Georges-Henri Soutou
Die deutsch-französischen Beziehungen gestalteten sich während der Ära Kohl nicht immer einfach. Vor allem während der deutschen Wiedervereinigung liefen Bonn und Paris nicht im gleichen Takt. Das Vertrauensverhältnis, das Kohl zu den französischen Staatspräsidenten François Mitterrand und Jacques Chirac aufbaute, war hingegen Grundlage dafür, dass das deutsch-französische Tandem den europäischen Integrationsprozess wiederbeleben und vorantreiben konnte.
Als Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 Kanzler wurde, befand er sich Paris gegenüber in einer schwierigen Situation. Die regierenden französischen Sozialisten von François Mitterrand unterhielten natürlich engere Kontakte mit der SPD als mit der CDU, und der französische Präsident hatte sich mit Helmut Schmidt gut verstanden. Selbst die französische Rechte hatte die CDU/CSU seit dem Rückzug Konrad Adenauers aus der Politik nicht mehr wirklich ernst genommen. Mehr noch: der Widerstand der CDU/CSU gegen die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition stieß in Frankreich allseits auf Kritik. Diese Politik stärkte nun aber den Status quo, d.h. die Teilung Deutschlands. Zumindest garantierte sie die Einbeziehung der UdSSR in die deutsche Frage. Tatsächlich waren sich seit 1945 alle französischen Regierungen in einem Punkt einig gewesen: über die Notwendigkeit, die Vier-Mächte-Verantwortung nach dem Abkommen von 1945 beizubehalten, um sich für den Fall einer Veränderung der Situation in Deutschland die Rückendeckung Moskaus zu sichern.
Darüber hinaus war die Person Helmut Kohl von Herkunft und Ausbildung her viel zu weit von den führenden französischen Politikern entfernt, als dass diese sein Potenzial von Anbeginn an hätten erkennen können. Nur diejenigen, die Deutschland gut kannten, wussten die umfassende Bildung des neuen Kanzlers richtig einzuschätzen. Sie verstanden, dass sein angeblicher „Provinzialismus“ für die Deutschen eine Garantie für Seriosität war, und dass seine Ausbildung als Historiker – Grundlage seiner Denkweise – sowie seine politische Erfahrung (er stand seit 1973 an der Spitze der CDU) es ihm ermöglichten, den Umbrüchen seiner Zeit entgegenzutreten und diese zu seinem Vorteil und dem der Bundesrepublik Deutschland zu nutzen. So wurde er zu einem der wichtigsten Architekten des heutigen Europas. Dabei standen ihm eine Reihe bemerkenswerter Berater zur Seite.
Erwähnenswert ist jedenfalls, dass es dem bereits schwer erkrankten Präsidenten Georges Pompidou im schwierigen Herbst 1973 nach dem Yom-Kippur-Krieg ein wichtiges Anliegen war, dem neuen CDU-Vorsitzenden die Hintergründe seines Denkens zu erklären. Das Gespräch, das er ihm am 15. Oktober 1973 gewährte, ging weit über einfache protokollarische Gepflogenheiten hinaus. Er erklärte, wie nach seiner Vorstellung die deutsche Frage, die Gestaltung Europas, das Ost-West-Problem und die sowjetische Gefahr zusammenhingen; er legte seine tiefsten Überzeugungen offen, die viel subtiler waren als die der meisten Entscheidungsträger. Er empfahl Geduld und Pragmatismus.
„Lasst uns ruhig auf der Straße nach Europa galoppieren, aber Europa wird noch lange sehr fragil bleiben. Deswegen denke ich letztlich, es ist effizienter, die Kontakte zu verstärken, die Interessen zu vermischen, Menschen, Geschäfte, alles miteinander zu verbinden, als Dokumente zu unterzeichnen…“
Eine Lektion in visionärem Pragmatismus – so könnte man diese Worte bezeichnen. Kohl, der noch zurückhaltend war und seinen ersten internationalen Kontakten große Bedeutung beimaß, erkannte hier zweifellos die Übereinstimmung mit seinen eigenen Grundüberzeugungen. Sein politisches Werk sollte jedenfalls in die gleiche Richtung gehen. Letztlich war er als europäischer Föderalist und Atlantiker weniger ideologisch als zahlreiche Verantwortungsträger der CDU der vorherigen Generation, was seine Beziehung zu Frankreich erleichterte.
Alles in allem ermöglichten es die deutsch-französischen Beziehungen in der Ära Kohl den beiden Ländern, trotz Höhen und Tiefen und einer Krise während der Wiedervereinigung im Jahr 1989, den anderen Europäern die Einheitliche Europäische Akte von 1986, den Vertrag von Maastricht 1992 und die einheitliche Währung vorzuschlagen; all dies sind noch heute die wichtigsten Grundlagen der Europäischen Union. Die Rolle Helmut Kohls war nicht einzigartig, aber mit Sicherheit entscheidend.
Anfangs deutete nichts darauf hin, dass sich zwischen Kohl und François Mitterrand, der seit 1981 französischer Staatspräsident war, eine positive, effiziente Beziehung entwickeln könnte. Und doch begann sie mit der berühmten Rede des französischen Präsidenten am 20. Januar 1983 vor dem Bundestag – mitten in der Krise um die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland. Die Unterstützung des französischen Staatschefs – der zu allem Überfluss auch noch Sozialist war – war für Kanzler Kohl äußerst wertvoll; er war im Wesentlichen aufgrund dieser Krise an die Macht gekommen und kämpfte nun darum, dass sein Land die Stationierung der Pershing-II-Raketen in Übereinstimmung mit dem NATO-Doppelbeschluss von 1979 akzeptierte, nachdem sich das Scheitern der Verhandlungen mit den Sowjets abzeichnete.
Die Rede vom 20. Januar 1983 bedarf jedoch der Interpretation. Mitterrand fürchtete das Abdriften der Bundesrepublik in die Neutralität, sollte der Bundestag Kanzler Kohl in der Frage der Stationierung der Pershing-Raketen in Deutschland die Zustimmung verweigern. In diesem Falle würde Moskau der wichtigste Partner der Bundesrepublik; Frankreich hingegen verlöre gleichzeitig die Kontrolle über die Entwicklung der deutschen Frage und seine privilegierte Position in Moskau, d.h. zwei entscheidende, wenn auch unausgesprochene Grundlagen seiner Sicherheit seit den 1950er Jahren.
1983 war der europäische Integrationsprozess blockiert; seit fünf Jahren stagnierte der Beitritt Spaniens und Portugals aufgrund des Widerstands Frankreichs, Italiens und Griechenlands; auch die Reform der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) kam nicht voran. Kohl und die deutsche Delegation trugen bei der Tagung des Europäischen Rates in Stuttgart im Juni 1983 wesentlich zur Auflösung der Blockade bei: die Verhandlungen mit den Ländern der iberischen Halbinsel wurden wieder aufgenommen und führten zwei Jahre später zum Erfolg; die Reform der GAP kam wieder in Gang; die Genscher-Colombo-Erklärung kündigte zum ersten Mal eine Europäische Union an, die an die Stelle der Gemeinschaften treten sollte (was 1982 in Maastricht vollendet wurde); die Grundlagen für das Schengener Abkommen im Juni 1985, das der Ausgangspunkt für die Freizügigkeit im europäischen Raum war, wurden geschaffen. In all diesen Punkten hatte sich Paris letztlich Bonn angeschlossen.
1985 veränderte sich die internationale Konjunktur; neue Faktoren traten in Erscheinung. Seit 1983 war das amerikanische Raketenabwehrprogramm SDI, wie im Übrigen die Politik Ronald Reagans insgesamt, für Paris Grund zur Besorgnis. Mitterrand sah darin die Gefahr der Abwertung der französischen Militärmacht und der militärischen Vereinnahmung des Westens durch Washington. Deshalb nahm er eine härtere Haltung gegenüber den Vereinigten Staaten ein, rief die europäische Technologie-Initiative Eureka und ein militärisches Satellitenprogramm ins Leben. Dafür benötigte er die Mitarbeit Deutschlands.
Parallel dazu ließ der Machtantritt Gorbatschows auf ein Nachlassen der Spannungen aus der Breschnew-Zeit hoffen. Frankreich konnte nunmehr gemeinsam mit Moskau die schon beschriebene Politik des Gleichgewichts umsetzen. Diese durch die Machtübernahme Gorbatschows eröffnete Perspektive, die für Mitterrand durch die Verhärtung der amerikanischen Politik noch dringlicher wurde, führte zweifellos dazu, dass Paris strategische Beziehungen mit Bonn entwickeln wollte, um die großen, weiter oben genannten Ziele zu erreichen.
In diesem Kontext fand an den Ufern des Bodensees am 28. Mai 1985 ein wichtiges Gespräch zwischen Kohl und Mitterrand statt. Der französische Präsident äußerte an diesem Tag die Idee, ein Europa der Sicherheit zu schaffen. Der unmittelbare Zweck des Treffens bestand darin, eine gemeinsame Position für den Europäischen Gipfel in Mailand einen Monat später vorzubereiten. Kohl und Mitterrand beschlossen, den Partnern beim Mailänder Gipfel einen Plan für eine Europäische Union mit einem Generalsekretariat für die politische Zusammenarbeit vorzulegen. Dieses Überraschungsprojekt mit zwischenstaatlicher Struktur ließ die Gemeinschaften außen vor und entsprach in keiner Weise dem Plan zur Vollendung des Binnenmarktes und der Perfektionierung der EWG, die für Mailand seit dem Stuttgarter Treffen auf dem Programm standen und die 1986 zur Einheitlichen Europäischen Akte führen sollten.
Es bedurfte des ganzen Geschicks der italienischen Gastgeber und der Unterstützung des neuen Kommissionspräsidenten Jacques Delors sowie zahlreicher Partner, die von der plötzlichen deutsch-französischen Initiative verärgert waren, um das ursprüngliche Programm des Mailänder Gipfels zu retten. Aber man gelangte Ende 1985 zur Einheitlichen Europäischen Akte, einer äußerst bedeutsamen Etappe, die neben der Vollendung des Binnenmarktes auch Abstimmungsverfahren mit einfacher Mehrheit einführte, die Veto-Möglichkeiten in Brüssel einschränkte und die Vorbereitung der Wirtschafts- und Währungsunion in die Wege leitete: Es war der Beginn des Prozesses, der zum Vertrag von Maastricht führte. Bemerkenswert ist, dass Kohl eine Zeit lang Mitterrand auf dem pragmatischen, zwischenstaatlichen Weg gefolgt war, der weit von dem föderalen Konzept entfernt war, das die CDU im Prinzip vertrat. Die Übereinstimmung mit Paris war für ihn wenn nicht von ausschließlicher, so doch von zentraler Bedeutung.
Kanzler Kohl war bestürzt über die Ergebnisse des amerikanisch-sowjetischen Gipfels von Reykjavik im Oktober 1986, in dessen Verlauf Reagan kurz davor gestanden hatte, den nuklearen Schutzschirm Europas aufzugeben. Ebenso bestürzt war er über das Abkommen zu Mittelstreckenraketen vom 8. Dezember 1987, das den Abbau der Pershing-II-Raketen vorsah, deren Aufstellung mit so vielen Schwierigkeiten verbunden gewesen war. Der Abzug der amerikanischen Kernwaffen aus Europa rückte in den Bereich des Möglichen. Kohl wünschte sich daher eine strategische Annäherung an Frankreich, wo seit 1986 Jacques Chirac als Premierminister einer bürgerlichen Regierung in Cohabitation mit dem sozialistischen Präsidenten regierte. Chirac war einem stärkeren strategischen Engagement Frankreichs gegenüber Europa und der Bundesrepublik nicht abgeneigt.
So kam es im Juni 1987 zum Vorschlag Kohls, eine deutsch-französische Brigade aufzustellen, gefolgt von einem zweiten Vorschlag im September 1987, einen deutsch-französischen Verteidigungsrat zu gründen, in dem die obersten Behörden in einem Ständigen Ausschuss zusammenarbeiten sollten. Zu diesem Zeitpunkt jedoch stellten die Franzosen eine wesentliche Bedingung: Sie akzeptierten den Verteidigungsrat nur, wenn parallel dazu ein Wirtschafts- und Währungsrat eingesetzt würde. Folgende Gedanken lagen dieser Haltung zugrunde: Nach den wirtschaftlichen und finanziellen Fehlentscheidungen der Jahre 1981 bis 1983 hatte man sich in Paris 1983 für die Stabilisierung der Währung entschieden. Dafür musste man sich an die D-Mark binden. Wenn man nun die Parität zwischen D-Mark und Franc ohne Schaden für die französische Wirtschaft aufrechterhalten wollte, musste man die Möglichkeit haben, auf die Steuerung der D-Mark und der deutschen Zinssätze einzuwirken.
Im November 1987 wurde beim Gipfeltreffen in Karlsruhe sowohl die Gründung einer deutsch-französischen Brigade als auch die der beiden Räte am 22. Januar 1988 verkündet, und zwar auf der Rechtsgrundlage des Elysée-Vertrages, der auf diese Weise mit neuem Leben erfüllt wurde.
Auf der anderen Seite fingen die Deutschen 1988 an, sich mit den möglichen Perspektiven der Gorbatschow-Politik auseinanderzusetzen. Sie glaubten an weitreichende Entwicklungen in Osteuropa. Die deutsche Regierung, die nicht allein in der ersten Reihe stehen wollte, versuchte, Paris von einer gemeinsam definierten Politik und einer gemeinsamen Handlungsweise gegenüber der UdSSR und Osteuropa zu überzeugen. Wahrscheinlich war nie seit den Jahren 1960 bis 1964 die Möglichkeit einer umfassenden politisch-strategischen Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern greifbarer gewesen.
Aber es sollte nicht sein; die unausgesprochenen Motive waren auf beiden Seiten zu unterschiedlich. Paris weigerte sich, eine gemeinsame Ostpolitik zu definieren – nicht etwa, weil die französischen Politiker in diese Richtung nicht hätten handeln wollen, im Gegenteil. Doch es kam nicht infrage, dies mit den Deutschen gemeinsam zu tun, oder besser gesagt, mit den Deutschen wollte man es am allerwenigsten. Tatsächlich wollte Frankreich über seine Beziehung zu Gorbatschow die Entwicklungen in der Bundesrepublik mit kontrollieren. Das Bild von Europa, das man im Kopf hatte, war in den beiden Hauptstädten nicht das Gleiche. Daher ist es nicht verwunderlich, dass beide Länder 1989/90, zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung, nicht miteinander im Gleichklang waren.
Offiziell hielt Paris sich natürlich an die Linie, die die drei Westmächte seit ihrer Erklärung von 1954 anlässlich der Pariser Verträge durchgängig vertreten hatten: Das deutsche Volk hatte ein Recht auf Selbstbestimmung und Wiedervereinigung durch freie Wahlen. Dennoch hielt sich der Enthusiasmus in Grenzen, und man war im Grunde gedanklich schlecht vorbereitet auf den Mahlstrom von 1989/90. Nur sehr wenige verstanden, dass der sowjetische Kommunismus zu Ende ging und die DDR sich auflöste. Der Präsident wurde nicht gut beraten, und das Außenministerium am Quai d’Orsay lag mit seiner allgemeinen Einschätzung völlig daneben.
Der persönliche Stab des Präsidenten im Elysée war ebenfalls nicht besonders hilfreich, wenn es darum ging, ihn über die Entwicklungen in Deutschland auf dem Laufenden zu halten. Seine Mitglieder waren hauptsächlich mit Kleinstproblemen der EWG und dem Programm der Wirtschafts- und Währungsunion beschäftigt, das beim Gipfel von Straßburg Anfang Dezember auf der Tagesordnung stand. Man stellte einfach nur eine Verschlechterung der Beziehungen mit der Bundesrepublik seit dem Frühjahr fest. Diese Haltung half Paris und Bonn in diesem Moment großer Spannungen im internationalen System sicher nicht dabei, einen fruchtbaren Austausch zu pflegen.
François Mitterrand war jedoch klug genug, niemals in der Öffentlichkeit das theoretische Recht der Deutschen auf eine Wiedervereinigung infrage zu stellen, vorausgesetzt, der Prozess verlief friedlich, demokratisch, in Abstimmung mit den Nachbarn (vor allem Polen) und den Vier Mächten sowie unter Berücksichtigung der Sicherheitserfordernisse in Deutschland (vor allem der Vorgabe, dass Deutschland nicht über Atomwaffen verfügen sollte). Diese öffentliche Haltung, mit der er die Wiedervereinigung im Prinzip akzeptierte, diese jedoch an Vorsichtsmaßnahmen und Vorbehalten knüpfte, veränderte sich zwischen November 1989 und März 1990 so gut wie gar nicht. Hinter verschlossenen Türen und gegenüber einigen ausländischen Gesprächspartnern äußerte sich François Mitterrand seit ein paar Monaten zu diesem Thema. Er zeigte sich hier weitaus reservierter als in der Öffentlichkeit. Gegenüber dem amerikanischen Präsidenten George Bush sagte er im Mai 1989, dass die UdSSR die Wiedervereinigung niemals dulden werde, und bei dieser Beurteilung der Situation blieb er über viele Monate.
Aber François Mitterrand verstand auch, dass sich die UdSSR unter Gorbatschow veränderte. Zur damaligen Zeit warf die Opposition ihm vor, dass er nichts habe kommen sehen und ständig überfordert sei, wohingegen François Mitterrand über seine Mitarbeiter natürlich das Gegenteil verbreiten ließ. Sagen wir es so: Er war zwar sicherlich kein Prophet, aber er verstand schneller als Margaret Thatcher die Umwälzungen der Zeit.
Mit zeitlichem Abstand und anhand der Archive kann man heute sagen, dass der Präsident vom 9. November an eine komplexe Entwicklung durchmachte, oder, genauer gesagt, dass seine Gedankengänge sich auf verschiedenen Ebenen weiter entwickelten – manchmal in komplementärer, oft auch in widersprüchlicher Form. Anfangs konnte er, beispielsweise in seinen Gesprächen mit Margaret Thatcher oder in seinen Kommentaren auf Dokumenten, die ihm vorgelegt wurden, seine mangelnde Begeisterung kaum verbergen. Die Wiedervereinigung könne allenfalls nach einem langen Zeitraum von zehn bis 20 Jahren ins Auge gefasst werden. Vor diesem Hintergrund muss auch sein Staatsbesuch in Ost-Berlin Ende Dezember 1989 gewertet werden.
Er war nicht glücklich über das Zehn-Punkte-Programm, das Kanzler Kohl am 28. November verkündet hatte, und weniger noch über die Tatsache, dass dieser es im letzten Moment aus dem Hut gezogen hatte, ohne irgendjemanden darüber zu informieren (wobei er schwerlich die Franzosen hätte informieren können, da sein eigener Außenminister Genscher nichts davon wusste). Selbst als Mitterrand sich dem Unvermeidlichen beugen und voranschreiten musste, war er immer noch unwillig und versuchte, den Verlauf der Ereignisse abzubremsen oder flankierende Maßnahmen zu erreichen.
Auch wenn François Mitterrands Befindlichkeiten für einen Franzosen seiner Generation verständlich sein mögen, fallen sie doch gegenüber seiner Bewertung der Situation und seiner Strategie weniger ins Gewicht. So gesehen war die eigentliche Frage für ihn, ob Gorbatschow die Wiedervereinigung blockieren wollte und könnte – oder eben nicht. Er verstand jedoch nicht sofort, dass Kohl, als er am 3. Dezember 1989 im Rahmen des NATO-Gipfels Bush traf, der wiederum gerade von seinem Treffen mit Gorbatschow in Malta kam, die Rückendeckung der Amerikaner für die Wiedervereinigung gewonnen hatte. Der Rest war nicht weiter von Bedeutung.
Die deutsch-französischen Beziehungen jener Zeit waren alles andere als herzlich. Aber eine informelle Dialogstruktur, im Rahmen derer man sich alles sagen konnte, ermöglichte weiterhin die Aufrechterhaltung des Austauschs zwischen beiden Regierungen. 1984 war von einigen europäischen Persönlichkeiten – darunter Joseph Rovan, einem ausgewiesenen Deutschlandkenner und guten Freund Helmut Kohls – die Association Cassiodore gegründet worden. Ziel des Zusammenschlusses, der Diplomaten, Akademiker, Journalisten und Politiker vereinte, war die Neubelebung der europäischen Idee in einer Zeit des „Europessimismus“.
Die Association trat nicht öffentlich auf, doch sie spielte eine zwar diskrete, aber gleichwohl wichtige Vermittlerrolle in den Beziehungen zwischen dem Frankreich François Mitterrands und dem Deutschland Helmut Kohls, dank der guten Verbindungen zwischen einigen ihrer Mitglieder im Elysée und im Kanzleramt – Horst Teltschik, Michael Stürmer und Joachim Bitterlich waren enge Mitarbeiter des Kanzlers und aktive Mitglieder von Cassiodore – und auch mit Brüssel und Jacques Delors. Die Association hielt in den schwierigen Monaten von November 1989 bis März 1990 die direkte Verbindung aufrecht, als der offizielle Dialog wenig produktiv war, und sie spielte in der Folge bei der Vorbereitung des Vertrags von Maastricht eine wichtige Rolle.
Von den verschiedenen damaligen Initiativen François Mitterrands zur Wiedererlangung der Kontrolle über die Situation sollte nur eine zum Erfolg führen und sich dauerhaft etablieren: die neue Etappe der europäischen Integration, beschlossen mit dem Vertrag von Maastricht von 1992. Die Archive des Elysée zeigen, dass Paris bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt darüber nachdachte, die Vertiefung der EWG zu fördern, um der Wiedervereinigung Deutschlands einen Rahmen zu geben. Am 15. März 1990, drei Tage vor der Wahl in der DDR, traf Elisabeth Guigou, Beauftragte für Europaangelegenheiten im Kabinett Mitterrand, zwei Mitarbeiter Kohls, Horst Teltschik und Joachim Bitterlich. Von ihnen erfuhr sie, dass der Kanzler eine gemeinsame deutsch-französische Initiative beim nächsten Gipfel in Dublin unterstützen wolle. Diese Initiative war seines Erachtens notwendig, um das durch die Wiedervereinigung geschaffene Misstrauen zu überwinden und um in Deutschland Zustimmung zu finden für die anstehende Wirtschafts- und Währungsunion. Am Rande des Gesprächsprotokolls von Elisabeth Guigou notierte der Präsident sein Einverständnis. So begann der Weg, der 1992 zum Vertrag von Maastricht führen sollte.
Die Umwandlung der Gemeinschaften in die Europäische Union stellte einen entscheidenden Schritt dar: die Gründung der Wirtschafts- und Währungsunion mit einer gemeinsamen Währung und der Europäischen Zentralbank. Durch den Vertrag wurde auch der „dritte Pfeiler“ geschaffen (neben dem Gemeinschaftsbereich und der Währungsunion), der auf der zwischenstaatlichen Kooperation in zwei neuen Bereichen gründete: bestimmte Fragen der Innenpolitik (Justizangelegenheiten, Kontrolle der Außengrenzen der Union, Einwanderung von Nicht-Europäern) und, das war einer der wesentlichen Punkte, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Die großen Richtungen dieser Politik sollten vom Europäischen Rat festgelegt werden, allerdings mit Einstimmigkeit, was die Effizienz deutlich reduzierte, wie man sehr schnell anlässlich der Krise in Jugoslawien erkennen konnte. Dies war aber das Ergebnis eines Kompromisses zwischen dem deutschen Vorschlag (ein echter Bundesstaat mit Mehrheitsentscheidungen, auch im Bereich der GASP) und den sehr viel vorsichtigeren französischen Vorstellungen. Ein zweiter Kompromiss wurde ebenfalls auf Wunsch Berlins aufgenommen: Die GASP sollte nicht außerhalb des Atlantischen Bündnisses konzipiert werden, sondern in Kooperation mit diesem.
Die Wirtschafts- und Währungsunion wurde anfangs von Paris gewünscht, um dem Druck der hohen Zinssätze der Bundesbank zu entgehen, während die Bundesrepublik fürchtete, durch die Länder mit lockerer Geldpolitik in die Inflation getrieben zu werden und daher der Union eher ablehnend gegenüberstand. Kanzler Kohl, der auf internationaler Ebene Europa mit der Unterstützung Frankreichs voranbringen musste, gab letztlich sein Einverständnis, jedoch unter der Bedingung, dass der Euro wie früher die D-Mark gesteuert werde: mit einer von den Regierungen unabhängigen Europäischen Zentralbank, deren wichtigste Aufgabe die Bekämpfung der Inflation sein sollte. Darüber hinaus sollte ein „Stabilitätspakt“ zur Begrenzung der Staatsverschuldung der beteiligten Länder auf drei Prozent des Bruttosozialprodukts beschlossen werden.
Wie man sieht, ermöglichten der Pragmatismus Kohls und der Wunsch Frankreichs, die Initiative wieder in die Hand zu nehmen, diese entscheidenden, auf einer Reihe von Kompromissen aufgebauten Übereinkommen – Kompromisse, die sich seit dem Regierungsantritt des deutschen Kanzlers nach und nach abgezeichnet hatten.
Zwischen Paris und Berlin bestanden jedoch nach wie vor grundlegende Divergenzen, vor allem während der Krise im ehemaligen Jugoslawien, der schwersten, mit der die Europäer nach 1990 zu tun hatten. Die europäischen Staaten waren von Anfang an gespalten (die Bundesrepublik erkannte, gegen den Rat Frankreichs, 1991 Kroatien und Slowenien bedingungslos an) und waren in der Folge unentschieden zwischen einer Regelung unter der Ägide der Vereinten Nationen, politisch-militärischen, im Wesentlichen von Paris und London getragenen Aktionen, und von der Europäischen Union unterstützten Mediationsvorschlägen und Teilungsplänen. Am Ende wurde die Situation durch die Vereinigten Staaten und bewaffnete Interventionen der NATO geregelt: 1995 in Bosnien (Abkommen von Dayton) und 1999 im Kosovo.
Die Europäer mussten wieder Strategien entwickeln; das war eine der Lektionen aus dem Scheitern in der Jugoslawien-Krise. Am 9. Dezember 1996 stimmten Präsident Jacques Chirac und Kanzler Helmut Kohl einem „gemeinsamen strategischen Konzept“ zu, wobei sie gleichzeitig ihren Partnern die Stärkung des Entscheidungsprozesses innerhalb der GASP antrugen. Das Strategiekonzept sollte einer wirklichen Zusammenarbeit, einer „konzertierten Verteidigungspolitik“ und sogar einer militärischen Verflechtung beider Länder den Weg bereiten. Dieses Dokument betonte einige wesentliche Prinzipien: zunächst, dass „die Sicherheitsinteressen der beiden Länder“ untrennbar seien; dann, dass ihre Sicherheitspolitik sich in den Rahmen der „europäischen Integration“ und einer „gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik“ einfügte, dessen Rechtsgrundlage die Verschmelzung der Westeuropäischen Union (WEU) und der Europäischen Union sein sollte. Gleichzeitig sollte das atlantische Bündnis erneuert werden.
All dies beruhte auf Ideen, die Kohl schon immer vertreten hatte. Jedoch wurden die Versprechen der Nürnberger Erklärung nicht eingehalten. Chirac war zwar von 1997 an durch die lähmende Cohabitation mit einer linken Mehrheit in der Nationalversammlung stark eingeschränkt. Aber die deutschen Bedenken, die unmittelbar zutage traten, sind nicht darauf, sondern auf andere Gründe zurückzuführen. Gewisse Kreise in Berlin vermuteten in Paris strategische Hintergedanken: Einerseits begrüßte man in Deutschland einhellig die kürzliche Annäherung zwischen Frankreich und der NATO, denn sie ersparte der Bundesrepublik die äußerst unangenehme Entscheidung zwischen Paris und Washington in Sicherheitsangelegenheiten; andererseits waren manche davon überzeugt, dass Frankreich fortan einem strategischen Dreieck (britisch-amerikanisch-französisch) den Vorzug geben könnte, um die stärker gewordene Position Deutschlands in Europa und der NATO zu kompensieren. Außerdem hätten sich viele deutsche Politiker, die weniger pragmatisch waren als Kohl, eine GASP auf der Grundlage von Mehrheitsentscheidungen statt der Einstimmigkeitsregel gewünscht, was wiederum für Paris inakzeptabel war. In gewisser Weise war die Nürnberger Erklärung Helmut Kohls Schwanengesang auf die deutsch-französischen Beziehungen.
Alles in allem war Helmut Kohl recht erfolgreich und hat sich allseits verdient gemacht: Er hat erreicht, dass die Franzosen ein für alle Mal die Deutsche Einheit akzeptierten und die Bundesrepublik unterstützten, ihren Platz in Europa zu finden. All dies war geprägt von einem Klima tiefgreifender Versöhnung, symbolisiert durch das Bild von Mitterrand und Kohl, Hand in Hand in Verdun am 22. September 1984.
25 Jahre lang prägte Helmut Kohl als Vorsitzender die CDU. Als Vertreter einer neuen Politikergeneration gestaltete er den Wandel von der Honoratioren- zur Mitgliederpartei. Dabei war seine Amtszeit von sehr verschiedenen politischen Konstellationen geprägt.
Helmut Kohl war sich der Bedeutung der Vereinigten Staaten für die Sicherheit der Bundesrepublik stets bewusst. Umso mehr war er bemüht, ein belastbares Vertrauensverhältnis zu den Präsidenten Ronald Reagan, George H. W. Bush und Bill Clinton aufzubauen, was ihm auch gelang. Damit schuf Kohl die Grundlage für die Unterstützung der Amerikaner im deutschen Wiedervereinigungsprozess.
Am 9. November 1989 fiel die Mauer, die Deutschland 28 Jahre lang geteilt hatte. Es war ein Sieg der Menschen, die sich gegen das Unrechtsregime der SED aufgelehnt hatten. In den darauffolgenden Wochen handelte Helmut Kohl zielstrebig, um die Einheit in Freiheit zu vollenden.
Die Wirtschaftspolitik der Ära Kohl zerfällt in zwei Phasen: Die Zeit zwischen 1982 und 1989/90 war nach der erfolgreichen Haushaltskonsolidierung durch moderate Reformen gekennzeichnet. Nach der Wiedervereinigung begegnete die Bundesregierung den teilweise gravierenden wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Problemen mit weitreichenden Maßnahmen.
Zwei grundverschiedene Phasen kennzeichnen die Sozialpolitik der Ära Kohl. 1982 bis 1990 stehen die Konsolidierung der Sozialfinanzen und Ansätze institutioneller Reformen im Zentrum. 1990 bis 1998 dominieren die Wiedervereinigung, Fragen des Wirtschafts- und Euro-Standorts Deutschland und die Einführung der Pflegeversicherung die Sozialpolitik. Die Lehre der reformpolitischen Gelegenheiten und die Theorie des „Mittleren Weges“ erklären einen Gutteil der Sozialpolitik in der Ära Kohl.
Mit Beginn der Ära Kohl entwickelte sich die Bundesrepublik zu einem Vorreiter in der Umweltpolitik. Nach 1990 stand hingegen die Bewältigung der Folgen der Deutschen Einheit im Fokus und die nationale Umweltpolitik verlor an Dynamik.