1. November 1988: Verleihung des Internationalen Karlspreises an Helmut Kohl und François Mitterrand

Jürgen Nielsen-Sikora

Am 1. November 1988 erhalten Helmut Kohl und François Mitterrand den Internationalen Karlspreis. Im Krönungssaal des Aachener Rathauses würdigt man ihr Streben um eine dauerhafte Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich. Die Europäische Gemeinschaft sei durch den deutschen Bundeskanzler und den Präsidenten der Französischen Republik weiter gestärkt worden, heißt es in der Begründung des Direktoriums. Die europäische Einigung gilt beiden als zentrale politische Aufgabe zur Lösung gegenwärtiger Probleme. Kohl und Mitterand wirken als Motor der Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft. „Die verlassene Baustelle“ Europa, von der Mitterrand 1984 sprach, haben sie aus einer der schwersten Krisen ihrer Geschichte geführt und der Einigung neue Impulse gegeben.

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Der Karlspreis

Der Karlspreis ist nach Karl dem Großen (748-814) benannt, dessen Lebensgeschichte eng mit der der Stadt Aachen verbunden ist. Ende des achten Jahrhunderts baut Karl hier den väterlichen Königshof zu einem Zentrum der Gelehrten aus und macht ihn zur Reichsresidenz, zur Hauptstadt seines Imperiums. Der Karlspreis wird seit 1950 an herausragende Persönlichkeiten Europas verliehen. Erster Preisträger ist der Gründer der Paneuropa-Bewegung Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi in Anerkennung für sein Lebenswerk. Die Idee zum Karlspreis geht auf den Aachener Kaufmann Kurt Pfeiffer zurück. 1946 gründet er den Lesekreis Corona Legentium Aquensis. Der Kreis organisiert Ausstellungen und Vorträge über Politik, Kultur und Wissenschaft in der Grenzregion. Vor diesem intellektuellen Zirkel skizziert Pfeiffer im Dezember 1949 seine Motivation, einen Preis für Völkerverständigung auszuloben: Kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges will er mit dazu beitragen, einen dauerhaften Frieden in Europa zu ermöglichen: „Wir haben uns ... mit der Frage der Verantwortung der älteren, lebenden Generation befaßt und sind zu der Meinung durchgedrungen, daß wir ... die Pflicht haben, im Rahmen unserer Möglichkeiten auf die Gestaltung unserer Zukunft einzuwirken. Unsere Stadt Aachen war einmal geistiges und politisches Zentrum des ganzen westeuropäischen Raumes von den Pyrenäen bis zur slawischen Sprachgrenze, und sie glaubt, Anspruch darauf zu haben, auch auf Grund ihrer natürlichen Aufgabe, als alte Grenzstadt ausgleichend zu wirken und die Grenzen zu überwinden, besonders gehört zu werden.“ Der Preis ist als ein Beitrag zur westeuropäischen Verständigung und Gemeinschaftsarbeit gedacht. Doch nicht nur eine Ehrung für Vergangenes, sondern ebenso Ansporn und Verpflichtung für die Zukunft soll die Auszeichnung sein. In wenigen Jahren wird der Karlspreis zu der renommiertesten Auszeichnung für die Verdienste um Europas Einigung. Zu den Preisträgern gehören bis heute unter anderen Alcide de Gasperi, Jean Monnet, Konrad Adenauer, Robert Schuman, Karl Carstens, Roman Herzog und Angela Merkel. Der Preis, obgleich anfangs nur gering und inzwischen überhaupt nicht mehr dotiert, erfreut sich weltweit höchster Anerkennung.

Die Preisträger

Helmut Kohl wird am 3. April 1930 in Ludwigshafen geboren. Er wächst in einem streng katholischen Elternhaus auf. Über die aus Ludwigshafen stammende Mutter findet die Familie in der Pfalz ihr Zuhause. 1950 beginnt er das Studium der Geschichte, der Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten Frankfurt am Main und Heidelberg. 1958 promoviert er in Geschichte. Von 1959 bis 1979 ist er Abgeordneter für die CDU im Landtag von Rheinland-Pfalz. 1963 wird er Fraktionsvorsitzender, 1966 CDU-Landesvorsitzender und 1969 Ministerpräsident seines Landes. 1973 wird Helmut Kohl zum CDU-Parteivorsitzenden gewählt, ein Amt, das er bis 1998 innehat. 1976 ist er Kanzlerkandidat der CDU/CSU und zieht erstmals als Abgeordneter in den Bundestag ein. Als sich die Krise der sozialliberalen Koalition aufgrund des anstehenden NATO-Doppelbeschlusses und wirtschaftspolitischer Differenzen zuspitzt, kommt es 1982 zum ersten erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotum gegen einen Bundeskanzler: Helmut Kohl wird am 1. Oktober 1982 zum sechsten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Das Amt bekleidet er bis 1998.

François Mitterrand wird am 26. Oktober 1916 in Jarnac (Département Charrante) geboren. Er wächst als fünftes von sieben Kindern eines Stationsvorstehers und späteren Essigfabrikanten in der südwestfranzösischen Provinz auf. Mitterrand studiert Soziologie und französische Literatur in Paris. 1937 erhält er das Diplom der École libre des sciences politiques und meldet sich zum Militärdienst bei der französischen Infanterie. 1940 gerät er in deutsche Gefangenschaft, flieht und schließt sich der Widerstandsbewegung an. 1946 wird er Abgeordneter (PS) in der französischen Nationalversammlung, 1959 Bürgermeister von Château-Chinon. Von 1981 bis 1995 ist er französischer Präsident. Mitterrand stirbt am 8. Januar 1996.

Beide fühlen sich, so Richard von Weizsäcker in seiner Aachener Laudatio, der Geschichte verpflichtet. Beide sind von ihrer Heimat geprägt. Beide wenden sich leidenschaftlich der Politik zu: Helmut Kohl und François Mitterrand erhalten den Preis in Würdigung ihres Lebenswerks. Beide setzen sich, so der Text der Urkunde, für die Vereinigten Staaten von Europa ein.

Deutsch-französische Zusammenarbeit

Das deutsch-französische Tandem gilt seit Mitte der 1980er Jahre als Motor der europäischen Integration. Die anfängliche gegenseitige Skepsis löst sich rasch auf. Bereits 1983 unterstützt Mitterrand Kohl in dessen Haltung zum NATO-Doppelbeschluss, um die militärische Stärke der Sowjetunion in Europa einzudämmen. Symbolträchtig ist das Treffen der beiden Staatsmänner am 22. September 1984 in Verdun: Hand in Hand gedenken sie der in den Weltkriegen gefallenen Soldaten. Sie arbeiten fortan gezielt am Aufbau der Europäischen Gemeinschaften in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht. Europa soll international konkurrenzfähig bleiben. Ein entscheidender Beitrag hierzu ist die Einheitliche Europäische Akte, die maßgeblich von beiden initiiert wird. Sie gilt als Vorstufe der Vollendung des europäischen Binnenmarktes durch die Wirtschafts- und Währungsunion, die im Zuge der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrags 1992 beschlossen wird. Im kulturellen Bereich werden im Jahr der Preisverleihung ebenfalls wichtige Schritte unternommen: Der deutsch-französische Fernsehsender Arte wird ins Leben gerufen, der deutsch-französische Kulturrat geht an den Start, und eine deutsch-französische Brigade, so die Vereinbarung, wird auch aufgebaut. Aus dieser Vereinbarung geht wenige Jahre später das Eurokorps hervor. Die Verleihung des Karlspreises 25 Jahre nach Unterzeichnung des Elysée-Vertrags durch Konrad Adenauer und Charles de Gaulle ist auch eine Hommage an die deutsch-französische Freundschaft: „Für Französisch-Deutsche Freundschaft und Europas Zukunft“ heißt es im Text der Medaille, die beiden überreicht wird. In Ergänzung des Elysée-Vertrags setzen Kohl und Mitterrand 1988 den Verteidigungs- und Sicherheitsrat ein. Auch ein Umwelt-, Finanz- und Wirtschaftsrat werden etabliert.

Europas Wandel gestalten

Bereits zwei Tage nach der Verleihung treffen sich die Preisträger erneut zu bilateralen Gesprächen in Bonn. Es ist das erste Gipfeltreffen nach den Präsidentschaftswahlen in Frankreich am 8. Mai 1988, die Mitterrand mit 54% der Stimmen gegen seinen Herausforderer Jacques Chirac für sich entscheiden konnte. Die vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni 1988 beenden zwar die Kohabitation, in der die Parlamentsmehrheit aus einem anderen politischen Lager als der Präsident selbst stammt, die Sozialisten verfehlen jedoch knapp die absolute Mandatsmehrheit. Sie sind auf die Unterstützung der Kommunisten und unabhängiger Abgeordneter angewiesen. Am 18. Juli kommt der französische Ministerpräsident Michel Rocard an den Rhein. In dem dreistündigen Meinungsaustausch mit dem Bundeskanzler geht es insbesondere um die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaften. Knapp drei Monate später, am 14. Oktober, diskutieren Kohl und Mitterrand in Vézelay. Im Raum steht der Verdacht, die Sowjetunion versuche, Deutschland und Frankreich gegeneinander auszuspielen. Auch die gemeinsame Brigade scheint in Moskau Unmut hervorzurufen. Betrachtet man die deutsch-französische Situation jener Tage, so kann man die Sowjetunion nicht außer Acht lassen. Helmut Kohls Besuch bei Michail Gorbatschow Ende Oktober 1988 soll unter anderem Klarheit in die von Moskau erhobenen Vorwürfe bringen. Das Treffen markiert nicht weniger als den Wendepunkt der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Beide Staaten zeigen sich entschlossen, die politischen Beziehungen enger zu gestalten. Auch auf persönlicher Ebene scheint das Eis zwischen dem Bundeskanzler und dem Generalsekretär der KPdSU gebrochen. Insgesamt vier Tage ist Kohl zu Gast in Moskau und spricht die deutsche Frage und die Rolle West-Berlins an. Allerdings hält sich Gorbatschow diesbezüglich bedeckt. Einen Durchbruch bedeutet jedoch seine Zusage, alle politischen Gefangenen binnen Jahresfrist freizulassen. Auch mit Blick auf die Wirtschaftsreform, die Verfassungsreform und die Personalpolitik zeigt sich eine fortschreitende Liberalisierung der Sowjetunion unter Gorbatschow.

Helmut Kohl und François Mitterrand wollen den sich in ersten Konturen abzeichnenden Wandel in Europa weiter aktiv mitgestalten. Die Voraussetzungen sind gegeben. Beide kennen sich aus zahllosen Begegnungen. Schon im Frühjahr 1988 kommt der Franzose nach Deutschland. Bei einem informellen Treffen am 14. März 1988 in Durbach bei Offenburg bereiten beide die Tagung des Europäischen Rates vor. Nun, Anfang November, stehen die Ergebnisse von Kohls Besuch in Moskau sowie Abrüstungsfragen im Fokus des deutsch-französischen Dialogs. Mit Mitterrand vereinbart Kohl in Bonn darüber hinaus ein gemeinsames Konzept für die Fortschreibung der europäischen Währungsunion. Auch die Minister führen im Rahmen des Elysée-Vertrags Gespräche über ein deutsch-französisches Forschungsprogramm sowie über Steuerharmonisierungen. Für Helmut Kohl steht dieser Herbst ganz im Zeichen der europäischen Zusammenarbeit und einer gemeinsamen Zukunft des europäischen Hauses. In seinen Erinnerungen greift er die Worte seiner Rede an Allerheiligen 1988 auf und schreibt mit Blick auf die Geschichte Europas: „Die Verleihung des Karlspreises an Jean Monnet 1953 und an Konrad Adenauer 1954 stand noch ganz im Zeichen der deutsch-französischen Aussöhnung. Dieses Werk war längst vollendet, und jeder verstand, dass ich mich an jenen Tag erinnerte, an dem François Mitterrand und ich gemeinsam die Grabfelder von Verdun besucht und uns vor dem Ossuaire von Douaumont die Hand gereicht hatten. Zwischen Deutschen und Franzosen ist Freundschaft und Partnerschaft gewachsen, sie fanden zusammen in gemeinsamer Arbeit für Europa.“ Der Karlspreis, der 1988 zum ersten Mal an einen Deutschen und einen Franzosen gemeinsam verliehen wird, hat diese Arbeit gebührend gewürdigt und sie zur weiteren Aufgabe für die Zukunft Europas gemacht. Nur wenige Monate danach beginnt die Friedliche Revolution in der DDR. Ein Jahr später fällt die Berliner Mauer und beendet die Teilung Europas. Und die Grenzen zu überwinden - das war und ist die Hoffnung, die mit der Verleihung des Internationalen Karlspreises einhergeht.

  • 50 Jahre Internationaler Karlspreis zu Aachen. Aachen 2000.
  • Helmut Kohl: Erinnerungen 1982-1990. München 2005.
  • Hans-Peter Schwarz: Helmut Kohl. Eine politische Biographie. München 2012.

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