Matthias Oppermann
Helmut Kohl war sich der Bedeutung der Vereinigten Staaten für die Sicherheit der Bundesrepublik stets bewusst. Umso mehr war er bemüht, ein belastbares Vertrauensverhältnis zu den Präsidenten Ronald Reagan, George H. W. Bush und Bill Clinton aufzubauen, was ihm auch gelang. Damit schuf Kohl die Grundlage für die Unterstützung der Amerikaner im deutschen Wiedervereinigungsprozess.
Am Übergang von den 1970er zu den 1980er Jahren schien sich in der westlichen Welt eine liberale Revolution anzubahnen. Die Initialzündung dazu war in den Augen zeitgenössischer Beobachter die Wahl Ronald Reagans zum amerikanischen Präsidenten im November 1980, der freilich der Sieg Margaret Thatchers bei den britischen Unterhauswahlen im Mai 1979 vorausgegangen war. Die Politik, die beide im Wahlkampf angekündigt hatten und die sie nach ihrem jeweiligen Machtantritt umzusetzen versuchten, wurde als eine „konservative Revolution“ bezeichnet, war im Kern aber eine Rückkehr zu liberalen Tugenden und Grundsätzen.
In wirtschafts- und finanzpolitischer Hinsicht ging es dabei, kurz und etwas vereinfachend gesagt, um eine Abkehr vom keynesianischen Konsens, der die meisten westlichen Staaten seit der unmittelbaren Nachkriegszeit geprägt hatte. Der Wohlfahrtsstaat und die Rolle der Regierung in der Wirtschaft wurden in Frage gestellt, und es kam zu einer Politik der Privatisierung und Deregulierung, deren Effekte im Laufe der Zeit die gesamte westliche Welt erfassten.
Deutschlandspiegel 464/1993
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In der Außenpolitik brachte diese liberalkonservative „Revolution“ eine neue Haltung gegenüber der Sowjetunion mit sich. Reagan und mit ihm Thatcher standen für den Bruch mit der Entspannungspolitik der 1970er Jahre, die ihren Höhepunkt in den SALT-Verträgen hatte. Anders als die republikanischen Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford und weitaus offensiver als der Demokrat Jimmy Carter, den er im Amt abgelöst hatte, ließ sich Reagan in der Außenpolitik von Ideen leiten, hob die Überlegenheit des Liberalismus gegenüber dem kommunistischen Totalitarismus hervor und erklärte die Sowjetunion zum „Reich des Bösen“. Aus Sicht mancher Historiker begann mit Reagans Amtstritt deshalb ein „zweiter Kalter Krieg“, der im Wesentlichen auf seinen Kurswechsel zurückzuführen war.
Diese Einschätzung geht jedoch von der falschen Prämisse aus, der Kalte Krieg sei in der Zeit der Détente, der Entspannung zwischen den Blöcken, ausgesetzt gewesen. Und diese Prämisse wiederum beruht auf einer unzutreffenden Beurteilung des Charakters der Sowjetunion, weil sie den ideologischen Antrieb des marxistisch-leninistischen Imperialismus ausblendet oder doch wenigstens unterschätzt. Viele Anhänger der Entspannungspolitik übersahen, was der französische Philosoph und Journalist Raymond Aron schon 1958 in einem Leitartikel für Le Figaro festgestellt hatte, dass nämlich Phasen der „friedlichen Koexistenz“ oder der Entspannung für die Sowjets nur Modalitäten des Kalten Kriegs seien. Die Sowjetunion verschleiere nur ihr Ziel der Weltrevolution, wenn sie Entspannung predige, weil es ihr gerade nützlich sei. Daran hat Aron immer festgehalten. Auch in den 1970er Jahren, als die Entspannungspolitik auf ihrem Höhepunkt war, sah er nicht, inwiefern sich die Weltlage geändert haben sollte.
Man darf nicht vergessen, dass die Détente schon nach Verabschiedung der KSZE-Schlussakte von Helsinki im Juli 1975 wieder an Dynamik verlor. Die Jahre nach Helsinki offenbarten für Aron keine echte Phase der Entspannung, sondern die durch Vietnam und Watergate verursachte Krise der Vereinigten Staaten und damit des ganzen Westens. Sowohl die Außenpolitik Henry Kissingers als auch diejenige des deutsch-französischen Paares Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing flößten ihm kein Vertrauen ein. Die sowjetische Intervention in Afghanistan im Jahr 1979 bestätigte in Arons Augen vollends, dass die Entspannungspolitik wenig Wirkung entfaltet hatte und Moskau so expansionistisch war wie eh und je.
In dieser Perspektive war Reagans Neuausrichtung der amerikanischen Politik gegenüber der Sowjetunion nur der Versuch, im Konflikt der Systeme aus einer rein reaktiven Rolle herauszukommen und die Initiative zu ergreifen. Es ging ihm darum, „Frieden durch Stärke“ zu erreichen – eine Idee, die in der amerikanischen Außenpolitik seit George Washington präsent war. Nachdem Reagan 1980 die amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte, hielt sich Aron im Nachrichtenmagazin L’Express mit Urteilen über den neuen Mann im Weißen Haus zurück. Er kritisierte aber den linken Flügel der Demokratischen Partei dafür, dass sie das Erbe John F. Kennedys verraten hätten, vor der Expansion der Sowjetunion die Augen verschlössen und die negativen Folgen des Keynesianismus und eines ungehemmten Ausbaus des Wohlfahrstaats nicht verstünden. Reagan und seine Mannschaft hätten einen unschlagbaren Vorteil gegenüber den Demokraten: ihre Diagnose der inneren und äußeren Lage sei zutreffend.
Einer, der diese Einschätzung teilte, war Helmut Kohl. Als der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion und Bundesvorsitzende der CDU am 1. Oktober 1982 infolge des konstruktiven Misstrauensvotums gegen Helmut Schmidt zum Bundeskanzler gewählt wurde, sah es in der Tat so aus, als habe die liberalkonservative „Revolution“ auch die Bundesrepublik erreicht. Nicht nur, weil mit Kohl der Vertreter einer Mitte-Rechts-Partei Kanzler wurde, sondern auch weil CDU und CSU seit Mitte der 1970er Jahre den Eindruck vermittelt hatten, als strebten sie eine solche Umwälzung an. Dabei war jedoch nicht von einer „Revolution“ die Rede, sondern von einer „Wende“. Seit 1974 verbreitete sich unter Intellektuellen, die den Unionsparteien nahestanden, und auch innerhalb der Union selbst der Begriff der „Tendenzwende“, mit dem im Allgemeinen die Renaissance konservativer „Werte“ gemeint war, ohne dass dabei immer klar gewesen wäre, was darunter verstanden wurde. Dabei fühlten sich manche Unionspolitiker seit 1979 auf unbestimmte Weise vom Beispiel Thatchers und dann auch Reagans ermutigt, nach einer „Wende“ zu rufen.
In dieser Zeit intensivierte die CDU auch ihre Kontakte zu den britischen Konservativen und den amerikanischen Republikanern. Schon im Oktober 1981 lernte Kohl Reagan kennen, als er auf einer Washington-Reise ins Weiße Haus eingeladen wurde – ein seltener Gunstbeweis gegenüber dem Oppositionsführer eines verbündeten Staates. Bei diesem ersten Treffen legten die beiden Politiker die Grundlagen für eine politische Verbundenheit, die auch später auftretende Irritationen in den deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht trüben konnten. Den wirtschaftspolitischen Ideen der Conservative Party und der Republikaner näherten sich die Unionsparteien freilich nicht an. Da die Bundesrepublik auf dem Weg zum Wohlfahrtsstaat und bei der Umsetzung keynesianischer Ideen nie so weit gegangen war wie Großbritannien, gab es keinen Grund, das Pendel allzu stark in die andere Seite ausschlagen zu lassen.
Gleichwohl bemühte auch Kohl den „Wende“-Begriff im Wahlkampf, als Franz Josef Strauß 1980 um das Kanzleramt kämpfte. Allerdings forderte er nicht, wie oft behauptet wird, eine „geistig-moralische Wende“, sondern nur eine „geistige Wende“. Die Wortverbindung „geistig-moralisch“ tauchte in diesen Jahren trotzdem oft im Umfeld der Unionsparteien auf und wurde später vor allem von selbsterklärten Konservativen in Anspruch genommen. Mit dem Begriff „geistige Wende“ forderte Kohl 1980 eine „Abkehr vom zukunftslosen sozialistischen Weg“ und eine „Renaissance alter sinngebender Tugenden“ ohne freilich zu erklären, was er damit meinte. Zumindest konnte man daraus schließen, Kohl weise der Bundesrepublik den Weg, den Großbritannien eingeschlagen hatte. Als er dann 1982 zum Kanzler gewählt worden war, glaubten viele, die Bundesrepublik werde sich nun der liberalkonservativen „Revolution“ anschließen. Tatsächlich aber hatte Kohls „geistige Wende“, wenn man einmal von einigen rhetorischen Anleihen absieht, weder mit dem Thatcherismus noch mit der Reagan-Revolution viel zu tun. In der Innenpolitik stellte sich auf der linken Seite bald Erleichterung und bei den dezidierten Konservativen innerhalb und außerhalb der CDU Enttäuschung ein.
In der Außenpolitik hingegen kam es trotz großer Kontinuitäten zumindest zu einer gewissen Akzentverschiebung, zu einem neuen Stil, den man als eine Übernahme des angelsächsischen Wegs verstehen konnte. Betrachtet man Felder wie die Ost- und Deutschlandpolitik oder den KSZE-Prozess, ließ sich nach dem Regierungswechsel von 1982 keine substantielle Veränderung erkennen. Aber mehr als Helmut Schmidt hob Kohl den ideologischen Gegensatz der beiden Blöcke rhetorisch hervor und zeigte damit demonstrativ seine Nähe zur Reagan-Administration. Schmidt war zweifellos nicht weniger atlantisch gesinnt als Kohl, aber anders als sein Nachfolger hielt er sich mit Kritik an der amerikanischen Politik nicht zurück. Als überzeugter Entspannungspolitiker der 1970er Jahre war Schmidt im Grunde nicht bereit, den Wandel der amerikanischen Politik mitzumachen.
Kohl dagegen hielt sich mit Kritik zurück und bemühte sich sofort nach seiner Wahl demonstrativ darum, der amerikanischen Regierung seine Solidarität zu versichern. Dass er schon als Oppositionsführer ein positives Verhältnis zu Reagan aufgebaut hatte, kam ihm jetzt zugute. Denn es ging im Jahr 1983 nicht um Lippenbekenntnisse, sondern um die konkrete Umsetzung des Nato-Doppelbeschlusses.
Seit dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan glaubte Kohl mehr und mehr, in einer Zeit zu leben, in der die Außenpolitik den Primat beanspruchte. Seit 1981 fürchtete er die Entwicklung einer aus dem Osten gesteuerten Friedensbewegung, die die politische und ideelle Standfestigkeit der Bundesrepublik unterminieren könnte. Schon damals war er der Ansicht, dass die CDU die Aufgabe habe, den Nato-Doppelbeschluss gegen solche Tendenzen zu verteidigen. Diese Überlegungen flossen auch in seine Entscheidung ein, im Dezember 1982 durch eine fingierte Vertrauensfrage die Auflösung des Bundestages und Neuwahlen herbeizuführen. Es ging ihm zum einen darum, seine Regierungskoalition durch Wahlen legitimieren zu lassen. Zum anderen wollte er sich von den Wählern aber auch ein Mandat für die Stationierung der Raketen erteilen lassen. Nach dem Wahlsieg vom 6. März 1983 gelang es ihm dann, die Stationierung gegen manche Widerstände in der eigenen Partei, vor allem aber gegen die öffentliche Meinung durchzusetzen. Das war zweifellos ein großer Erfolg, der den Kanzler nicht nur innenpolitisch, sondern ganz besonders außenpolitisch stärkte.
Unmittelbar nach seinem Regierungsantritt hatte er den Verantwortlichen in Washington, London und Paris ein ums andere Mal versichert, dass er fest entschlossen sei, den Nato-Doppelbeschluss in der Bundesrepublik umzusetzen. Keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass nicht nur die jetzt oppositionelle SPD in dieser Frage unzuverlässig war, sondern der Kanzler auch in den eigenen Reihen mit Zweiflern zu kämpfen hatte. Unter dem Druck der Friedensbewegung stimmten Kohl und sein Außenminister Hans-Dietrich Genscher vom Koalitionspartner FDP im Frühjahr 1983 sogar einer verfassungsrechtlich nicht gebotenen Einbeziehung des Bundestags zu. Das ging nicht spurlos am deutsch-amerikanischen Verhältnis vorbei, und Kohl hatte alle Hände voll damit zu tun, die Reagan-Administration davon zu überzeugen, dass der Zeitplan der Stationierung durch den Bundestagsbeschluss nicht beeinträchtigt werde. Bundesverteidigungsminister Manfred Wörner fiel die Aufgabe zu, mit der amerikanischen Regierung zu klären, wie der Zeitplan eingehalten werden konnte, obwohl der Bundestag davon ausging, dass bis zu seiner Entscheidung alle materiellen und organisatorischen Vorbereitungen ausgesetzt seien. Schon vor dem Bundestagsbeschluss wurden deshalb im Sommer die Raketenteile geliefert. Kohls Hoffnung, dass das schon gut gehen werde, erfüllte sich schließlich, als der Bundestag am 22. November mit den Stimmen der Regierungskoalition mehrheitlich der Stationierung der Pershing II zustimmte.
Am Ende hatte Kohl dem Druck der Friedensbewegung getrotzt, seine Koalition zusammengehalten und die Erwartungen der amerikanischen Regierung erfüllt. Krisensymptome, wie sie die deutsch-amerikanischen Beziehungen in der Regierungszeit Helmut Schmidts geprägt hatten, gehörten damit vorerst der Vergangenheit an. Dabei war Kohl durchaus kein geborener Atlantiker.
Tatsächlich hatte er keinen persönlichen Bezug zu den Vereinigten Staaten, die er nur von offiziellen Staatsbesuchen kannte. Land und Leute mochten ihm sympathisch sein, aber anders als CDU-Politiker vorhergehender Generationen wie Gerhard Schröder, Kai-Uwe von Hassel oder Erik Blumenfeld fühlte er sich nicht zur angelsächsischen Welt hingezogen und hat sie wohl auch nicht verstanden. Im karolingischen Westen der Republik sozialisiert, hatte Kohl, wie sein Biograph Hans-Peter Schwarz schreibt, eine „Fixierung auf Frankreich“. Gleichwohl zweifelte Kohl nicht an der Bedeutung der Vereinigten Staaten für die Sicherheit der westeuropäischen Staaten. Instinktiv und auf einer mehr realpolitischen als ideellen Grundlage bemühte er sich daher von Beginn seiner Amtszeit an darum, den amerikanischen Hegemon positiv zu stimmen und Spannungen zu vermeiden. Dazu stellte Kohl nicht nur immer wieder ostentativ seine atlantische Solidarität heraus, sondern wandte auch eine andere Methode an: Er bemühte sich redlich, zu jedem amerikanischen Präsidenten, mit dem er es zu tun hatte, eine persönliche Beziehung aufzubauen. Und im Gegensatz zu seinem Misserfolg, Margaret Thatcher zu umgarnen, ist ihm das bei den amerikanischen Präsidenten Reagan, George H. W. Bush und Bill Clinton recht gut gelungen. Sein Verhältnis zu Reagan trug sogar freundschaftliche Züge. Seit Kohl die Stationierung der Pershing II durchgesetzt hatte, fiel es Reagan schwer, Nein zu sagen, wenn Kohl ihn um etwas bat. Im Mai 1985 zeigte sich, dass diese persönliche Nähe auch unglückliche Auswirkungen haben konnte.
Nachdem es am 22. September 1984 zu dem heute berühmten Händedruck zwischen Kohl und Mitterrand in Verdun gekommen war, schlug Kohl Reagan vor, die Gelegenheit des für 1985 bevorstehenden G7-Gipfels in Bonn für eine ähnliche Inszenierung zu nutzen. Reagan stimmte zu, mit Kohl die KZ-Gedenkstätte Dachau und einen Soldatenfriedhof in Bitburg zu besuchen, um schließlich vor 10.000 jungen Leuten auf dem Hambacher Schloss zu sprechen. Das Programm zeigt, wie Kohl versuchte, das Gedenken an die Verbrechen der nationalsozialistischen Tyrannei mit der Erinnerung an die positiven Seiten der deutschen Geschichte und der Versöhnung ehemaliger Feinde zu verbinden.
Das überzeugte nicht jeden. So ließ Nancy Reagan den Dachau-Besuch aus dem Programm streichen, hatte aber zunächst ebenso wie Reagans Umfeld nichts gegen den Besuch des Soldatenfriedhofs. Als jedoch die Pläne bekannt wurden und Journalisten herausfanden, dass auf dem Friedhof nicht nur Wehrmachtssoldaten, sondern auch 49 Angehörige der Waffen-SS lagen, brach in den Vereinigten Staaten ein Sturm der Entrüstung los. Seine Frau und fast der gesamte Stab des Weißen Hauses bemühten sich nun, dem Präsidenten die Sache auszureden. Reagan gab jedoch nicht nach. Er wollte sich nicht unter Druck setzen lassen und schaltete auf stur. Außerdem sagte ihm Kohl in einem von Reagans Mitarbeitern später als emotional beschriebenen Telefongespräch, eine Absage des Bitburg-Besuchs werde zum Sturz der Bundesregierung führen. Während sich der amerikanische Außenminister George P. Shultz über die Schwäche irritiert zeigte, die Kohl aus seiner Sicht an den Tag legte, wollte Reagan den Kanzler nicht im Stich lassen. Ein Besuch in der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen wurde in das Programm eingefügt, um den Besuch auf dem Soldatenfriedhof abzumildern, der dann tatsächlich stattfand.
Welche Folgen hatte der Besuch? Reagans Umfeld hatte die schlimmsten Konsequenzen für den Präsidenten erwartet. Besonders drastisch hatte Shultz zusammengefasst, was aus seiner Sicht die Außenwirkung des Besuchs sein würde: „Hitler is laughing in hell right now.“ Doch es kam anders. Zumindest für Reagan. In der Zeit nach seinem Besuch in der Bundesrepublik stiegen seine Beliebtheitswerte von 49 auf 59 Prozent. Kohl dagegen hatte sich mit dieser Episode tatsächlich gefährdet: Die Zustimmung zu seiner Person sank drastisch, und eine Woche nach dem Staatsbesuch verlor die CDU die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen mit fliegenden Fahnen.
Bitburg war, soweit es Kohl betrifft, das Ergebnis der Verbindung eines aufrichtig empfundenen Bedürfnisses nach zur Schau gestellter historischer Versöhnung und der Neigung, Außenpolitik auf persönliche Beziehungen zwischen Staatsmännern zu reduzieren. Das Beste, was sich darüber sagen lässt, ist, dass die Affäre die offiziellen deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht belastete. Reagan blieb Kohl gewogen. Doch sagen gefestigte Beziehungen wenig über den Erfolg einer Politik aus. Freundschaft zwischen Staatsmännern? Vielleicht dort, wo sie nicht viel kostet. Kohls Vorstellung von Freundschaft in der Politik hatte, zumal wenn es um die Außenpolitik ging, mitunter etwas Naives an sich. Am Ende sind es Interessen und die Machtverhältnisse, die über die Beziehungen zwischen Staaten entscheiden. Das galt auch für das deutsch-amerikanische Verhältnis in den 1980er Jahren. Und dennoch: Kohls ständiges Bemühen um gute Beziehungen zu den amerikanischen Präsidenten hat für ihn vieles leichter gemacht und damit zum Wohle Deutschlands beigetragen.
Die handfesten Probleme, die die deutsch-amerikanischen Beziehungen in den 1980er Jahren bestimmten und zum Teil auch belasteten, waren vor allem Fragen der Nuklearstrategie und der Abrüstung. Kohl gelang es zwar 1983, die Nachrüstung durchzusetzen. Eine Zeitlang profitierte er davon nicht nur außenpolitisch. Auch die Friedensbewegung hielt sich vorerst im Zaum. Aber von Dauer war das nicht. Breite Kreise in der Bundesrepublik bewahrten sich ihre Abneigung jeder Art nuklearer Verteidigung und gaben ihr durch einen irrationalen Antiamerikanismus besondere Schärfe. Letzterer war manchmal nur eine ins Allgemeinen gesteigerte Antipathie gegen den Präsidenten Reagan. In der Praxis machte das freilich keinen Unterschied. Kohl, dem natürlich selbst ständig die prekäre Lage der Bundesrepublik in der Blockkonfrontation vor Augen stand, machte sich große Sorgen um die Neigung der Westdeutschen zum Pazifismus oder gar zum Neutralismus. In dieser Situation hätte er es am liebsten gehabt, wenn mit der Stationierung der Pershing II erst einmal Ruhe, also so etwas wie ein neuer nuklearer Status quo, eingetreten wäre. Aber diesen Gefallen tat ihm Reagan nicht. Am 8. März 1983, nur zwei Tage nach der Bundestagswahl, also auf dem Höhepunkt der westdeutschen Kontroverse um die Nachrüstung, bezeichnete der Präsident die Sowjetunion erstmals als „evil empire“. Kohl konnte also kaum auf eine schnelle Beruhigung der Lage hoffe.
Zwei Wochen später, am 23. März, stellte Reagan dann der Öffentlichkeit das Projekt eines Raketenabwehrschirms vor. Diese Strategic Defense Initiative (SDI), die von Kritikern „Star Wars Program“ genannt wurde, zielte darauf, eine gegenseitige nukleare Zerstörung der beiden Weltmächte unmöglich zu machen. Reagan war weder ein neokonservativer Demokratiexporteur noch ein traditionalistischer Konservativer, sondern eher ein Libertärer in der Tradition Thomas Paines, der sich nicht mit der Möglichkeit totaler Vernichtung arrangieren wollte. Lange vor Barack Obama träumte dieser Idealist von einer nuklearwaffenfreien Welt. Kohl, der sich wenig für Nuklearstrategie interessierte und davon ausging, dass Abschreckung Sache der Amerikaner sei, unterstützte Reagan bei diesem Projekt. Allerdings tat er es nicht aus Überzeugung, sondern wieder einmal, um die Schutzmacht nicht zu verärgern. Dafür nahm er Konflikte mit Außenminister Genscher gerne in Kauf.
SDI war nicht nur in der Bundesrepublik umstritten, wo viele fürchteten, die Vereinigten Staaten würden sich mit Hilfe dieses Projekts nuklearstrategisch von Europa abkoppeln, sondern auch in Amerika selbst. Die Befürworter des Projekts in der Reagan-Administration glaubten dagegen, SDI werde das Land bei potentiellen Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion in eine günstigere Lage versetzen. Die Herren des Kreml begriffen zwar schnell, dass SDI kurzfristig keine Gefahr darstellte, fürchteten aber den technologischen Vorsprung der Vereinigten Staaten, der nun offensichtlich wurde. Als dann Michail Gorbatschow im März 1985 Generalsekretär des ZK der KPdSU wurde, war auch Reagan längst bereit, seine Politik der Stärke mit dem Bemühen um Abrüstung zu verbinden.
Schon 1981 hatte Reagan der Sowjetunion mit Blick auf Mittelstreckenraketen eine sogenannte Null-Lösung vorgeschlagen. Demnach hätten die Vereinigten Staaten auf die Stationierung der Pershing II und Cruise Missiles verzichtet, wenn die Sowjetunion ihrerseits die schon in Dienst genommenen SS-20 sowie der älteren SS-4 und SS-5 abgebaut hätte. Der Kreml machte 1982 einen Gegenvorschlag, der vorsah, die britischen und französischen Mittelstreckenraketen in die Lösung einzubeziehen. Das war jedoch weder für London und Paris noch für Washington akzeptabel. Die Sowjetunion brach schließlich die Verhandlungen ab, nachdem die Stationierung der Pershing II im November 1983 begonnen hatte.
Erst als Reagan und Gorbatschow 1985 begannen, wieder ernsthaft über Abrüstung zu sprechen, kam die Null-Lösung wieder ins Spiel. Beim Gipfeltreffen in Reykjavík im Oktober 1986 – der zweiten Zusammenkunft von Reagan und Gorbatschow – schlug der Generalsekretär der KPdSU vor, auf beiden Seiten die Hälfte aller strategischen Waffensysteme abzuschaffen, wenn der Anti-Ballistic Missile Treaty (ABM) von 1972 für weitere zehn Jahre in Kraft bliebe. Reagan und seine Mannschaft reagierten darauf mit dem Vorschlag, innerhalb von zehn Jahren alle ballistischen Raketen abzuschaffen. Da die Vereinigten Staaten im Gegensatz zur Sowjetunion über leistungsfähige Marschflugkörper und Bomber verfügten, wäre das für sie von Vorteil gewesen. Das war den Sowjets natürlich klar, so dass sie schließlich die Abschaffung aller strategischen Waffen binnen zehn Jahren ins Spiel brachten.
Wäre es so gekommen, wären die sowjetischen Mittelstreckenraketen und taktischen Nuklearwaffen, die Westeuropa bedrohten, an Ort und Stelle geblieben, ohne dass die Amerikaner ihnen noch strategische Waffen hätten entgegensetzen können. Im Glauben, die Interessen der Europäer zu vertreten, ging die amerikanische Delegation nun noch einen Schritt weiter und schlug vor, alle Nuklearwaffen abzuschaffen – sowohl die taktischen als auch die strategischen. An diesem Punkt hätte es zu einer Einigung kommen können, wenn Gorbatschow nicht darauf bestanden hätte, dass die Vereinigten Staaten auf SDI verzichteten. Da Reagan das nicht akzeptieren wollte, scheiterten die Verhandlungen und die Gefahr einer Abkopplung Westeuropas von der amerikanischen Verteidigungsstrategie, die der schlecht vorbereitete Reagan fast herbeigeführt hätte, war gebannt.
Aus amerikanischer Sicht wäre der völlige Verzicht auf Nuklearwaffen tatsächlich wenig problematisch gewesen, da sich schon abzeichnete, dass moderne, intelligente Waffensysteme die Kernwaffen in Zukunft ersetzen könnten. Aus westeuropäischer Sicht sah die Sache freilich anders aus. An der Abhängigkeit Westeuropas von der nuklearen Abschreckung der Vereinigten Staaten hatte sich seit den 1950er Jahren nichts geändert. Die erratische Verhandlungsstrategie der amerikanischen Delegation in Reykjavík ließ in den westeuropäischen Hauptstädten die Furcht aufsteigen, die Amerikaner wollten ihre Verteidigung nicht mehr garantieren. Und nirgendwo war der „Reykjavík-Schock“ größer als in Bonn. Kohl und seine Regierung befanden sich in einem Dilemma: Auf der einen Seite hielt der Kanzler an seinem Grundsatz fest, den Amerikanern keinen Anlass zur Verstimmung zu geben. Deshalb und weil er sich wegen eigener Bekenntnisse zur Abrüstung im Jahr 1983 unglaubwürdig machen würde, machte er deutlich, dass er einer Null-Lösung nicht im Wege stehen werde. Auf der anderen Seite geriet er immer mehr unter Druck derjenigen in den eigenen Reihen, die das Vorgehen der amerikanischen Regierung in den Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion als gefährliches hegemoniales Gebaren betrachteten, nämlich vor allem Alfred Dregger, der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, und der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß.
Die Kritik verstärkte sich, als sich abzeichnete, dass die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sich auf eine doppelte Nulllösung einigen würden, das heißt auf die Abschaffung der ballistischen Mittelstreckenraketen mittlerer (1000 bis 5500 Kilometer) und kürzerer (500 bis 1000 Kilometer) Reichweite. Umstritten war in der Bundesrepublik vor allem, dass auch die 72 im Besitz der Bundeswehr befindlichen Pershing 1A in die Übereinkunft einbezogen werden sollten. Am 26. August 1987 nutzte Kohl – anscheinend unter dem Einfluss Genschers – seine Richtlinienkompetenz und erklärte, dass nach Inkrafttreten des Vertrags auch die deutschen Pershing 1A abgebaut werden sollten. Das war nur scheinbar eine autonome Entscheidung, denn über den Einsatz der Sprengköpfe der Raketen hatten allein die Vereinigten Staaten zu entscheiden. Jedenfalls konnte nach der symbolischen deutschen Zustimmung am 8. Dezember 1987 der Intermediate Range Nuclear Forces Treaty (INF-Vertrag) unterzeichnet werden.
Nach Reykjavík und INF ging Kohl innerlich auf Distanz zu Amerika. So wie Adenauer nach der Verkündung der Strategie der Flexible Response durch die Kennedy-Administration den Schulterschluss mit Charles de Gaulle gesucht hatte, näherte er sich jetzt noch weiter Frankreich an. An der harten Realität der Machtpolitik änderte das freilich nichts, wie sich im Frühjahr 1988 angesichts der Frage der Modernisierung der Kurzstreckenraketen vom Typ Lance zeigen sollte.
Nach Abschluss des INF-Vertrags war tatsächlich eingetreten, was die Kritiker der doppelten Nulllösung vorhergesagt hatten: Die Sowjetunion hatte durch ihre Überlegenheit auf dem Gebiet der Kurzstreckenraketen immer noch die Möglichkeit, Westeuropa nuklear zu treffen, während die Nato sich dieser Fähigkeit beraubt hatte. In dieser Situation gab es nur zwei Möglichkeiten: entweder eine Abschaffung der Kurzstreckenraketen, also eine dritte Nulllösung anzustreben; oder die Zahl der Raketen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs einander anzugleichen. Da letzteres eine Reduzierung der sowjetischen Raketen bedeutet hätte, diese aber zu dieser Zeit nicht absehbar war, blieb aus amerikanischer Sicht nur die Modernisierung der Lance-Raketen.
Nun verkehrten sich die Fronten: Statt die amerikanische und im Übrigen auch britische Position zu unterstützen, begann die Bonner Regierung für eine dritte Nulllösung zu werben. Bundeskanzler Kohl hatte sich dabei nur zögerlich dieser Haltung angeschlossen, die von Dregger, führenden Medien, dem Auswärtigen Amt und nicht zuletzt Außenminister Genscher vertreten wurde. Das Ergebnis war eine schwere Krise im Verhältnis der Bundesrepublik zu den Vereinigten Staaten und Großbritannien, die sich bis zum Frühjahr 1989 hinzog.
Seiner Gewohnheit folgend, Washington nicht zu verärgern, wäre Kohl den Amerikanern und Briten gern entgegengekommen. Mehr und mehr fühlte er sich von Genscher vorgeführt, der öffentlich die sowjetische Position vertrat, die Modernisierung der Lance-Raketen stelle einen Bruch des INF-Vertrags dar. In Washington begannen nicht nur konservative Republikaner mit tiefem Misstrauen vom „Genscherismus“ als einer allzu Moskau-nahen Politik zu sprechen. Längst ging es nicht mehr nur um die Frage der Kurzstreckenraketen, sondern um die Zukunft der Bundesrepublik im atlantischen Bündnis.
Eine vorläufige Lösung führte schließlich George Bush herbei, der im November 1988 die amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewonnen und Reagans Nachfolge angetreten hatte. Aus Sorge um die Stabilität der christlich-liberalen Koalition in Bonn und angesichts der von 1990 bevorstehenden Bundestagwahl, die aus seiner Sicht nicht die oppositionelle, als unzuverlässig geltende SPD gewinnen durfte, setze er im Rahmen der Nato durch, dass die Modernisierung der Lance-Raketen bis 1992 vertagt wurde. Zugleich machte er aber auch deutlich, dass es keine dritte Nulllösung geben werde. Das war eine Entscheidung, die Kohl entgegenkam, der ohnehin alle Hoffnungen darin gesetzt hatte, dass Bush der nächste amerikanische Präsident sein würde.
Trotz aller personalpolitischen Kontinuitäten unterscheid sich Bushs Außenpolitik im Kern durchaus von derjenigen Reagans. Bush, seine Berater und sein Außenminister James Earl Baker warfen Reagan vor, dass er mit seiner Strategie zwar die Sowjetunion unterminiert habe, dass er aber keine Vorstellung davon gehabt habe, wie der Kalte Krieg beendet werden könnte. Genau dieses Ziel aber verfolgten Bush und seine Mitarbeiter mit großer Konsequenz, ohne dabei eine festgefügte Strategie zu haben. Sie waren Realisten, hielten aber nichts von Kissingers Balance-of-Power-Theorien, die er aus der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts abgeleitet hatte. Sie gingen tastend vor. Der Leitbegriff der Außenpolitik George Bushs war prudence (Klugheit). Um die Weltmachtstellung der Vereinigten Staaten zu erhalten, musste man flexibel auf die sich einstellenden Bedingungen reagieren.
Zwei Dinge waren dabei aus Bushs Sicht wichtig: erstens ging es darum, die durch Reykjavík erschütterte amerikanische Führung in der Nato wiederherzustellen; zweitens wollte der Präsident Gorbatschows Rhetorik des „gemeinsamen europäischen Hauses“ eine amerikanische Konzeption entgegensetzen. Um diese Ziele zu erreichen, galt es zunächst, den Drang der öffentlichen Meinung in Amerika und Europa nach immer weniger Kernwaffen zu stoppen. Die Nuklearwaffen, so Bush, seien die Symptome, nicht die Ursache des Ost-West-Konflikts. Die Ursache sei die „erzwungene und widernatürliche“ Teilung Europas, die überwunden werden müsse. Daraus folgte, dass die Gewichte innerhalb der transatlantischen Beziehungen zumindest zum Teil verschoben werden mussten, von der special relationship mit Großbritannien zu einer stärkeren Einbeziehung der Bundesrepublik. Aus diesem Grund sagte Bush am 31. Mai 1989 in Mainz – bei seinem ersten Staatsbesuch, den er als Präsident in der Bundesrepublik absolvierte –, dass Amerika und die Bundesrepublik als „partners in leadership“ am Fall der Grenzen in Europa arbeiten sollten.
Bushs Analyse und die daraus folgende Politik war ganz nach dem Geschmack Helmut Kohls. Die Partnerschaft, die sich zwischen den beiden Politikern entwickelte, beruhte weniger auf einem nebulösen Konzept von Freundschaft in der Politik als auf einer ähnlichen Weltsicht und gemeinsamen Interessen. Kohl mochte glauben, dass er mit Bush ähnlich wie mit Reagan Freundschaft geschlossen hatte. Aber der nach den Idealen des „Christian Gentleman“ erzogene, kühle Spross des Ostküstenestablishments war für diese Dinge kaum empfänglich. Was für ihn jedoch zählte, waren Verlässlichkeit und Loyalität, und es hat die Beziehungen zwischen ihm und Kohl sicher erleichtert, dass er wusste, dass er auf Kohl zählen konnte.
So war es folgerichtig, dass Bush nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 beherzt die Wiedervereinigung der beiden Staaten in Deutschland anstrebte. Er tat es, ohne äußerlich emotional bewegt zu sein, weil er wusste, dass die Wiedervereinigung unvermeidlich sein würde. Als Amerikaner sah Bush den Sieg der Freiheit, der sich anbahnte, mit Genugtuung; als Außenpolitiker, dem es um die Aufrechterhaltung der internationalen Ordnung ging, sorgte er sich darum, dass die Lage außer Kontrolle geraten könnte. Sein Ziel war es, den Weg zur Deutschen Einheit im Sinne amerikanischer Interessen zu gestalten. Als Kohl sein Zehn-Punkte-Programm vorlegte, erklärten sich Bush und Baker damit einverstanden, knüpften ihre Zustimmung aber an die Bedingung, dass die geeinte Nation Teil der Nato sein müsse.
Es kristallisierte sich eine Konstellation heraus, in der Kohl und Bush gemeinsam auf eine rasche Wiedervereinigung drängten, während auf der anderen Seite Mitterrand, Thatcher und Gorbatschow den Prozess zu verlangsamen versuchten. Kohl wusste genau, dass er ohne Bush nichts erreichen konnte, dass dieser ihn aber unter Wahrung amerikanischer Interessen unterstützen würde. Gemeinsam sorgten sie dafür, dass sich Gorbatschow mit der Wiedervereinigung im Rahmen der Nato abfand. Entgegen der in der deutschen Erinnerungskultur hochgehaltenen Gorbatschow-Romantik waren die entscheidenden Akteure bei der Beendigung des Kalten Krieges, wie Gerorges-Henri Soutou festgestellt hat, George Bush und seine außenpolitischen Berater. Als verlässlicher Partner der Vereinigten Staaten hat sich dabei auch Helmut Kohl über den Wiedervereinigungsprozess hinaus Verdienste erworben. Freilich ließ sich diese für die Bundesrepublik günstige Konstellation nicht lange über den Einigungsprozess hinaus aufrechterhalten.
Tatsächlich kündigten sich die ersten Risse im deutsch-amerikanischen Verhältnis noch vor Abschluss der Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen an, als der irakische Tyrann Saddam Hussein am 2. August 1990 die unübersichtliche Weltlage dazu nutzte, in Kuweit einzumarschieren. Die Vereinigten Staaten reagierten aus moralischen und machtpolitischen Gründen umgehend und wirkten auf ein Mandat der Vereinten Nationen zur Befreiung des Irak hin. 34 Nationen beteiligten sich an der Operation „Desert Storm“, die am 17. Januar 1991 begann, nicht aber das frisch vereinte Deutschland. Die amerikanische Regierung hatte keine hohen Erwartungen an Deutschland, forderte das Land aber dennoch auf, sich zumindest in geringem Umfang militärisch zu beteiligen. Darauf antwortete Kohl mit Verweis auf Artikel 87a des Grundgesetzes, dass sich deutsche Truppen nicht an einem Einsatz außerhalb der Nato beteiligen dürften. Gleichzeitig stellte Deutschland aber etwa 18 Milliarden DM zur Unterstützung des Krieges zur Verfügung – eine Summe, die ein riesiges Loch in den Bundeshaushalt reißen sollte. Schnell kam der Begriff der „Scheckbuchdiplomatie“ in Umlauf.
Angesichts der „Massenpsychose“ (Hans-Peter Schwarz), die angesichts der Golfkrise in der deutschen Öffentlichkeit herrschte, hatte Kohl sicher kaum eine andere Wahl. Auch musste er sich, hätte er einen anderen Weg einschlagen wollen, des Widerstands des Koalitionspartners FDP und vor allem Genschers bewusst sein. Doch seine verfassungsrechtliche Begründung war schon damals umstritten, und 1994 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass Einsätze außerhalb des Nato-Gebiets auch ohne Grundgesetzänderung verfassungskonform seien. Die Bush-Administration und deutschlandfreundliche Kreise in Amerika waren zudem darüber irritiert, dass Kohl den Antikriegsdemonstrationen auf deutschen Straßen rhetorisch nichts entgegensetzte. Offenkundig ließ er es an Solidarität mit den Verbündeten mangeln. Von „partners in leadership“ konnte keine Rede mehr sein.
Trotz des Risses in den deutsch-amerikanischen Beziehungen, zu dem es in der Golfkrise gekommen war, hielt Kohl an seiner außenpolitischen Grundkonzeption fest: Es ging ihm auch nach 1991 darum, für Harmonie zu sorgen. Und das hieß in seinen letzten Regierungsjahren, bei der europäischen Einigung voranzukommen, ohne die Vereinigten Staaten vor den Kopf zu stoßen oder gar außen vor zu lassen.
Deutschlandspiegel 479/1994.
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Da Bush im Gegensatz zu Reagan glaubte, dass die europäische Integration für die Vereinigten Staaten von Vorteil sei, und später auch Bill Clinton diese Auffassung vertrat, hatte Kohl im Grunde gute Voraussetzungen. Gleichwohl konnte auch er den Gegensatz zwischen den Interessen Amerikas und denjenigen Frankreichs nicht dauerhaft ausgleichen. Auch die Streitpunkte, die es im Verhältnis zwischen Amerika und Deutschland gab, ließen sich nicht allein durch gute persönliche Beziehungen zu den amerikanischen Präsidenten kaschieren.
Von der Vollendung der Deutschen Einheit bis zum Ausscheiden Kohls aus dem Amt im Jahr 1998 wurden die deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht zuletzt von der Frage bestimmt, wie viel Verantwortung das vereinte Deutschland nun übernehmen konnte und sollte. Ohne Zweifel erwarteten die Vereinigten Staaten mehr Engagement von Deutschland. Gelegenheit dazu bot die Jugoslawienkrise, die sich zeitgleich mit der Golfkrise entwickelte. Schon bald sprachen sich Kohl und Genscher für die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens aus, die sich für unabhängig erklärt hatten. Damit stießen sie weder bei den europäischen Partnern noch in den Vereinigten Staaten auf Begeisterung. Trotzdem erkannte die Bonner Regierung die beiden ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken im Dezember 1991 einseitig völkerrechtlich an. Jetzt traf Deutschland die Kritik der Vereinigten Staaten nicht mehr wegen zu großer Zurückhaltung, sondern wegen vorschnellen Handelns. Die Folge war, dass sich Bonn wieder größere Zurückhaltung auferlegte.
Gleichwohl hörte auch die Regierung Clinton nicht auf, nach der Übernahme größerer Lasten durch Deutschlands zu verlangen. Auf der einen Seite waren die persönlichen Beziehungen zwischen Clinton und Kohl fast noch besser als zwischen Kohl und Reagan. Auf der anderen Seite erwartete Clinton von Kohl nicht nur Beratung und Vorträge über die weltpolitische Lage, sondern konkrete Unterstützung. Entsprechend positiv reagierte Washington darauf, dass der Bundestag 1995 zustimmte, Bundeswehrsoldaten als Teil einer multinationalen Eingreiftruppe nach Bosnien-Herzegowina zu schicken. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994 über die Verfassungskonformität sogenannter Out-of-Area-Einsätze hatte das möglich gemacht.
Alles in allem hat Helmut Kohl die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten in den 16 Jahren seiner Amtszeit konstruktiv gestaltet. Trotz mancher Krisen, die sich aus natürlichen Interessengegensätzen ergaben, und einiger Fehler, die Kohl selbst unterliefen – man denke etwa an Bitburg oder die Lance-Modernisierung – hat er durch seine persönliche Diplomatie für ein belastbares Verhältnis gesorgt, was sich nach dem Fall der Berliner Mauer auszahlte.
25 Jahre lang prägte Helmut Kohl als Vorsitzender die CDU. Als Vertreter einer neuen Politikergeneration gestaltete er den Wandel von der Honoratioren- zur Mitgliederpartei. Dabei war seine Amtszeit von sehr verschiedenen politischen Konstellationen geprägt.
Am 9. November 1989 fiel die Mauer, die Deutschland 28 Jahre lang geteilt hatte. Es war ein Sieg der Menschen, die sich gegen das Unrechtsregime der SED aufgelehnt hatten. In den darauffolgenden Wochen handelte Helmut Kohl zielstrebig, um die Einheit in Freiheit zu vollenden.
Für Helmut Kohl war Europa stets mehr als ein Wirtschaftsprojekt. Schon in seiner Regierungserklärung hatte er die Politische Union Europas zum Primärziel deutscher Europapolitik erklärt. Mit dem Vertrag von Maastricht erreichte Kohl den Höhepunkt seiner Europapolitik. 1998 wurde er für sein Engagement geehrt und zum „Ehrenbürger Europas“ ernannt.
Die Wirtschaftspolitik der Ära Kohl zerfällt in zwei Phasen: Die Zeit zwischen 1982 und 1989/90 war nach der erfolgreichen Haushaltskonsolidierung durch moderate Reformen gekennzeichnet. Nach der Wiedervereinigung begegnete die Bundesregierung den teilweise gravierenden wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Problemen mit weitreichenden Maßnahmen.
Zwei grundverschiedene Phasen kennzeichnen die Sozialpolitik der Ära Kohl. 1982 bis 1990 stehen die Konsolidierung der Sozialfinanzen und Ansätze institutioneller Reformen im Zentrum. 1990 bis 1998 dominieren die Wiedervereinigung, Fragen des Wirtschafts- und Euro-Standorts Deutschland und die Einführung der Pflegeversicherung die Sozialpolitik. Die Lehre der reformpolitischen Gelegenheiten und die Theorie des „Mittleren Weges“ erklären einen Gutteil der Sozialpolitik in der Ära Kohl.
Mit Beginn der Ära Kohl entwickelte sich die Bundesrepublik zu einem Vorreiter in der Umweltpolitik. Nach 1990 stand hingegen die Bewältigung der Folgen der Deutschen Einheit im Fokus und die nationale Umweltpolitik verlor an Dynamik.