Sozialpolitik

Manfred G. Schmidt

Dieses Kapitel handelt von der Sozialpolitik in der Ära Kohl. Sie durchläuft zwei grundverschiedene Phasen: 1982 bis 1990 und 1990 bis 1998. Die Jahre von 1982 bis 1990 sind bestimmt von der Konsolidierung der Sozialfinanzen, die der Schlüssel für die geplante „Wende“ zu mehr Markt und weniger Staat ist, und Ansätzen zur institutionellen Reform der Sozialpolitik. Von diesen Vorhaben und den reformpolitischen Gelegenheiten dieser Zeit handelt der erste Teil der vorliegenden Abhandlung. Ihr zweiter Teil erörtert die Sozialpolitik von 1990 bis 1998. Nunmehr prägen die Wiedervereinigung und Bestrebungen, den Wirtschafts- und Euro-Standort Deutschland zu stärken, die Sozialpolitik. Zudem spielt – neben Sparmaßnahmen – die Einführung der Pflegeversicherung eine zentrale Rolle. Abschließend werden im Schrifttum verbreitete Deutungen der Sozialpolitik von 1982 bis 1998 gewürdigt und zugunsten einer alternativen Erklärung zurückgestellt: Die Grundzüge der Sozialpolitik in der Ära Kohl sind mit der Lehre reformpolitischer Gelegenheiten und der Theorie der „Politik des mittleren Weges“ erklärbar.

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Der Auftakt: 1. Oktober 1982

Schwarz-Weiss-Aufnahme von Helmut Schmid, wie er Helmut Kohl zu seiner Wahl zum Bundeskanzler gratuliert
Helmut Schmidt (r.) gratuliert am 1. Oktober 1982 im Deutschen Bundestag Helmut Kohl zu seiner Wahl...

Die Ära Kohl, die von 1982 bis 1998 währende Amtszeit der von Bundeskanzler Helmut Kohl geführten Bundesregierungen, begann am 1. Oktober 1982. An diesem Tag wurde Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) mit dem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 Grundgesetz abgewählt. Die in den Unionsparteien und der FDP verbreitete Befürchtung, dieses Misstrauensvotum könne ebenso scheitern wie das vom 24. April 1972 gegen Bundeskanzler Willy Brandt, bewahrheitete sich nicht. Von den 495 abgegebenen gültigen Stimmen entfielen 256 auf Helmut Kohl, den Kandidaten von CDU, CSU und FDP, 235 gegen ihn, vier waren Enthaltungen. Damit war Helmut Kohl mit der Kanzlermehrheit, der Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages, als Nachfolger von Helmut Schmidt gewählt – auch wenn mindestens 23 der 279 Abgeordneten von CDU, CSU und FDP nicht für ihn gestimmt hatten. 

Zwei Stunden später leistete Helmut Kohl – der Bundespräsident hatte ihn inzwischen zum Bundeskanzler ernannt – den Amtseid. Nun war die Ära der SPD-geführten Bundesregierungen Geschichte. Jetzt stand der SPD das „frustrierende Erlebnis” der Opposition bevor, dieses schwierige „Immerzu-nur-reden-und-nicht-gestalten-Können” und Abgeschottetsein vom „Herrschaftswissen”. So die Worte Helmut Schmidts vor der SPD-Bundestagsfraktion am Tage seiner Abwahl als Bundeskanzler. Sie hat Klaus Bölling in seinem Tagebuch Die letzten 30 Tage des Kanzlers Helmut Schmidt 1982 überliefert.

Die erste Etappe der Sozialpolitik in der Ära Kohl: 1982–1990

Für Helmut Kohl und das von ihm geführte Bündnis von Unionsparteien und FDP war nun das Tor zu weitreichenden Kurskorrekturen geöffnet. Jetzt ging es darum, so die Sichtweise des Kanzlers und seiner Mitstreiter, zu einer finanziell soliden Politik auf der Basis einer starken Wirtschaft zurückzukehren und die – auf mehr Staat und Überlastung der Wirtschaft hinauslaufenden – Weichenstellungen der SPD-geführten Bundesregierungen von 1969 bis 1982 rückgängig zu machen. Zwei Vorhaben sollten im Zentrum des Reformprogramms der von Helmut Kohl geführten Koalition von CDU, CSU und FDP stehen: eine „Wende“ in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik hin zu mehr Markt, mehr Eigenverantwortlichkeit und weniger Staat sowie eine geistig-moralische Kursänderung. Sie sollte gemeinschaftsdienliche Pflicht- und Akzeptanzwerte aufwerten, wie „Tugenden der Klugheit, des Mutes und des Maßes für die Zukunft unseres Landes“, so Kohls Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982. Konkretere politische Ziele waren mitgedacht, wie seine Erinnerungen 19821992 verdeutlichen: neben dem Eintreten für Freiheit die Verlässlichkeit Deutschlands in bündnispolitischen Fragen, sprich: erforderlichenfalls die Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses. 

Aufgrund der Größe des Sozialbudgets, das seit 1974 mehr als 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes betrug, kam der Sozialpolitik in der „Wende“ die Schlüsselrolle zu. Finanzielle Konsolidierung zwecks Rückführung der Sozialleistungs- und der Staatsquote auf ein wirtschaftsverträglicheres Niveau war eine Leitlinie. Zudem sollte die Sozialpolitik umgebaut werden, um sie effizienter und effektiver auszurichten.

Gräben zwischen Regierung und Opposition

Welten trennten mittlerweile die Unionsparteien und die FDP von der SPD. Die tiefe Spaltung zwischen dem bürgerlichen und dem sozialdemokratischen Lager bezeugten auch die Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 und die anschließende Aussprache im Deutschen Bundestag. In der Regierungserklärung erläuterte Kohl, er werde den Regierungswechsel vom 1. Oktober 1982 zu einem „historischen Neuanfang” nutzen. Im Bund regiere nun die „Koalition der Mitte“, so seine Worte. Koalition der Mitte? Heftigster Widerspruch in den Reihen der SPD, ja: Hohngelächter. Der SPD zufolge waren CDU, CSU und FDP nicht eine „Koalition der Mitte”, sondern eine „Rechtskoalition”, so Willy Brandt im Bundestag am 17. September 1982. Unionsparteien und FDP strebten nach „Abwendung vom demokratischen Sozialstaat“ und „Hinwendung zur Ellenbogengesellschaft”, hielt ihnen der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt in seiner Regierungserklärung vom selben Tag vor. Kohls Antwort war nicht weniger scharf. In seiner Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 ging es auch darum, „schonungslos“ mit der Vorgängerregierung „abzurechnen“, so Kohls Erinnerungen 19821990. Der heftige Streit zwischen Regierung und Opposition bestimmte nahezu die gesamte Ära Kohl und den größten Teil ihrer Sozialpolitik, die nun im Zentrum steht.

  Wie die Ära Kohl insgesamt kennzeichnen zwei Etappen ihre Sozialpolitik. Die erste Etappe erstreckte sich auf 1982 bis 1990. In ihr zielte die Sozialpolitik auf die finanzielle Konsolidierung. Alsbald folgte der Einstieg in institutionelle Reformen, die den Sozialstaat umbauen sollten. Die zweite Etappe der Sozialpolitik – 1990 bis 1998 – prägten vor allem die Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands und Anpassungen des Sozialstaats an den Standort Deutschland sowie die Pflegeversicherung.

Auftakt der Konsolidierung

CDU Plakat mit der Aufschrift "Dieser Kanzler schafft Vertrauen"
Plakat zur Bundestagswahl 1983.

Die Konsolidierung der Sozialfinanzen begann mit einer „Atempause“, so der vom Bundesarbeitsminister Norbert Blüm geprägte und von Helmut Kohl übernommene Ausdruck. Gemeint waren das Innehalten der Sozialpolitik, der Stopp weiterer Ausbaupläne und die Vorbereitung der für die finanzielle Sanierung erforderlichen Kürzungen in den Haushaltsbegleitgesetzen 1983 und 1984. Die dort festgelegten Einschnitte in die Sozialleistungen trafen größtenteils den Kern des deutschen „Sozialversicherungsstaates“, vor allem die Renten-, die Kranken- und die Arbeitslosenversicherung, nicht die Mindestsicherungssysteme. Die Einschnitte in die Sozialleistungen erfolgten allerdings in homöopathischen Dosierungen – sie waren „mäßige“ Kürzungen, so der Kommentar von Hans-Peter Schwarz in seiner Biographie über Helmut Kohl. Doch laut Opposition bewirkten sie „Umverteilung von unten nach oben“ und „Sozialabbau“.

Das war eine politisch brisante Tonlage. Sie schürte heftigen Protest gegen die „Wende“ im Bundestag und außerhalb des Parlaments und bestärkte den Kanzler in seinem Gespür für die wahlpolitisch riskante Qualität der „Wende“. In seiner Politik bestätigt sah Helmut Kohl sich allerdings durch das Ergebnis der vorgezogenen Bundestagswahl vom 6. März 1983, die als Härtetest des Regierungswechsels, der „Wende“ und der hierfür erforderlichen Sanierung der Sozialfinanzen verstanden werden konnte. Trotz ungünstiger Voraussagen gewann die Koalition aus CDU, CSU und FDP diese Wahl. Zwar schrumpfte der Zweitstimmenanteil der FDP um 3,6 Prozentpunkte auf 7,0 Prozent. Doch die Unionsparteien verzeichneten einen Stimmenzuwachs von 4,3 Prozentpunkten, während die SPD, die angekündigt hatte, nach einem Wahlsieg den Großteil der Sozialkürzungen zurückzunehmen, Stimmenanteile in Höhe von 4,7 Prozentpunkten verlor.

Übergänge zur institutionellen Reform der Sozialpolitik

Wandzeitung mit der Überschrift "Wir garantieren sichere Renten - CDU"
Wandzeitung 1988.

Die Zeit der Konsolidierung der Sozialfinanzen endete mit dem Haushaltsbegleitgesetz 1984. Anschließend begannen die als „Umbau“ benannten Bestrebungen um institutionelle Reformen der Sozialpolitik und ihr neuerlicher Ausbau. Um die Expansion der aktiven Arbeitsmarktpolitik ging es hierbei, um die Aufwertung der Sozialpolitik für Familien, aber auch um die Deregulierung von Arbeitnehmerschutzrechten wie im Falle des Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985. Hinzu kamen die Anrechnung von Kindererziehungszeiten als rentenerhöhende Beitragszeiten in der Alterssicherung und die Neuordnung der Rentenversicherung, die gemeinsam mit der Opposition beschlossen wurde. Der Rentenversicherung wurde ein – gegen Regierungswechsel weitgehend abgeschirmter – Finanzierungsverbund von Beitragszahlern, Rentnern und Bund, dem Finanzier des Bundeszuschusses zur Rentenversicherung, eingepflanzt. Diese Reform priesen der Bundesarbeitsminister und das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung als Meisterstück.

Norbert Blüm, der Bundesarbeitsminister der gesamten Ära Kohl, hatte die politisch heftig umstrittene Sanierung der Sozialfinanzen loyal mitgetragen. Doch mehr behagte ihm die auf Um- und Ausbau zielende Sozialpolitik. Beides – Sanierung sowie Um- und Ausbau der Sozialpolitik – war für seinen Kanzler durchaus vereinbar. Als Fürsprecher der „Wende“ war Helmut Kohl für die finanzielle Sanierung, als Wahlkämpfer und Anhänger der Sozialen Marktwirtschaft aber auch für einen Staat, der „soziale Sicherheit und gesellschaftlichen Ausgleich“ gewährleistet, so Kohl 1989. Der Kanzler und sein Arbeitsminister zogen lange an einem Strang. 1989 entstand jedoch ein schwerer Konflikt zwischen beiden. Blüm hatte laut Kohl an dem Plan mitgewirkt, ihn zu stürzen. Seither war sein Vertrauen zu Blüm, heißt es in Kohls Erinnerungen 19821992, „erheblich beschädigt“. Das hat Kohl im Rückblick zu dem von tiefer Verbitterung zeugenden Urteil veranlasst, es sei „ein politisch wie persönlich schwerer Fehler“ gewesen, an Blüm „als Sozialminister festzuhalten“. Bis dahin, aber auch weithin nach 1990, konnte Blüm wie kein anderer im Kabinett Kohl „die linke Flanke“ der Regierung sichern, so Hans-Peter Schwarz‘ zutreffende Diagnose in seiner Kohl-Biographie. Diese Funktion von Blüm wusste Helmut Kohl sehr zu schätzen, wie auch seine Erinnerungen 19901994 zeigen. Mit dieser Position konnte Blüm sich als unverzichtbares Regierungsmitglied und Wählerstimmen sichernder „Schutzpatron“ des Sozialstaats profilieren und ferner Kontakt zur SPD und den Gewerkschaften halten. Streit um arbeitsrechtliche Fragen belastete diese Beziehungen jedoch schwer und führte 1996 infolge der gesetzlich verordneten Absenkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu einem nicht mehr lösbaren Konflikt.

Die „Wende“ im Spiegel der Sozialleistungs- und der Staatsquote

Vom Beitrag der Sozialpolitik zur „Wende“ zeugen die Sozialleistungsquote, der Anteil der öffentlichen Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), und die Staatsquote, der Anteil aller öffentlichen Ausgaben am BIP. Beide Quoten zeigten von 1982 bis 1990 nach unten. Die Sozialleistungsquote sank laut der damaligen Sozialbudget-Statistik des Bundesarbeitsministeriums von 33,0 Prozent 1982 auf 29,1 Prozent 1990. Sie trug entscheidend zum Rückgang der Staatsquote von 50,1 Prozent 1982 auf 46,1 Prozent 1990 bei, so die Zahlen im Jahresgutachten des Sachverständigenrates 1998.

Allerdings sind Konjunktureffekte zu bedenken. 1982 war ein Krisenjahr, 1990 ein Prosperitätsjahr. Folglich war die konjunkturbereinigte Sozialleistungsquote geringer geschrumpft als es die unbereinigten Zahlen anzeigten. Dennoch hatte die finanzielle Konsolidierung in Deutschland in den 1980er Jahren mehr Einsparungen erzielt als in fast allen anderen Mitgliedstaaten der EU und der OECD und ungefähr so viele Einsparungen wie in Großbritannien unter der Premierministerin Margaret Thatcher.

Wenngleich die finanzielle Konsolidierung im Lichte konjunkturbereinigter Daten moderater ausfiel, konnte sie Erfolg beanspruchen. Den Erfolg kann die Lehre der reformpolitischen Gelegenheiten erklären. Ihr zufolge werden Planung und Durchführung größerer Reformen durch folgende Umstände gefördert:

- eine landesweite Krisenstimmung und bei Wählern wie Eliten die weit verbreitete Überzeugung, dass zur Lösung der Krise ein Politikwechsel erforderlich sei,
- ein ausdrückliches Mandat für eine entsprechende Reform,
- ein Honeymoon-Effekt, der die Wähler veranlasst, Schwächen und Kosten neuer Maßnahmen der Regierung nachzusehen,
- eine geschwächte Opposition,
- gleichgerichtete Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat, wodurch das Vetopotential der Länderregierungen größtenteils brachliegt und 
- politisch-ideologisch relativ homogene Regierungsparteien.

Die meisten dieser Bedingungen erfüllten die Regierungen Kohl der 1980er Jahre. Zugute kam ihnen ferner eine Politik, die mit Termindruck operierte und Sonderinteressen weitgehend ausklammerte. Übereinstimmend wird berichtet, die Konsolidierungspolitik sei in einem kleinen Kreis von Experten der Regierungsparteien und der Ministerialverwaltung unter forciertem Zeitdruck erörtert und beschlossen worden. Das verwehrte den Bundestagsfraktionen der Parteien und den Interessenverbänden die sonst üblichen Einflussversuche.

Die zweite Etappe der Sozialpolitik: 1990-1998

Aufnahme von Helmut Kohl und Norbert Blüm
Helmut Kohl und Norbert Blüm am 26. April 1993.

Die zweite Etappe der Sozialpolitik in der Ära Kohl, 1990 bis 1998, wurde nicht mehr von Konsolidierung, Abbau und Umbau geprägt, sondern von neuen Großaufgaben.

Wiedervereinigung und Standortdebatte

Die größte Herausforderung war die Wiedervereinigung Deutschlands. In ihr spielte die Sozialpolitik eine zentrale Rolle. Sie ergänzte als „Sozialunion“ die Wirtschafts- und Währungsunion, die Helmut Kohl und viele andere bis Februar 1990 allein vorgesehen hatten. Fortan aber galt der Plan der Bundesregierung, die Einrichtungen und sozialrechtlichen Standards der bundesdeutschen Sozialpolitik baldmöglichst auf die „neuen Bundesländer“ zu übertragen, in denen die DDR-Sozialpolitik tiefe Lücken hinterlassen hatte. Die hierdurch substantiell erhöhten Sozialleistungen begünstigten dort vor allem die große Mehrzahl der Rentner, die Witwen, die Behinderten und die Kriegsopfer.

Die zweite Großaufgabe bestand darin, die Sozialpolitik an den „Standort Deutschland“ anzupassen. Deutschland war infolge zunehmender Globalisierung, Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft und Defizitkriterien des Maastrichter Vertrags, die den Zugang zum Euro regulierten, unter Druck geraten. Die öffentlichen Finanzen, die durch die Wiedervereinigung und die hohe Arbeitslosigkeit schwer belastet waren, mussten nun auch den – Einsparung gebietenden – Eintrittsbedingungen zum Euro genügen, der europäischen Gemeinschaftswährung, für deren Einführung Helmut Kohl mit aller Macht warb. Als Standortstärkung war auch die weitere Deregulierung von Beschäftigungsverhältnissen vorgesehen, die von Gewerkschaften und SPD angeprangert wurde.

Großaufgaben und enger Handlungsspielraum

Großaufgaben einerseits und enge Handlungsspielräume andererseits stellten die Regierung Kohl in der Sozialpolitik erneut vor schwierige Aufgaben. Anders als von 1982 bis 1990 fehlten der Sozialpolitik der 1990er Jahre die günstigen Reformgelegenheiten. Die Handlungsspielräume waren eng geworden. Innenpolitisch hatte die Bundesregierung nicht mehr mit elf Ländern und elf Landtagswahlen zu tun, sondern mit 16. Zudem stellten die wirtschafts- und finanzschwächeren Länder nunmehr die Mehrheit der Stimmen im Bundesrat. Im Unterschied zu den Jahren 1982 bis 1990 hatte die Regierungskoalition aus Unionsparteien und FDP im Bundesrat seit März 1991 die Mehrheit verloren. Die Regierung Kohl musste seither nahezu alle wichtigen Gesetze mit der Stimmenmehrheit im Bundesrat abstimmen. Weil diese Mehrheit größtenteils von den SPD-geführten Bundesländern kam, war die zuvor schwache oppositionelle SPD zur Vetokraft im Sinne der Vetospielertheorie geworden: Auf ihre Zustimmung im Bundesrat war die Bundesregierung in der Gesetzgebung angewiesen. Ferner war kein Honeymoon mehr im Spiel. Obendrein war die Spannung zwischen den Koalitionsparteien in der Bundesregierung größer als vor 1990. Die FDP drängte hartnäckiger auf steuerliche Entlastungen als zuvor, gegebenenfalls auf Kosten sozialstaatlicher Leistungen, während die Unionsparteien zwischen dem Streben nach solider Finanzpolitik und wachsendem Ausgabenbedarf hin- und hergerissen waren.

Finanzierung der Wiedervereinigung

Der wachsende Bedarf an öffentlichen Ausgaben in den 1990 Jahren war vor allem der Wiedervereinigung geschuldet. Die Produktivität und Konkurrenzfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft waren viel geringer als ursprünglich erwartet. Hinzu kam die durch den Währungsumtausch und Lohnsteigerungen erzeugte Überlastung vieler ostdeutscher Betriebe. Daraus folgten Massenentlassungen und Massenarbeitslosigkeit in einem Land, dessen Bevölkerung die Vollbeschäftigung, das „Recht auf Arbeit“, als Errungenschaft gewertet hatte. Entsprechend stark wuchs die Nachfrage nach öffentlichen Ausgaben zur passiven und aktiven Arbeitsmarktpolitik.

Finanziert wurde die Wiedervereinigung durch eine steil ansteigende Staatsverschuldung und mit Hilfe von Steuererhöhungen, die aufgrund der größeren Mitwirkungschancen des Bundesrates und der SPD allerdings schwierig zu erreichen waren. Ein beträchtlicher Finanzierungsbeitrag kam zudem, so der umstrittene Beschluss der Bundesregierung, durch die – politisch leichter durchsetzbare – kräftige Erhöhung der Sozialabgaben zustande: Der Gesamtsozialversicherungsbeitrag beispielsweise, der Prozentanteil der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge am Bruttoarbeitsverdienst, stieg von 35,9 Prozent 1989 auf 42,2 Prozent 1998 – eine Lohnkostensteigerung, die der Beschäftigung schadete.

Nicht nur bei den Abgaben standen die Zeichen auf Sturm, sondern auch bei den öffentlichen Finanzen. Die Sozialleistungsquote stieg laut dem Statistischen Taschenbuch 2000 des Bundesarbeitsministeriums von 29,1 Prozent 1990 deutschlandweit auf 33,5 Prozent 1998. In den neuen Bundesländern überstieg sie zwischenzeitlich die 50 Prozent-Marke. Die Staatsquote in Deutschland nahm im gleichen Zeitraum von 47,2 (1990) auf 50,4 Prozent (1998) zu, so der mit der bis 1997 verwendeten Berechnungsweise korrigierte Wert.

Die „Politik des mittleren Weges“

Aufnahme von Norbert Blüm bei einer Rede im Bundestag
Norbert Blüm hält am 22. Oktober 1993 im Bundestag eine Rede zur Pflegeversicherung.

Die Regierung Kohl war am Ende ihrer Amtszeit bei öffentlichen Finanzen angekommen, die nahe beim Stand von 1982 lagen (so die Staatsquote) oder ihn übertrafen (so die Sozialleistungsquote und der Gesamtsozialversicherungsbeitrag). Ohne die Deutsche Einheit und die steigende Arbeitslosenquote nach 1990 – gemessen an der Zahl der Arbeitslosen in Prozent der abhängigen Erwerbspersonen, ohne Soldaten, lag sie 1998 bei 12,3 Prozent und damit 4,8 Punkte über den 7,5 Prozent von 1982 – ist diese zweite „Wende“ der öffentlichen Finanzen in der Ära Kohl nicht zu verstehen.

Aus größerer Distanz betrachtet, lässt sich der Weg der Sozialpolitik in der ersten „Wende“ von 1982 und der zweiten „Wende“ in den 1990er Jahren einordnen. Deutschlands Sozialpolitik blieb in der Ära Kohl insgesamt der „Politik des mittleren Weges“ treu, die Deutschlands Wirtschafts- und Sozialpolitik vom staatslastigen Wohlfahrtskapitalismus skandinavischer Prägung ebenso unterscheidet wie vom marktwirtschaftlichen Weg vor allem der USA. Der „mittlere Weg“ zielt sowohl auf Preisstabilität – notfalls zu Lasten der Arbeitslosigkeit – und Wirtschaftsförderung als auch auf ehrgeizige soziale Sicherung im Rahmen einer Kapital und Arbeit einbindenden Sozialpartnerschaft und auf der Basis eines scharfen Parteienwettbewerbs zwischen zwei Sozialstaatsparteien – der CDU/CSU und der SPD.

Die „Politik des mittleren Weges“ ließ auch nach 1990 sozialpolitische Weichenstellungen zu. Manche von ihnen waren Reformen erster Ordnung, wie die Erhöhung oder Absenkung einzelner Leistungen. Andere Weichenstellungen gehörten zu den Reformen zweiter Ordnung. Bei ihnen kamen neue Instrumente zum Zuge, wie im Ausbau der Familienförderung. Es gab auch Reformen dritter Ordnung. Die Einführung der Pflegeversicherung 1995 ist das Paradebeispiel. Sie ist „die wohl bedeutendste Reform und institutionelle Neuorientierung des deutschen Sozialstaats in der Ära Kohl“ (Gerhard A. Ritter). Sie errichtete die fünfte Säule des Sozialstaats – zusätzlich zur Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung. Die Entscheidung zugunsten der Pflegeversicherung trugen die Unionsparteien und die SPD – nach langem Tauziehen und gegen heftigen Widerstand der FDP und der Wirtschaft.

Abstieg zur Bundestagswahl 1998

Allerdings dienten nicht alle sozialpolitischen Beschlüsse der Befestigung der sozialen Sicherungssysteme oder ihrem Ausbau. Eine bis zum Ende der Ära Kohl währende Eiszeit zwischen Bundesregierung und Gewerkschaften schufen der Konflikt um die Lockerungen des Kündigungsschutzes und das Gesetzespaket von 1996, das die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auf 80 Prozent des vorherigen Leistungsniveaus absenkte. Das war politisch explosiv – wovon auch klassenkampfartige Konflikte in Großbetrieben zeugten. Fachleute der Umfrageforschung, wie Renate Köcher vom Institut für Demoskopie in Allensbach, werteten die Kürzung der Lohnfortzahlung als Auftakt des Niedergangs der Regierung Kohl in der Wählergunst.

Tatsächlich begann nun laut Umfragen der „Sinkflug“ von Helmut Kohl, so Hans-Peter Schwarz‘ Worte. In den Bundestagswahlen von 1983 bis 1994 hatten die Unionsparteien mit Helmut Kohl an der Spitze Stimmenanteile von mehr als 40 Prozent gewonnen. In der letzten Wahlperiode der Ära Kohl wurden die Unionsparteien schwächer und die SPD stärker. Der Wandel mündete in die Niederlage der Unionsparteien bei der Bundestagswahl vom 27. September 1998. Die CDU/CSU erhielt 35,1 Prozent der Zweitstimmen – 6,3 Prozentpunkte weniger als 1994 und 13,5 Prozentpunkte weniger als 1983. Auch die FDP machte keinen Boden gut. Ihr Stimmenanteil sank auf 6,2 Prozent. Damit hatte das Bündnis aus CDU, CSU und FDP die Mehrheit verloren. Die SPD hingegen errang 40,9 Prozent der Zweitstimmen, wurde damit erstmals seit 1972 wieder stärkste Bundestagsfraktion und ging mit Bündnis 90/Die Grünen alsbald die rot-grüne Koalition ein.

Deutungen der Sozialpolitik in der Ära Kohl

Die Sozialpolitik der Ära Kohl wird unterschiedlich interpretiert. Nicht alle Deutungen überzeugen. Die in der kritischen Sozialpolitikforschung populäre These vom Wandel des deutschen „Sozialversicherungsstaates“ zum „Sicherungsstaat“ ist in ihrer Ausrichtung auf die Rentenversicherung zu eng und empirisch auch sonst nicht hinreichend gedeckt. Auch die These der „konservativen Transformation des Wohlfahrtsstaates“ trägt nicht weit, weil sie den Um- und Ausbau sozialpolitischer Arrangements vernachlässigt. Esping-Andersens vielzitierte Theorie der „Drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus“ passt ebenfalls nicht recht zum deutschen Sozialstaat. Der ist vor und nach 1982 ein Mischtyp aus dem – in Esping-Andersens Begriffen – konservativen und dem sozialdemokratischen Modell. Zudem berücksichtigt diese Theorie nicht die wichtigen Mindestsicherungssysteme der deutschen Sozialpolitik, wie die Sozialhilfe. Diese Systeme wurden in der Ära Kohl nicht abgebaut, sondern, wie Jens Alber gezeigt hat, teilweise erweitert. Irreführend ist schließlich der Kampfbegriff des fortwährenden „Sozialabbaus“. Mit ihr attackierten vor allem große Teile der SPD und der Gewerkschaften das Tun und Lassen der Regierung Kohl. Doch auch diese Lesart missdeutet die Eigenheiten der Sozialpolitik von 1982 bis 1998: Diese war, wie der führende Sozialexperte der Opposition zu erkennen gab, beides: „Sozialabbau“ und „Sozialfestigung“, so die Worte von Rudolf Dreßler, dem sozialdemokratischen Gegenspieler von Norbert Blüm, im Interview mit dem Verfasser am 18. Januar 2000. 

Zur Sozialpolitik der Ära Kohl gehörten nicht nur Konsolidierung und Kürzung, sondern auch Umbau und Ausbau. Dabei blieb die Sozialpolitik der Ära Kohl im Großen und Ganzen auf den Bahnen der „Politik des mittleren Weges“, wenngleich mit größerer Distanz zu den Gewerkschaften. Ein wesentlicher Antrieb für die Fortführung des „Mittelweges“ lag in der Pfadabhängigkeit des deutschen Sozialstaats und der Deutschlands Sozialpolitik prägende Wettbewerb zweier Sozialstaatsparteien – der CDU/CSU und der SPD –, die aufgrund der vielen Wahlen im Land im Dauerwahlkampf stehen. Auf Dauer gestellte Gegnerbeobachtung sowie rhetorische und programmatische Gegnerbekämpfung, wo immer sie aussichtsreich erscheint, sind hier ebenso Gebot der Stunde wie der Verzicht auf elektoral hochriskante Manöver. Diese politischen Vorgaben und die in ihnen wurzelnden Begrenzungen der Handlungsfähigkeit befestigten die Schranken staatlichen Handelns in einer föderativen Demokratie und im Rahmen fortgeschrittener Denationalisierung, die Globalisierung und Europäisierung vereint. Unter diesen Rahmenbedingungen und angesichts historischer Großprojekte wie der Wiedervereinigung ist es nicht verwunderlich, wenn Strukturreformen der Sozialpolitik, die über das „Wende“-Projekt von 1982 und die Sozialpolitik im Rahmen der Deutschen Einheit hinausreichen, in der Ära Kohl aufgeschoben wurden.

  • Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung [BMA] (Hg.): Sozialbericht 1983. Bonn 1983.
  • BMA (Hg.): Sozialbericht 1986. Bonn 1986.
  • BMA (Hg.): Sozialbericht 1990. Bonn 1990.
  • BMA (Hg.): Sozialbericht 1993. Bonn 1994.
  • BMA (Hg.): Sozialbericht 1997. Bonn 1998.
  • BMA (Hg.): Statistische Übersichten zur Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945 – Band West. Verfasser Hermann Berié. Bonn 1999.
  • BMA (Hg.): Statistisches Taschenbuch 2000. Arbeits- und Sozialstatistik. Bonn 2000.

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  • Borchert, Jens: Die konservative Transformation des Wohlfahrtsstaates. Frankfurt/M. – New York 1995.
  • Esping-Andersen, Gøsta: The Three Worlds of Welfare Capitalism. London 1990.
  • Gohr, Antonia: Was tun, wenn man die Regierungsmacht verloren hat? Die Sozialpolitik der SPD-Opposition in den 80er Jahren. Universität Bremen: Dissertation 2001.
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  • Kohl, Helmut: Erinnerungen 1982–1990. München 2005.
  • Kohl, Helmut: Erinnerungen 1990–1994. München 2007.
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  • Schmidt, Manfred G. (Bandherausgeber): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Band 7 1982–1989. Bundesrepublik Deutschland. Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform. Baden-Baden 2005.
  • Schmidt, Manfred G.: Sozialpolitik 1982–1989. In: Historisch-politische Mitteilungen. Archiv für Christlich-Demokratisch Politik 15 (2008). S. 241–253.
  • Schmidt, Manfred G.: Das politische System Deutschlands. Institutionen, Willensbildung, Politikfelder. München 2021, 4. Aufl.
  • Schmidt, Manfred G. und Gerhard A. Ritter (Hg.): The Rise and Fall of a Socialist Welfare State. The German Democratic Republic (1949–1990) and German Unification (1989–1994). Berlin-Heidelberg 2013.
  • Schwarz, Hans-Peter: Helmut Kohl. Eine politische Biographie. München 2012.
  • Statistisches Bundesamt (Hg.) in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und dem Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen, Mannheim: Datenreport 2002. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland. Bonn 2002.
  • Wewer, Göttrik (Hg.): Bilanz der Ära Kohl. Leverkusen 1998.
  • Wirsching, Andreas: Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990. München 2006.

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