger zur Wiedervereinigung verlieh auch der europäischen Integration einen neuen Schub: In einem gemeinsamen Brief an den irischen Ratspräsidenten Charles Haughey baten Helmut Kohl und François Mitterand darum, dass sich der Europäische Rat auf einer außerplanmäßigen Tagung mit der Frage der Politischen Union befassen möge. Die Staats- und Regierungschefs der EG beschlossen daraufhin am 28. April 1990 in Dublin, die EG-Außenminister mit der Vorbereitung einer Regierungskonferenz zur Politischen Union zu beauftragen. Diese sollte sich unter anderem mit einer Verstärkung der – schon seit längerem angemahnten – demokratischen Legitimation der europäischen Institutionen befassen, ferner sollte sie Wege zu einer effektiveren Arbeit der Organe aufzeigen, beispielsweise durch eine Erweiterung des Mehrheitsabstimmungsverfahren. Eine größere Kohärenz des internationalen Handelns wurde als ein weiteres Desiderat genannt, wobei insbesondere eine Prüfung von Möglichkeiten für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) im Mittelpunkt stand. Der Rat beschloss zudem, nach dem Vollzug der deutschen Wiedervereinigung die ehemalige DDR vorbehaltlos als Teil Deutschlands und damit der EG anzuerkennen.
Die Ergebnisse der Vorbereitungsarbeit durch die Außenminister wurde zwei Monate später, im Juni 1990, auf der regulären Ratstagung in der irischen Hauptstadt diskutiert. Das Ergebnis von „Dublin II“ war eindeutig: Eine Regierungskonferenz mit dem Ziel einer „Umwandlung der Gemeinschaft von einer hauptsächlich auf die wirtschaftliche Integration und der politischen Zusammenarbeit beruhenden Einrichtung in eine Union mit politischem Charakter, die auch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ umfassen sollte, wurde beschlossen. Diese Konferenz sollte Mitte Dezember 1990 zusammentreten und – gemeinsam mit der Regierungskonferenz für die Wirtschafts- und Währungsunion – ihre Arbeit so rechtzeitig abschließen, dass der entsprechende Vertrag vor Ende 1992 – dem Datum der Vollendung des Binnenmarktes – in Kraft treten konnte.
Aus den einzelnen Mitgliedstaaten wurde in den folgenden Wochen und Monaten eine Vielzahl von Vorschlägen für die Themenbereiche unterbreitet, mit denen sich die Regierungskonferenz befassen sollte: Schaffung einer Unionsbürgerschaft, Verankerung des Subsidiaritätsprinzips, Verstärkung der wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion und Sicherstellung eines einheitlichen institutionellen Rahmens für die verschiedenen Tätigkeitsbereiche der Union. Wieder machten François Mitterand und Helmut Kohl den entscheidenden Vorstoß. Am 6. Dezember 1990 schlugen sie dem amtierenden Ratspräsidenten Giulio Andreotti einen Fünf-Punkte-Katalog vor, der die verschiedenen Themenfelder enthielt, mit denen sich die Regierungskonferenz befassen sollte. So empfahlen sie, die Erweiterung der gemeinschaftlichen Befugnisse in verschiedenen Politikbereichen wie z. B. Umweltschutz, Gesundheit, Verbraucherschutz zu diskutieren. Auch sollte über die Schaffung gemeinschaftlicher Kompetenzen hinsichtlich Asyl- und Einwanderungspolitik sowie der Bekämpfung des organisierten Verbrechens nachgedacht werden. Ein drittes Themenfeld umfasste die Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments sowie die Frage der Beteiligung der nationalen Parlamente und der Regionen. Die Stärkung des Europäischen Rates insbesondere auf dem Gebiet der Außenpolitik wurde an vierter Stelle genannt und an fünfter Stelle ging es um den Aufbau einer gemeinsamen Sicherheitspolitik in Zusammenarbeit mit der Westeuropäischen Union (WEU). Der Europäische Rat befasste sich am 14. und 15. Dezember 1990 mit der deutsch-französischen Vorschlagsliste und übernahm die meisten Empfehlungen, lediglich hinsichtlich der Rolle des Europäischen Rates, der Ausweitung des Mehrheitsverfahrens im Ministerrat, der Sicherheitspolitik und des Verhältnisses zur WEU gab es Vorbehalte, die allerdings auf der Regierungskonferenz diskutiert werden sollten. Damit stand ihrer Arbeit nichts mehr im Wege, sie hatten ihre Ergebnisse binnen Jahresfrist vorzulegen, damit auf der für Dezember 1991 geplanten Ratskonferenz in Maastricht bereits über die Ergebnisse ihrer Arbeit beraten und entsprechende Verträge geschlossen werden konnten. Nur so ließ sich ein ordnungsgemäßer Abschluss des Ratifikationsverfahrens bis zum Jahresende 1992 sicherstellen.
Wie zu erwarten war, verlief insbesondere die Arbeit der Regierungskonferenz zur Politischen Union schwierig. Während sich die „Schwesterkonferenz“ zur WWU primär mit technisch-institutionellen Fragen zu befassen hatte, erwiesen sich in Bezug auf die Politische Union insbesondere die Frage nach der Ausgestaltung der GASP, ihr Verhältnis zur Gemeinschaft, parlamentarische Entscheidungsverfahren und die Ausdehnung des Beschlussfassungsverfahrens mit qualifizierter Mehrheit als problematisch. Ein erster Vertragsentwurf wurde im April 1991 von der luxemburgischen Präsidentschaft vorgelegt. Er sah ein Drei-Säulen-Modell vor, in dem die GASP rein intergouvernemental auf der Basis der bisherigen EPZ weiterentwickelt wurde. Vorgesehen wurde jetzt schon eine weitere Vertragsrevision, die eine stärkere Annäherung an eine gemeinsame Verteidigungspolitik bringen sollte. Der Bereich der inneren Sicherheit war in diesem Entwurf ebenfalls intergouvernemental geregelt. Dieser stark intergouvernemental geprägte Entwurf stieß auf Widerstand in den Kreisen der Außenminister, die die niederländische Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 1991 damit beauftragten, über eine einheitlichere Vertragsstruktur nachzudenken. Das – stark vereinheitlichte, aber auch deutlich föderaler und zentralistischer ausgefallene – Ergebnis wurde im September präsentiert und stieß ebenfalls auf Ablehnung. Anstelle eines zu stark föderalen Charakters mit ausgeprägt supranationalen Elementen entschlossen sich die Außenminister, auf das zuvor eingereichte Drei-Säulen-Modell zurückzugreifen und zur Grundlage für die weiteren Verhandlungen zu machen. Das daraus erwachsene Vertragswerk wurde am 10. Dezember 1991 von den in Maastricht versammelten Staats- und Regierungschefs paraphiert. Da jedoch noch juristische Detailfragen zu klären waren und Übersetzungen in die Amtssprachen der EG vorgenommen werden mussten, konnte die endgültige Unterzeichnung des Textes erst am 7. Februar 1992, ebenfalls in Maastricht, erfolgen.
Der Vertrag über die Europäische Union (EUV), wie der Maastrichter Vertrag offiziell heißt, stellte gewissermaßen den Höhepunkt der Europapolitik Helmut Kohls dar. Mit der Europäischen Union waren die beteiligten europäischen Staaten auf ein vergleichsweise tragfähiges politisches Fundament gestellt worden, das den Vorstellungen des Bundeskanzlers von einer europäischen politischen Zusammenarbeit in vielerlei Hinsicht entsprach. In den restlichen Jahren seiner Kanzlerschaft ging es europapolitisch im Wesentlichen darum, zu überprüfen, ob das Maastrichter Konstrukt auch in der politischen Praxis, im europapolitischen Alltag funktionierte. In den Verträgen von Amsterdam (1997) und Nizza (2001) wurde das Maastrichter Regelwerk dort angepasst, wo es notwendig war. Diese Anpassungen fanden indes in einer Zeit statt, als die Europäische Union mit der Frage konfrontiert wurde, wann und unter welchen Umständen die beitrittswilligen Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas aufgenommen werden konnten. Für Helmut Kohl stand außer Frage, dass diese Staaten möglichst rasch der Beitritt zur EU ermöglicht werden sollte, auch wenn er diesen Prozess als Bundeskanzler selbst nicht mehr mitgestalten konnte. Am 11. Dezember 1998 wurde Helmut Kohl nach Jean Monnet zum zweiten Ehrenbürger Europas ernannt. Der Europäische Rat würdigte damit Kohls „herausragenden Beitrag zur Entwicklung der Europäischen Union“. Als erstem Politiker wurde Helmut Kohl 2017 außerdem ein Trauerakt im Europäischen Parlament zuteil.
Die deutsch-französischen Beziehungen gestalteten sich während der Ära Kohl nicht immer einfach. Vor allem während der deutschen Wiedervereinigung liefen Bonn und Paris nicht im gleichen Takt. Das Vertrauensverhältnis, das Kohl zu den französischen Staatspräsidenten François Mitterrand und Jacques Chirac aufbaute, war hingegen Grundlage dafür, dass das deutsch-französische Tandem den europäischen Integrationsprozess wiederbeleben und vorantreiben konnte.
Helmut Kohl war sich der Bedeutung der Vereinigten Staaten für die Sicherheit der Bundesrepublik stets bewusst. Umso mehr war er bemüht, ein belastbares Vertrauensverhältnis zu den Präsidenten Ronald Reagan, George H. W. Bush und Bill Clinton aufzubauen, was ihm auch gelang. Damit schuf Kohl die Grundlage für die Unterstützung der Amerikaner im deutschen Wiedervereinigungsprozess.
Am 9. November 1989 fiel die Mauer, die Deutschland 28 Jahre lang geteilt hatte. Es war ein Sieg der Menschen, die sich gegen das Unrechtsregime der SED aufgelehnt hatten. In den darauffolgenden Wochen handelte Helmut Kohl zielstrebig, um die Einheit in Freiheit zu vollenden.
Die Wirtschaftspolitik der Ära Kohl zerfällt in zwei Phasen: Die Zeit zwischen 1982 und 1989/90 war nach der erfolgreichen Haushaltskonsolidierung durch moderate Reformen gekennzeichnet. Nach der Wiedervereinigung begegnete die Bundesregierung den teilweise gravierenden wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Problemen mit weitreichenden Maßnahmen.