* geboren 26.10.1916
in
Jarnac
† gestorben 08.01.1996
in
Paris
Jurist, Politiker, Staatspräsident
1926-1934 | Besuch des Collège Saint-Paul in Angoulême |
1934 | Studium in Paris; Erwerb eines Lizentiats der Rechte und der Literaturwissenschaft, eines Diploms im Öffentlichen Recht und eines Diploms der École libre des sciences politiques |
1939 | Soldat, 1940 Verwundung und deutsche Gefangenschaft, 1942 Flucht, danach Mitarbeit in der Résistance |
17.08.1944 | Teilnahme an der ersten Kabinettssitzung im befreiten Paris als Generalsekretär für die Kriegsgefangenen, Deportierten und Flüchtlinge |
1945 | Mitglied der „Union démocratique et socialiste de la Résistance“ (UDSR) |
1946-1981 | Mitglied des Parlaments als Abgeordneter des Départements von Nièvre (bis auf vier Monate im Jahr 1958) |
1947 | Minister für Frontkämpfer und Kriegsopfer im Kabinett Ramadier |
1947-1948 | In der gleichen Position im Kabinett Schuman, danach Staatssekretär in den Regierungen Marie, Schuman und Queuille |
1950-1951 | Leiter des Überseeministeriums |
Jan. -März 1952 | Staatsminister in der Regierung Edgar Faure |
28.06.-Sep. 1953 | Mitglied im Kabinett Laniel |
Juli-Sep. 1953 | Delegierter beim Europarat |
Nov. 1953 | Vorsitzender der UDSR |
Juni 1954-Feb. 1955 | Innenminister im Kabinett Pierre Mendès-France |
1956-1957 | Justizminister in der Regierung Guy Mollet |
1959-1962 | Senator des Départements Nièvre |
1959-1981 | Bürgermeister von Château-Chinon |
1964-1981 | Vorsitzender des Generalrates des Départements Nièvre |
1965-1968 | Vorsitzender der „Fédération de la gauche démocrate et socialiste“ (FGDS) |
1971-1981 | Erster Sekretär der neu konstituierten Sozialistischen Partei (P.S.) |
1974 | Niederlage in der Präsidentschaftswahl gegen Valéry Giscard d'Estaing |
1981-1995 | Staatspräsident |
„Unsere gesellschaftlichen Vorstellungen, unser politisches Engagement und, wer weiß, unsere Charaktere: alles mußte uns a priori trennen“, schrieb François Mitterrand am Ende seines Lebens über Helmut Kohl. „Wir waren eigentlich überhaupt nicht ‚füreinander geschaffen‘“, bestätigte Kohl einige Jahre später auf einer Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung. Dass der sozialistische Staatspräsident und der christdemokratische Bundeskanzler die deutsch-französischen Beziehungen wie auch die europäische Einigung in den 1980er- und 1990er-Jahre auf ein neues Niveau heben sollten, war keineswegs selbstverständlich. Heute werden sie zu Recht zu den Vätern Europas gezählt.
Mitterrand entstammte einer bürgerlichen und republikanisch-patriotischen Familie aus Jarnac, einem winzigen Städtchen im Südwesten Frankreichs. Nach dem Abitur 1934 zog er nach Paris, um Rechts- und Politikwissenschaften zu studieren. Welch Geistes Kind er damals war, verdeutlichten sein Beitritt zur Jugendbewegung des rechtsnationalistischen Frontkämpferverbandes „Croix-de-feu“ 1934 und seine Euphorie über den Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939. Im Juni 1940 geriet Mitterrand in deutsche Kriegsgefangenschaft, aus der er Ende November 1941 entfliehen konnte. Obwohl sich der État français des Marschalls Philippe Pétain der Kollaboration mit Hitler-Deutschland verschrieben hatte, trat Mitterrand Anfang 1942 in die Dienste der Vichy-Regierung ein. Erst im Frühjahr 1943 schloss er sich der Résistance an und stieg zum Chef sämtlicher Widerstandsgruppen der ehemaligen Kriegsgefangenen auf.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zog es Mitterrand in die Politik. Ende 1946 errang er einen Sitz in der Nationalversammlung. Mitterrand trat der Union démocratique et socialiste de la Résistance (UDSR) bei und diente elf Regierungen der IV. Republik als Staatssekretär oder Minister. Mit der Machtübernahme Charles de Gaulles 1958 erlitt seine Karriere einen herben Rückschlag. Mitterrand verlor sein Abgeordnetenmandat und sah sich genötigt, in seinem erlernten, aber bisher nie ausgeübten Beruf des Rechtsanwalts zu arbeiten. Als Bürgermeister von Château-Chinon und Senator des Département Nièvre in der Region Bourgogne-Franche-Comté verschaffte er sich politisch eine neue Basis. Nach der Rückkehr in die Nationalversammlung 1962 legte sich Mitterrand mehr und mehr ein linkes Profil zu, weil er glaubte, de Gaulle nur so die Macht entreißen zu können. Vehement kritisierte er die vom General mit Bundeskanzler Konrad Adenauer geschmiedete „Achse Paris-Bonn“ wie auch den Aufbau der französischen Atomstreitkraft Force de frappe. Doch bei den Präsidentschaftswahlen 1965 stimmte die Mehrheit der Franzosen nicht für den Herausforderer, sondern für den Amtsinhaber. Wenn Mitterrand die Bundesrepublik auch als wichtigsten Bundesgenossen Frankreichs in Europa ansah, blieb sie für ihn stets ökonomisch ein Konkurrent und aufgrund der deutschen Teilung ein Unsicherheitsfaktor. „Die Einheit Deutschlands bedeutet Krieg“, hatte er bereits 1952 öffentlich gewarnt.
1971 eroberte Mitterrand den Vorsitz des von ihm mitgegründeten Parti socialiste (PS) und stieg in der Nationalversammlung zum Oppositionsführer auf. Doch sein Traum von der Präsidentschaft sollte sich 1974 abermals nicht erfüllen. Nicht nur bei Bundeskanzler Helmut Schmidt, auch beim CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl hielt sich das Bedauern über Mitterrands Niederlage in der Stichwahl gegen Valéry Giscard d’Estaing in engen Grenzen. Dass Mitterrand in den folgenden Jahren einen parteipolitischen Brückenschlag zu den Kommunisten wagte, eine Allianz mit den südeuropäischen Linksparteien zu begründen versuchte und Kontakte zur SED aufnahm, sollte die Sympathien für ihn im politischen Bonn nicht eben mehren. Sein unerwarteter Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 1981 löste denn auch am Rhein erhebliche Unruhe aus. Als Frankreichs neuer Staatschef kurz darauf vier kommunistische Minister in seine Regierung berief, drohte der von Schmidts Vorgänger Willy Brandt so gerühmten „Entente élémentaire“ erhebliches Ungemach.
Der Sturz Helmut Schmidts am 1. Oktober 1982 war nicht dazu angetan, Besserungen zu erwarten. Denn mit Helmut Kohl zog nun ein Mann ins Bonner Kanzleramt ein, der die deutsch-französische Zusammenarbeit ganz in der Tradition Adenauers und de Gaulles als Angelpunkt der europäischen Einigung begriff. Die deutsch-französische „Achse“ war seines Erachtens umso mehr gefragt, als sich die Europäische Gemeinschaft in einem beklagenswerten Zustand befand und der Ost-West-Konflikt aufgrund des NATO-Doppelbeschlusses und des Einmarsches der Sowjetunion in Afghanistan in einen „zweiten Kalten Krieg“ (Fred Halliday) umzukippen drohte.
Angesichts der internationalen Verwerfungen war es nicht eben förderlich, dass dem neuen Bundeskanzler der französische Staatspräsident persönlich völlig unbekannt war. Kohl hatte als Vorsitzender der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag und Chef der CDU zwar Kontakte zu den Staatspräsidenten Georges Pompidou und Valéry Giscard d’Estaing, nicht aber zum Oppositionsführer und nunmehrigen Staatschef Mitterrand gepflegt. Um diesen unerquicklichen Zustand schnellstmöglich zu beenden, machte sich der Kanzler drei Tage nach seiner Ernennung auf den Weg an die Seine. Sein Blitzbesuch im Elysée-Palast und ein drei Wochen später stattfindendes Treffen mit Mitterrand im Kanzleramt legten indes, wie Kohl vor der Unionsfraktion offen eingestand, „eine ganze Unmenge von Problemen“ frei. Abgesehen von ihren so unterschiedlichen politischen Werdegängen und Präferenzen, zählten dazu insbesondere das ökonomische Ungleichgewicht zwischen der Bundesrepublik und Frankreich, Kohls Drängen auf eine Mitsprache bei der französischen Nuklearstrategie, aber auch Mitterrands fortgesetzte Vorbehalte gegenüber der „deutsch-französischen Achse“.
Kurz nach dem Jahreswechsel wurde die „Unmenge von Problemen“ noch durch innenpolitische Schwierigkeiten der beiden Nachbarn angehäuft. Frankreich sah sich währungspolitischer Turbulenzen ausgesetzt, und in der Bundesrepublik beschwor die Debatte über den NATO-Doppelbeschluss die Gefahr eines deutschen National-Neutralismus herauf. Mitte Januar 1983 sprach sich Mitterrand in einer aufsehenerregenden Bundestagsrede für die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden aus und stärkte damit Kohl im innerdeutschen Streit über den NATO-Doppelbeschluss den Rücken. Im Gegenzug bewahrte der Kanzler den Präsidenten wenige Monate später mit einer massiven Finanzspritze vor einem Austritt aus dem Europäischen Währungssystem. Als Kohl dann auch noch die Zustimmung des Bundestags zur Dislozierung der Mittelstreckenraketen durchsetzte, dankte Mitterrand es ihm Ende 1983 mit einer europapolitischen Entscheidung von größter Tragweite: dem Beschluss, aktiv und gemeinsam mit dem Kanzler an der schrittweisen Weiterentwicklung der EG zu einer Europäischen Union mitzuwirken.
Anfang Februar 1984 rief Mitterrand die Partner der EG öffentlich dazu auf, die weithin „verlassene Baustelle“ Europa wiederzubeleben. Vier Monate später gelang dem Europäischen Rat dank enger deutsch-französischer Abstimmung ein markanter Fortschritt bei der Beseitigung der gemeinschaftlichen Probleme. Die Staats- und Regierungschefs verständigten sich auf eine Lösung des britischen Beitragsproblems, sie legten das Datum für den Beitritt Spaniens und Portugals zur EG fest und vereinbarten die nächsten Schritte auf dem Weg zur Europäischen Union. Im September 1984 bekräftigten Kohl und Mitterrand die revitalisierte „Entente élémentaire“ mit einem Fanal der Versöhnung. Zum Gedenken an den 70. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs reichten sie sich über den Gräbern von Verdun demonstrativ die Hand. „Europa ist unsere gemeinsame kulturelle Heimat [...]“, verkündeten beide Staatsmänner in einer geschichtsmächtigen Erklärung. „Deshalb haben wir – Deutsche und Franzosen – vor nahezu 40 Jahren den brudermörderischen Kämpfen ein Ende gesetzt und den Blick auf eine gemeinsame Gestaltung der Zukunft gerichtet. Wir haben uns versöhnt. Wir haben uns verständigt. Wir sind Freunde geworden.“
Auch wenn sich die EG Anfang 1986 nicht zum Abschluss eines Vertrags zur Errichtung einer Europäischen Union, sondern ‚nur‘ zu einer Einheitlichen Europäischen Akte durchringen mochte, feierten Kohl und Mitterrand das Ergebnis zu Recht als großen Erfolg. Mit der nun anvisierten Verwirklichung eines EG-Binnenmarktes, der Verankerung des Begriffs der Wirtschafts- und Währungspolitik in den EWG-Vertrag und dem Vollzug der Süderweiterung wurde in der europäischen Geschichte ein neues Kapitel aufgeschlagen.
Fortschritte verzeichneten Bonn und Paris nun auch in der für Kohl so wichtigen militärischen Zusammenarbeit. Ende Februar 1986 stellte Mitterrand eine Kooperation beim Einsatz prästrategischer französischer Waffen auf deutschem Boden in Aussicht. Gut ein Jahr später regte das Kanzleramt die Gründung eines bilateralen Verteidigungsrats an, woraufhin der Elysée-Palast mit der Forderung der Schaffung eines Wirtschafts- und Finanzrates konterte. Wie Mitterrand in einer Sitzung des französischen Ministerrates darlegte, hoffte er so Einfluss auf die westdeutsche „Atomwaffe“ zu gewinnen, die D-Mark. Anfang 1988 flossen die Pläne in die Gründung eines Wirtschafts-, Finanz- und Verteidigungsrats und in die Aufstellung eines militärischen Großverbandes „in Form einer Brigade“. In der Hoffnung auf Mitsprache bei der französischen Nuklearstrategie willigte Kohl kurz nach der Wiederwahl Mitterrands im Mai ungeachtet massiver innerdeutscher Vorbehalte darin ein, EG-Kommissionspräsident Jacques Delors mit der Erstellung eines Prüfberichts über die Bildung einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) zu beauftragen. Mitterrand erhob das deutsch-französische Verhältnis jetzt öffentlich zur „Schicksalsgemeinschaft“ und stilisierte den von ihm einst kritisierten deutsch-französischen Freundschaftsvertrag zum „Embryo“ der gemeinsamen europäischen Verteidigung.
Obwohl der Staatspräsident die nuklearpolitische Kooperation im Oktober 1988 einstellte, weil „Frankreich die Atomwaffe nicht mit Deutschland teilen“ könne, zahlte der Kanzler ihm den Rückzieher nicht mit gleicher Münze heim. Mit deutscher Zustimmung beschloss der Europäische Rat Mitte 1989, eine Regierungskonferenz über die Gründung der WWU vorzubereiten. In den Augen Mitterrands stellte Kohl einmal mehr unter Beweis, der „bestmögliche Kanzler zum Aufbau Europas“ zu sein.
Die weltpolitische Zäsur des Jahres 1989/90 stellte das enge Verhältnis zwischen Kohl und Mitterrand auf eine harte Probe. Während die Franzosen den Fall der Berliner Mauer mehrheitlich begrüßten, reagierten Teile der Pariser classe politique verunsichert, ja abweisend. Mitterrand selbst focht die prinzipielle Legitimität eines deutschen Nationalstaates zwar nicht an; dessen Wiedergeburt wünschte er aber gewissermaßen auf den Sankt-Nimmerleinstag zu verschieben. Natürlich dürfe die deutsche Einheit nur im Einvernehmen mit den vier ehemaligen Kriegsalliierten und nach der Vollendung der europäischen Einigung vollzogen werden, lautete sein Credo im Herbst 1989.
Kohls Agenda folgte einem anderen Zeitplan. Als er Ende November ein Zehn-Punkte-Programm über den Weg zur deutschen Einheit bekanntgab und neben der Regierungskonferenz zur Begründung der WWU eine zweite Konferenz über institutionelle Reformen verlangte, hörte der Journalist Louis Wiznitzer aus dem Elysée-Palast, dies sei „Verrat“. Anfang Dezember erinnerte Mitterrand den Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow vieldeutig an den Siegerstatus der ehemaligen Kriegsalliierten. Wenige Tage später schlug er der britischen Premierministerin Margaret Thatcher eine englisch-französische Allianz vor. Als Kohl kurz darauf auf einem EG-Gipfel um Zustimmung zur deutschen Einheit warb, schlug ihm eisige Kälte entgegen. Noch zwanzig Jahre später erinnerte er sich in seinen „Erinnerungen“, wie die Partner ihn „tribunalartig“ zu seinem Zehn-Punkte-Plan befragten und die erbetene Unterstützung für die deutsche Einheit weithin verwehrten. Damit nicht genug, reiste Mitterrand nun auch noch nach Ost-Berlin und kehrte mit der Überzeugung zurück, „die Mehrheit des Volkes der DDR“ wolle zwar die demokratische Erneuerung, „aber doch innerhalb der jetzigen staatlichen Ordnung“.
Nach dem Jahreswechsel bemühte sich Kohl in einem Vier-Augengespräch mit Mitterrand, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Doch der Erfolg hielt sich in Grenzen. Noch immer ging Frankreichs Staatspräsident davon aus, dass die Wiedervereinigung nicht akut sei, weil weder „das Volk der DDR“ noch die Führung der Sowjetunion sie wollten. Erst Gorbatschows Einwilligung in eine „Zwei-plus-Vier-Konferenz“ und der Sieg der Anhänger einer schnellen Wiedervereinigung bei den DDR-Volkskammerwahlen Mitte März ließen Mitterrand einlenken. In letzter Minute, so schrieb Kohl in seinen Memoiren, sei der „Bruch“ zwischen ihnen vereitelt worden. Kurz nach der Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags beteuerten Kanzler und Staatspräsident gemeinsam abermals die Bedeutung der bilateralen „Schicksalsgemeinschaft“ und ihren Willen, als „Motor des europäischen Einigungswerkes“ zu fungieren.
Die Wiederherstellung der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 goss die deutsch-französischen Beziehungen in ein neues Fundament. Desungeachtet und trotz mannigfacher politischer Differenzen gelang es Kohl und Mitterrand, die Hürden auf dem Weg zur Europäischen Union gemeinsam wegzuräumen. Doch schon bald nach dem Abschluss des Maastricht-Vertrags standen ihnen neue Belastungsproben bevor. Ohne Not machte Mitterrand die Ratifikation des Abkommens in Frankreich von einem Referendum abhängig, dessen Ausgang höchst ungewiss war. Da die Bundesregierung sich wegen wachsender Haushaltsschwierigkeiten weigerte, den erneut unter Druck geratenen Franc zu stützen, schürte sie in Paris den Verdacht, sie wolle die Kosten für die Wiedervereinigung auf die EU-Partner abwälzen.
Um die sich rasch auftürmende antideutsche Welle in Frankreich zu besänftigen, appellierte Kohl in einer Fernsehansprache an die französische Nation, dem großen Werk der europäischen Einigung die Unterstützung nicht zu versagen. Tatsächlich stimmten die Franzosen dem Maastricht-Vertrag Mitte 1992 mit knapper Mehrheit zu, erteilten der sozialistischen Regierung unter Pierre Bérégovoy aber bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Frühjahr 1993 eine deftige Abfuhr. Da der Staatspräsident die Leitung der operativen Außenpolitik wegen einer seit Jahren verheimlichten Krebserkrankung mehr und mehr in die Hände des neogaullistischen Premierministers Édouard Balladur gab, drohte Sand ins Getriebe des europäischen Einigungsprozesses zu geraten. Zusätzlich belastet von höchst unerquicklichen Enthüllungen über seine Verstrickungen im Vichy-Regime, fuhr Mitterrand in der Deutschlandpolitik einen widersprüchlichen Kurs. Einerseits ließ er sich im Kontext der Aufnahme von EFTA-Staaten in die EU dazu hinreißen, der Bundesrepublik alte Mitteleuropavorstellungen vorzuwerfen. Andererseits rief er gemeinsam mit Kohl die Deutschen und Franzosen dazu auf, den „Kern der Europäischen Union“ zu bilden. Im Juli 1994 setzte der Staatspräsident gar gegen heftige innenpolitische Kritik durch, dass zur traditionellen Parade am französischen Nationalfeiertag erstmals auch deutsche Soldaten auf den Champs Elysées mitmarschieren durften. Kurz vor dem Ende seiner Präsidentschaft verabschiedete sich Mitterrand von der Weltöffentlichkeit mit einem „Manifest der französisch-deutschen Aussöhnung“. In einer Rede in Berlin zum 50. Jahrestag der deutschen Kapitulation vom 8. Mai 1945 rühmte er die „mehr als ein Jahrtausend“ währende Geschichte der „Brudervölker“ als ein „eigenartiges, grausames, schönes und großes Abenteuer“. Dass seine innenpolitischen Gegner ihm prompt vorwarfen, zu nachsichtig gegenüber dem einstigen Feind gewesen zu sein, fand er falsch und heuchlerisch.
Als Mitterrand am 8. Januar 1996 starb, würdigte Kohl den Verstorbenen in einem Beileidstelegramm an dessen Witwe Danielle als „eine außergewöhnliche Persönlichkeit, einen großen Staatsmann und einen überzeugten Europäer“, ja als „guten Freund“. Beim feierlichen Requiem in der Pariser Kathedrale Notre Dame übermannten den Kanzler am 11. Januar geradezu die Gefühle. „Kohl ist gekommen, um François Mitterrand zu beweinen, die übrigen bedeutenden Gäste sind aus anderen Gründen da“, notierte der Journalist Christophe Barbier.
Gut einhundertmal hatten sich der Kanzler und der Staatspräsident zwischen 1982 und 1995 persönlich getroffen und dem deutsch-französischen Verhältnis wie auch der europäischen Einigung neue Schwungkraft verliehen. Wenn auch ihre Zielsetzungen keineswegs identisch gewesen und gewisse Rivalitäten stets latent geblieben waren, hatte sie doch stets ein mehrdimensionaler europapolitischer Grundkonsens verbunden. Abgesehen von persönlichen Präferenzen, überpersönlichen Zwangslagen und dem von Kohl einmal so formulierten Wunsch, „das europäische Widerlager der Brücke Nordamerika-Europa“ stärken zu wollen, zeichnete dafür – wie der Historiker Andreas Wirsching nachgewiesen hat – „ein wirkungsmächtiges historisches Deutungsmuster“ verantwortlich. In dessen Zentrum stand der Mythos von der Selbstrettung Europas nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Wenn es den Völkern nicht gelinge, ihre Vorurteile zu besiegen, werde sich der Nationalismus durchsetzen; und Nationalismus bedeute Krieg, hatte Mitterrand in einer seiner letzten öffentlichen Reden im Januar 1995 den Abgeordneten des Europäischen Parlaments ins Stammbuch diktiert. Kohl sah dies genauso: „Die Frage des Baus des europäischen Hauses unter irreversibler Einbindung des mit Abstand stärksten Landes, Deutschland,“ beteuerte er Anfang Februar im Bundesvorstand seiner Partei, „ist die Frage von Frieden oder Krieg im 21. Jahrhundert“. Im festen Bewusstsein, dass der vierte Präsident der V. Republik sich um Europa verdient gemacht hatte, mochte der Kanzler trotz der von der Presse enthüllten trüben Seiten der Mitterrandschen Biographie nicht den Stab über ihn brechen. „Bei allen Fehlern“, so gab er 2003 auf einer Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung in Sankt Augustin zu Protokoll, „aus deutscher Sicht war seine Haltung für uns ganz wichtig. Ich höre deshalb auch nicht auf, meine persönliche und sehr freundschaftliche Beziehung mit ihm zu betonen.“
Für Helmut Kohl war Europa stets mehr als ein Wirtschaftsprojekt. Schon in seiner Regierungserklärung hatte er die Politische Union Europas zum Primärziel deutscher Europapolitik erklärt. Mit dem Vertrag von Maastricht erreichte Kohl den Höhepunkt seiner Europapolitik. 1998 wurde er für sein Engagement geehrt und zum „Ehrenbürger Europas“ ernannt.
Die deutsch-französischen Beziehungen gestalteten sich während der Ära Kohl nicht immer einfach. Vor allem während der deutschen Wiedervereinigung liefen Bonn und Paris nicht im gleichen Takt. Das Vertrauensverhältnis, das Kohl zu den französischen Staatspräsidenten François Mitterrand und Jacques Chirac aufbaute, war hingegen Grundlage dafür, dass das deutsch-französische Tandem den europäischen Integrationsprozess wiederbeleben und vorantreiben konnte.
Gedruckte Quellen
Werke Kohls und Mitterrands
Sonstige Quellen