* geboren 22.04.1939
in
Oberrohr/Schwaben
Dr. jur.
Jurist, Bundesminister, Vorsitzender der CSU, Ehrenvorsitzender der CSU
1957 | Eintritt in die JU |
1959-1963 | Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in München und Würzburg |
1960 | Eintritt in die CSU |
1961-1970 | Kreisvorsitzender der JU Krumbach |
1963-1967 | Referendar |
1967 | 2. juristisches Staatsexamen und Promotion |
1967-1969 | Gerichtsassessor in München |
1967-1971 | Bezirksvorsitzender der JU Schwaben |
1969-1972 | Persönlicher Referent des Staatssekretärs und Staatsministers Anton Jaumann |
1971-1975 | Landesvorsitzender der JU Bayern |
1972-2002 | Mitglied des Deutschen Bundestages |
1982-1989 | Vorsitzender der CSU-Landesgruppe |
1987/88 | Vorsitzender des Bezirksverbands Schwaben |
1988-1999 | Vorsitzender der CSU |
1989-1998 | Bundesminister der Finanzen |
1991-2002 | Vorsitzender des CSU-Fachausschusses Außenpolitik |
18.07.2009 | Ernennung zum CSU-Ehrenvorsitzenden durch den CSU-Parteitag |
Die markanten Augenbrauen verleihen dem bayerisch-schwäbischen Politiker auch visuell einen dauerhaften Platz im Gedächtnis der Nation – politisch werden mit ihm vor allem die finanzielle Bewältigung der Wiedervereinigung und die erfolgreiche Einführung des Euro verbunden. Auch in anderen Politikfeldern erwies sich Theodor Waigel als Moderator entscheidender Transformationsprozesse der deutschen (Parteien-) Geschichte. Im Urteil Helmut Kohls aus dem Jahr 2009 ist er ein „Glücksfall für Deutschland und Europa“.
Theodor Waigel, immer schon in abgekürzter Form „Theo“ gerufen, kam am 22. April 1939 im bayerisch-schwäbischen Kirchdorf Oberrohr bei Krumbach zur Welt. Der Vater war Maurerpolier, die Familie wohnte auf einem landwirtschaftlich genutzten Gehöft. Umfeld und Alltag der Waigels waren katholisch geprägt – eine selbstverständliche Frömmigkeit, die das Leben der Familie durchdrang und Halt und Orientierung bot.
Schon kurz nach seiner Geburt wurde dies nötig, denn unmittelbar nach Kriegsbeginn 1939 wurde der Vater zur Wehrmacht eingezogen und die Familie war auf sich gestellt. Gemeinsam mit der aus einer früheren Ehe des Vaters stammenden älteren Schwester sowie dem 13 Jahre älteren Bruder August „Gustl“ erlebte Waigel die kommenden Jahre dennoch als „unbesorgt und behütet“. Als allerdings sein Bruder am 30. September 1944 im lothringischen Litzingen fiel, brach die Welt der Familie zusammen. Die Situation der verzweifelten und bitter gewordenen Eltern verstand Waigel Jahrzehnte später besser, als er die Feldpostbriefe seines Bruders, und erst Anfang der 1990er Jahre sein Soldatengrab fand. Für Waigel verknüpften sich nach Ende des Kalten Krieges Errungenschaften europäischen Zusammenwachsens und der Völkerverständigung mit seiner persönlichen Familiengeschichte, und es zeigte sich nachträglich ein sinnstiftendes Leitbild bereits verfolgter Politik: gemeinsam, europäisch – vereint.
Nach der Volksschule in Ursberg folgte der Besuch der Oberrealschule in Krumbach; durchaus kein gewöhnlicher Werdegang für einen Jungen vom Lande – Waigels Erinnerung nach überredete ein befreundeter Lehrer die skeptischen Eltern zu diesem wegweisenden Schritt. Es waren erhellende und dennoch keineswegs leichte Jahre für Waigel, denn selbstverständlich wurde die kontinuierliche Mitarbeit auf dem elterlichen Hof weiterhin vorausgesetzt, höhere Schulbildung hin oder her. Dass er diese Welten miteinander in Einklang zu bringen wusste, bewies Waigel mit guten Noten und dem Abitur 1959.
Waigels Entscheidung gegen die dem Elternhaus auch geographisch näher liegenden Berufsoptionen – Landwirt, Tierarzt oder Lehrer – und für das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften, zeigte, dass er bereits als junger Erwachsener willens war, im Wortsinn neue Wege zu gehen, die ihn bis nach München und dann recht bald nach Würzburg führten.
Das Erste juristische Staatsexamen bestand er 1963, gefolgt vom Rechtsreferendariat und der Zweiten juristischen Staatsprüfung 1967. Seine im gleichen Jahr abgelegte juristische Promotion trägt den Titel: „Die verfassungsmäßige Ordnung der deutschen, insbesondere der bayerischen Landwirtschaft“. Nunmehr Volljurist, erprobte Waigel seine Fertigkeiten als Gerichtsassessor der Staatsanwaltschaft beim bayerischen Landgericht I in München. Heimatverbunden blieb er, auch durch sein politisches Engagement.
Nach der JU 1959 trat Waigel nur ein Jahr später auch der Christlich-Sozialen Union bei und wurde 1966 für die kommenden sechs Jahre Mitglied des Kreistages Krumbach. Innerhalb der JU hatte er bereits seit 1961 den Kreisvorsitz inne und errang 1967 erst den Bezirksvorsitz der JU Schwaben und 1971 schließlich den Landesvorsitz der JU Bayern. Damit war der seit 1968 verheiratete Jungpolitiker innerhalb weniger Jahre sehr einflussreich geworden. Geholfen hatte ihm dabei seine mitunter recht deutliche Sprache und die Zeit, die er in persönliche Gespräche und das Netzwerken investierte.
Der hierdurch ermöglichte Kontakt zu dem bis 1967 amtierenden CSU-Generalsekretär und dann zum bayerischen Finanzminister avancierten Anton Jaumann lässt sich in Waigels Tätigkeit als dessen Persönlicher Referent 1969 in beruflicher wie parteipolitischer Hinsicht bestens einordnen. Als Jaumann 1970 als Minister ins bayerische Wirtschafts- und Verkehrsministerium wechselte, folgte ihm Waigel auch dorthin und sammelte wichtige politische Erfahrungen beim langjährigen bayerischen Kabinettsmitglied, das dem CSU-Zentralgestirn Franz Josef Strauß allgemein kritisch gegenüberstand.
Diese eher kritische Einstellung färbte auch auf den jungen persönlichen Referenten Waigel ab – oder war zuvor schon mit Grund für das gute Verhältnis zum Minister. Strauß‘ Favorit jedenfalls war Waigel nie. Als JU-Vorsitzender Bayerns erfüllte er prompt die Erwartungen, und forderte Erneuerung und mehr Schwung. Mehr noch als sein immerhin acht Jahre älterer Vorgänger Alfred Böswald stand Waigel, der gerade Studium und Promotion abgeschlossen hat, auch als Vertreter einer neuen Generation da, die nach vorn drang. Auch wenn er mit der gängigen Vorstellung der „68er“ keine inhaltlichen oder äußerlichen Gemeinsamkeiten aufwies, führte er doch Anfang der 1970er Jahre einen sich in dynamischen Zeiten empfindenden politischen Jugendverband einer politischen Partei, die erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik auf die Ränge der Opposition verwiesen worden war.
Insofern bot sich Gelegenheit für Überlegungen, ob Programm und Struktur der Jungen Union Bayern wie auch der CSU nicht zeitgerechten Anpassungen unterliegen müssten. Waigel drang darauf, die Eigenständigkeit des JU-Landesverbandes hervorzuheben und auszubauen. Strauß entschloss sich zur klassischen Taktik im Umgang mit zur Aufmüpfigkeit neigendem Nachwuchs: Statt sich mit Waigel großartig anzulegen und diesem über die Konfrontation Gelegenheit zur Profilierung zu verschaffen, machte er ihn 1973 zum Vorsitzenden der CSU-Grundsatzkommission. Das Signal war klar: Die Jugend wird eingebunden.
Doch das Signal wurde von Waigel und der Kommission im Folgenden auch sichtbar umgesetzt und die Themen „Jugend“ und „junge Leute“ erhielten im 1976 verabschiedeten Grundsatzprogramm der CSU sogar ein eigenes Kapitel. Waigel achtete darauf, die Erarbeitung im streit- und fruchtbaren Austausch mit Wissenschaft, Kultur, Kunst und Theologie zu führen – alles gesellschaftliche Bereiche, die unter dem Mythos des gesellschaftlichen Wandels der späten 1960er/frühen 1970er Jahre und dem Bundestagswahlkampf 1972 den christlich-demokratischen Parteien vermeintlich abgegangen waren. Ob sein im Nachblick betontes Anliegen, diesen kritischen Dialog dauerhaft in der Partei zu verankern, tatsächlich Früchte trug, bleibt dahingestellt. An den für die CSU bis Anfang/Mitte der 1990er Jahre konstant bleibenden Wahlergebnissen lässt er sich jedenfalls nicht ablesen – doch vielleicht ist auch gerade die Konstanz eine positive Tendenz.
Das vierte CSU-Grundsatzprogramm von 1976, das im Gegensatz zu seinen Vorgängern erheblich an inhaltlichem und programmatischen Umfang hinzugewonnen hatte und sich selbstverständlich in großen Teilen als Gegenangebot zum sozial-liberalen Gesellschaftsentwurf auf Bundesebene las, nahm unter der zusammenfassenden Überschrift „Freiheit“ für die CSU in Anspruch, die seit „1969 begonnene […] Zeit der Unsicherheit und der Gefährdung deutscher Politik“ auf Basis individueller „Selbst- und Mitverantwortung der Bürger“ zu überwinden und „den Wandel der Gesellschaft in freiheitlichen Bahnen“ zu ermöglichen. Entsprechend ist unter Waigels Koordination und in enger Abstimmung mit der unter Richard von Weizsäcker entstandenen Grundsatzkommission der CDU die ausbuchstabierte Basis und Planung der Programmatik bis zur Ablösung der Bundesregierung 1982 entstanden: Freiheit statt Sozialismus.
Die Auseinandersetzung mit der sozial-liberalen Bundesregierung erlebte der mittlerweile zum Berufspolitiker avancierte Waigel in Bonn. 1972 wurde er als Listenkandidat der JU Bayern Mitglied des Bundestages, ab 1976 zog er dann bis zu seinem Ausscheiden zur Bundestagswahl 2002 als unangefochtener Wahlkreissieger seines Heimatwahlkreises Neu-Ulm ins Parlament ein. Selbstverständnis und Ruf als bürgernaher Kümmerer bescherten ihm Traumergebnisse bei den Erststimmen jenseits der absoluten Mehrheit – auch für bayerische Verhältnisse keine Selbstverständlichkeit.
Waigel trat der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU in turbulenten Zeiten bei. Schon nach der Wahlniederlage 1972 deutete sich eine Krise im Unionslager an: Der CSU-Parteivorsitzende Strauß wollte den Bruch der Fraktionsgemeinschaft und ein eigenständiges Auf- und Antreten seiner Partei auf Bundesebene. Schon hier sprach sich Waigel vehement gegen diese Pläne aus und machte sich vier Jahre später, als das Thema nach dem äußerst knappen Wahlergebnis bei der Bundestagswahl 1976 mit dem Kreuther Trennungsbeschluss wiederum aktuell wurde, abermals bei Strauß unbeliebt. Zwar organisierte Waigel eine Art schwäbischen Widerstand gegen die Trennung, ausschlaggebend für die letztendliche Fortführung der Fraktionsgemeinschaft war er aber nicht. Gleichwohl begründete er mit seiner Haltung ein gutes Verhältnis zum CDU- und neuen Fraktionsvorsitzenden Helmut Kohl. Bei dessen Planungen wird Waigel in den kommenden Jahren stets mitgedacht.
Gleichzeitig gelang dem schwäbischen Aufsteiger das Kunststück, dass er innerhalb der CSU als zwar immer eigenständig vom Vorsitzenden Strauß agierend und an Gewicht gewinnende Gegenstimme wahrgenommen wurde. Dennoch galt Waigel nie als Dissident und Abweichler von Strauß, der nach seiner Wahl zum bayerischen Ministerpräsidenten 1978 neue Beliebtheitsrekorde in Bayern feierte.
Schon früh zeigte sich Waigels Neigung, CSU-Interessen stark zu betonen, sie aber nicht mit dem Kopf durch die Wand durchzusetzen. Nach dem Regierungswechsel 1982 sollte er mit diesen Eigenschaften als Vorsitzender der CSU-Landesgruppe und 1. Stellvertretender Fraktionsvorsitzender von CDU/CSU im Deutschen Bundestag über sieben Jahre lang brillieren. Dabei schaffte es der „ausgeglichene […] und ausgleichende […] Theo Waigel“ (Hans-Peter Schwarz), die Transformation von der Oppositions- zur „Kanzlerfraktion“ (Hanns Jürgen Küsters) so mitzugestalten, dass in einer schwierigen Umorientierungsphase ein zwar mitunter holpriger, aber zugleich erfolgreicher Übergang gelang.
Durch den Wechsel einer großen Zahl jahrelang bewährter Führungskräfte in die Regierung stand die Fraktion vor nicht zu unterschätzenden Umbrüchen. Zeitgleich musste der Wandel der Wahrnehmung der FDP durch die Union – bislang politischer Gegner, künftig Koalitionspartner – möglichst geräuschlos moderiert werden. Keine leichte Aufgabe, insbesondere für die Abgeordneten der CSU.
Auch das Verhältnis von Fraktion und Kanzler gestaltet sich ambivalent, mit der Tendenz, an neuralgischen Punkten schwierig zu werden. Dies lag zum einen am stets fragilen Verhältnis zwischen den Unions-Vorsitzenden, Kanzler Kohl und Ministerpräsident Strauß.
Grundsätzlich steuerte Kohl gerne auf der persönlichen Ebene die Beziehung zu vielen Abgeordneten, aber auch das gelang nicht bei allen gut. Hier sorgte Waigel für eine wichtige personelle Ergänzung: Geräuschlose Hintergrundarbeit im Dialog avancierte zu seinem Markenzeichen, das auch seine persönlichen Ambitionen in den 1980er Jahren nachhaltig stärken und befördern sollte. Der „intelligente […] Bayern-Schwabe“ sei „bedächtig“, „gediegen und klug“, urteilte der ehemalige CDU-Chef Rainer Barzel schon 1983: ein „politisches Mannsbild“, in dem „noch mehr drin“ stecke.
Dies bewies Waigel nur wenige Jahre später: Mit dem plötzlichen Tod von Franz Josef Strauß stand die CSU vor einer gewaltigen Herausforderung: Zwar war Strauß seit langem gesundheitlich angeschlagen – zu rechnen war mit seinem Ableben am 3. Oktober 1988 allerdings nicht. So gestaltete sich der erste Wechsel im Parteivorsitz seit 1961 weniger als weihevolle Fackel-Übergabe, sondern vielmehr als ein aus Schock und Not geborener Umbruch, der die Partei bis in ihre kleinsten Gliederungen tangiert. Waigel selbst betont, die Partei war „bis ins Mark erschüttert“ und „in Bayern“ schien „der Himmel einzustürzen“.
Mit Max Streibl, der seit 1977 das bayerische Finanzministerium führte, war immerhin ein aussichtsreicher Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten vorhanden. Für die Partei galt dies in mehrfacher Hinsicht nicht. Denn nicht nur zeigte Streibl kaum Ambitionen auf das Amt. Auch drängte ihn niemand, es zu übernehmen – vielmehr war schnell klar, dass die Partei sich auf Waigel festlegen würde. So sehr, dass mögliche Alternativen wie Gerold Tandler gar nicht erst antreten.
Ohne feste Absicht auf das Amt, wohl aber fixiert auf die Möglichkeit, hatte Waigel seit Jahren hierauf hingearbeitet. Insofern war sein Entschluss, die Nachfolge zu übernehmen, die logische Konsequenz des aufgebauten Status. Als einziger Kandidat wurde er auf dem Landesparteitag der CSU am 19. November 1988 mit 98 Prozent der Stimmen zum Partei-Vorsitzenden gewählt. Seine Wahl war sichtbarer Ausdruck des Wunsches der CSU, den schwierigen Epochenübergang nach Strauß mit überlegten Schritten, im Dialog, mit Bedacht, ohne Friktionen und Kontroversen zu moderieren. Hierfür stand der Name Waigel – und zu diesem Zeitpunkt stand neben Waigel niemand. Nicht zu unterschätzen: Waigel stand darüber hinaus auch für eine gute Zusammenarbeit mit der CDU.
Die Transformation nach Strauß gelang – auch, weil Waigel und Streibl ein gutes Arbeitsverhältnis entwickelten. In Bayern hatte sich über Jahrzehnte ein enger Zusammenhang zwischen CSU-Parteivorsitz und dem Amt des Ministerpräsidenten entwickelt – es hätte auch schief gehen können.
Gleichwohl war auch der beliebte Waigel nicht vor den Entwicklungen einer Parteiendemokratie gefeit. Als Streibl 1993 über die sogenannte Amigo-Affäre stolperte und als Ministerpräsident zurücktrat, schien Waigel die nahezu natürlich wirkende (Wieder-)Vereinigung von Parteivorsitz und Ministerpräsidentenamt zunächst vor die Füße zu fallen. Doch die parteiinterne Konkurrenz stoppte ihn mit allen Mitteln. Es wurde eine Kampagne mit Bezug auf Waigels Privatleben gestartet, die am Ende auf seinen Verzicht hinauslief. Den Parteivorsitz behielt er vor allem, um die Partei zu stabilisieren und nicht nach knapp vier Jahren erneuten Schwankungen auszusetzen. Statt Ministerpräsident in München zu werden, blieb Theo Waigel in Bonn, wo er fast zeitgleich zur Übernahme des Parteivorsitzes ein weiteres Amt übernommen hatte, das ihn und welches umgekehrt er entscheidend prägen sollte.
Ende 1988/Anfang 1989 befand sich die Bundesregierung in arger Bedrängnis. In der Koalition knirschte es wegen der Steuerpolitik mit der FDP, die Regierungsparteien erlitten empfindliche Verluste bei Europa- und Landtagswahlen, mit den Republikanern drohte die Etablierung einer rechtskonservativen Partei und Kohls Beliebtheitswerte waren auf Talfahrt. Als darüber hinaus Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg noch eingestehen musste, dass die Neuverschuldung im mittelfristigen Finanzplanungszeitraum gleiche Höhen wie Anfang der 1980er Jahre unter der SPD erreichen würde, zog der Kanzler die Reißleine und bildete sein Kabinett um. So schien es jedenfalls nach außen, zur Wahrheit gehört aber, dass Kohl sich in einer persönlich misslichen Lage befand, da parteiintern aus einer Gruppe um Generalsekretär Heiner Geißler seine Eignung als Kanzler in Frage gestellt wurde. Insofern erscheint das Revirement Anfang 1989 als Teil auch einer persönlichen Rettungsstrategie, die erst mit dem Bremer Bundesparteitag der CDU im Herbst 1989 zu einem für ihn glücklichen Ende kommen wird.
Dass in dieser Situation Waigel als CSU-Chef ins Kabinett des waidwunden Kohls eintrat und das bedeutende Finanzministerium übernahm, wurde als machtvolles Signal gegenüber den CDU-Rebellen verstanden und stärkte am Ende die Position des „in der Tinte“ sitzenden Kanzlers (Hans-Peter Schwarz).
Für eine engere Anbindung der aus CDU-Sicht zuweilen anstrengenden CSU war die Etablierung Waigels im Kabinett eine gute Wahl. Außerdem musste jemand Finanzminister werden, der für Souveränität, Tatkraft und Fachwissen stand – immerhin war mit Stoltenberg gerade ein als Wirtschafts- und Finanzexperte weithin anerkannter Fachmann ausgewechselt worden. Insofern ließ sich „Waigel“ gut kommunizieren.
Tatsächlich erwies sich der neue Finanzminister als Glückgriff: Der während seiner gesamten Amtszeit im Ministerium außerordentlich beliebte Waigel moderierte, gestaltete und ermöglichte erfolgreich mehrere parallele Transformationsprozesse mit weitreichenden Folgen.
Dass der im Herbst 1989 plötzlich real werdende Wiedervereinigungsprozess umgesetzt werden konnte, hing unmittelbar mit der Bedingung zusammen, ihn ökonomisch-finanziell überhaupt ermöglichen zu können. Nach 40 Jahren durchexerzierten real-existierendem Sozialismus war dies keineswegs trivial, sondern das Ergebnis äußerster Anstrengung, auch intellektueller Anstrengung, die im Finanzministerium stattfand.
Es braucht Mut, diese kaum kalkulierbare Politik zu verfolgen, wenngleich Waigel als Minister beständig warnte, dass die ökonomischen Kosten gewaltig sein werden. Der katastrophale wirtschaftliche Zustand der DDR war immerhin offensichtlich und nicht zu beschönigen. Deshalb initiierte Waigel auch eine hohe Anschubfinanzierung für das entsprechende Wirtschaftsgebiet. Er setzte damit bewusst einen wichtigen Kontrapunkt zum SPD-Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine, der im Bundestagswahlkampf 1990 die Zukunft in düsteren Farben malte. Auf die Risiken wies auch Waigel hin, betonte aber stärker die Chancen, schaffte Vertrauen und Selbstbewusstsein. Doch ihm war klar, dass er auf Sicht fuhr – einen Plan „Deutsche Einheit“ gab es nicht. Auch deshalb musste er sich später den Vorwurf der „Steuerlüge“ gefallen lassen – das nahm er hin. Der Mut und die Zuversicht der Bürger für die augenblickliche, einmalige Chance, so betonte er, sind wichtiger. Für ihn war es von Beginn an „kategorischer Imperativ“, die Chance auf die deutsche Wiedervereinigung zu ergreifen. Insofern stellte sich für den Politiker und Bürger Waigel nicht die Frage des „Ob“, sondern des „Wie".
Auch hier gibt es im Rückblick bittere Resümees, vor allem, was die Art der Abwicklung der ostdeutschen Staatsbetriebe durch die Treuhandanstalt angeht. Diese stand unter der Fachaufsicht von Waigels Ministerium, insofern traf die in Teilen emotionale Kritik explizit ihn, wenn auch das Bundesfinanzministerium und sein Minister nicht für Detailfragen zuständig waren. Mittlerweile wird die Arbeit der Treuhandanstalt durch immer mehr geschichtswissenschaftliche Analysen aufgearbeitet; hier werden sich auch die Fehler zeigen, die vermeidbaren wie die unvermeidlichen. Der Erfolg der gesamtdeutschen Transformation steht dabei am Ende außer Frage, und Waigel war entscheidender (Mit-)Moderator dieses Prozesses.
Gleiches gilt für weitere Transformationsprozesse, für die er als Minister in dieser Zeitenwende zuständig war. Beispielhaft hierfür ist etwa der unter seiner maßgeblichen Beteiligung erarbeitete Überleitungsvertrag mit der Sowjetunion zum Abzug der Roten Armee sowie bereits zuvor die Gewährung hoher Kreditsummen für die taumelnde Supermacht. Diese Kredite stellten in der Umbruchphase die außenpolitischen Verhältnisse scheinbar auf den Kopf, ihre Ermöglichung beförderte allerdings notwendige Prozesse auf dem Weg zur Deutschen Einheit beziehungsweise zur Stabilisierung der europäischen Integrationsmöglichkeiten und sind zudem wichtige bündnispolitische Schritte.
Mit der Einheit eröffneten sich für das wiedervereinigte Deutschland schließlich Notwendigkeit wie Möglichkeit, aktiv seiner gesamtstaatlichen Verantwortung für die Verbrechen im Nationalsozialismus nachzukommen. Ein Umstand, dem sich die Regierungen der DDR insbesondere mit Bezug auf Entschädigungszahlungen an Überlebende nationalsozialistischen Unrechts über Jahrzehnte verschlossen hatten. Zudem ermöglicht der Fall des Eisernen Vorhangs erstmals seit über 40 Jahren konkrete Möglichkeiten, auch mit osteuropäischen Ländern hierüber in Gespräche zu kommen. Waigel, der die Haltung vertrat, „Wiedergutmachung [sei] mehr als nur Stichwort […] für Sonntagsreden“, wiegelte hier als Bundesfinanzminister nicht ab, redete explizit keinem „Schlussstrich“ das Wort. Im Gegenteil, er ermöglichte ein Umdenken: In seiner Amtszeit erfolgte ein entscheidender Schub für einen Wandlungsprozess des Verständnisses, wie aktive Übernahme von Verantwortung, deren Ausgestaltung und ein fortwährendes Bewusstsein hierüber von einem wiedervereinigten Deutschland fortgeführt werden konnte.
In diesem Bewusstsein entschied er nach dem Hauptstadtbeschluss 1991, dass das zuletzt von der Treuhand genutzte Dienstgebäude in Berlin, das von Hermann Göring als Sitz des Reichsluftfahrtministeriums gebaut und benutzt wurde, künftig der Sitz seines Finanzministeriums sein sollte – „trotz und gerade wegen seiner belasteten Vergangenheit“.
Neben der finanziellen Ermöglichung und Bewältigung der Deutschen Einheit ist mit dem politischen Wirken Theo Waigels vor allem die erfolgreiche Einführung der europäischen Einheitswährung Euro verbunden. Die ersten Vorstellungen hierzu entstanden bereits in der frühen Phase der europäischen Integration im Nachgang des Zweiten Weltkriegs und erreichten manifeste Vor- und Versuchsstadien im sogenannten Werner-Plan und im Europäischen Wechselkursverbund. Bereits konkreter gestaltete sich ab 1978 dann das Europäische Währungssystem, das mit dem ECU als Korbwährung eine erste Vorläufereinheit des Euro in der Verrechnung darbot.
Entsprechend fand Waigel mit Amtsantritt bereits Vorarbeiten und angelaufene Prozesse vor, und mit einer Ausarbeitung Jacques Delors‘ auch konkrete Handlungsschritte, die zum Beispiel die Schaffung einer Europäischen Zentralbank und weitere ambitionierte Schritte zur Realisierung vorsahen.
Waigel war grundsätzlich von der Richtigkeit der Euro-Einführung überzeugt, musste im Interesse Deutschlands indes unbedingt auf die verbindliche Einhaltung gewisser Standards setzen, vor allem auf finanzpolitische Disziplin und die Verhinderung gegenseitiger Schuldenhaftung. In diesem Sinne bestand er resolut auf die Federführung seines Hauses in wichtigen Verhandlungsfragen, etwa bei der Konferenz von Rom im Dezember 1990 auf dem Weg zur Ausarbeitung eines Vertrages zur Währungs- und Wirtschaftsunion.
Der Weg zum Euro führte über lange Verhandlungen, das Ausloten gemeinsamer Interessen und in Deutschland vor allem über die Beruhigung unübersehbarer Ängste: behutsam musste der deutschen Bevölkerung der Verlust der beliebten, beruhigenden, überwiegend starken DM vermittelt werden. Ihre jahrzehntelange Symbolkraft für Stabilität, Sicherheit und außenwirtschaftliche Macht nach den tiefsitzenden Hyperinflations- und Deflationserfahrungen der 1920er und 1930er Jahre, erleichterte Waigels Aufgabe dabei nicht. Noch Jahrzehnte später hält sich hartnäckig das indes nie belegte Gerücht, die Einführung des Euro wäre Kondition der Deutschen Einheit gewesen. Besonderen Wert legte Waigel auf die Befugnisse der Europäischen Zentralbank; als Signal für Deutschland erwirkte er gemeinsam mit Helmut Kohl deren Einrichtung in Frankfurt am Main.
Später bekam es ihm schlecht, dass Deutschland zum Ende seiner Amtszeit nur mit Mühe diejenigen haushaltspolitischen Grenzwerte einhalten konnte, die er selbst in Maastricht zum Unmut mancher europäischen Amtskollegen hart verhandelt hatte. Dass die rot-grüne Nachfolgeregierung dann 2002 und 2003 die Kriterien bewusst unterlief, kritisierte er scharf.
Das Bild trübt zusätzlich, dass letztlich infolge von Einheit, erhöhter Sozialausgaben und exportwirtschaftlicher Schwierigkeiten, welche im Zusammenhang mit einer starken DM standen, zum Ende seiner Amtszeit der Bundeshaushalt durch Neuverschuldungen belastet wurde. Bis zum Euro-Bargeld-Start Anfang 2002 lag damit ein Schatten über der Leistung, die gemeinsame Währung in mühevollen Verhandlungen überhaupt bewirkt zu haben. Dies wird Waigel nicht gerecht.
Denn die Ausgestaltung des Euro, wie die Währung auf Betreiben Waigels schließlich hieß, war komplex und national im hohen Maße interessengesteuert. Insbesondere die Bedingungen zur Einhaltung der Stabilitätswerte bewirkten zeitweise Verwerfungen zwischen Deutschland und Frankreich, die Waigel gleichzeitig eisern und flexibel durchstand. Am Ende musste er aber beispielsweise auch den offenen Streit unter anderem mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber suchen, damit dieser im Bundesrat den von seinem Parteivorsitzenden ausgehandelten Bedingungen zum Stabilitäts- und Wachstumspakt und der Einführung des Euro zustimmte.
Waigels Mantra aus den 1990er Jahren, die gemeinsame Währung funktioniere nur über das Maß des in sie gesetzten Vertrauens und dieses bedinge sich am Maß der Einhaltung der für alle verbindlichen Regeln, geriet in den Jahren nach seinem Ausscheiden aus der Politik mitunter in Vergessenheit. Die in der Eurokrise ab Anfang der 2010er Jahre aus der Not heraus zumindest teilweise durchgesetzte Politik ist insofern eine Rückkehr zu Grundsätzen, die Waigel als Kondition einer so erfolgreichen wie nachhaltigen Währungs- und Wirtschaftstransformation im Euro-Raum entwickelt und durchgesetzt hatte.
Zwar besserte sich die zur Mitte der 1990er Jahre zwischenzeitlich in Schieflage geratene bundesdeutsche wirtschaftliche Situation etwas, je näher die Bundestagswahl 1998 rückte. Jedoch hatten die vergangenen Jahre ihre Spuren hinterlassen, in der Koalition und auch in der Bevölkerung.
Kohls überraschenden Entschluss, entgegen vorherigen Ankündigungen doch noch einmal als Kanzlerkandidat anzutreten, unterstützte Waigel vorbehaltlos. Er selbst hatte derweil mit den finanz- und währungspolitischen Problemen der Republik zu kämpfen, denn er musste die von ihm selbst aufgestellten Maastricht-Kriterien erfüllen. Hinzu kam über Monate hinweg ein über die Medien ausgetragener erbitterter Streit mit Heiner Geißler und Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm über die Besteuerungsmöglichkeiten von Renten. Außerdem enthüllte Blüm zeitgleich noch seine Pläne zur Reformierung der Rentenversicherung, die mit Waigels Planungen zur Steuerreform kollidierten. Die Sozialverbände führten die wütenden Proteststürme gegen die beiden Reformen an, dann mischte noch die FDP als Koalitionspartner im Bund mit sowie die CDU-Ministerpräsidenten. Es war zudem der bayerische Ministerpräsident Stoiber, der wegen seiner eigenen Wahl im Herbst 1998 aus wahltaktischen Gründen einen Streit über die Euro-Einführung vom Zaun brach, den er indes letztlich verlor – dies alles trug im Bundestagswahlkampf zu einem verheerenden Stimmungsbild bei.
Waigel selbst konnte in dieser Zeit mit Blick auf den Bundeshaushalt kaum manövrieren – viel eher standen Subventionskürzungen und Abstriche bei allen geplanten Reformideen der Koalition an. Wiewohl die Zeichen klar auf Wachablösung standen, verweigerte sich Waigel – der die CSU-Landesgruppe fest hinter sich wusste – allen Versuchen aus Teilen der CDU, Kohl auf den letzten Metern noch als Kanzlerkandidaten abzulösen.
Die Wahl ging für die Unionsparteien und die FDP schmerzlich verloren – überwiegend teilten die Wähler Waigels retrospektive Selbsteinschätzung eindeutig nicht, die Koalition hätte „politisch und ökonomisch eine beeindruckende Bilanz vorweisen“ können. Zu seinem Unverständnis wurde ihm die Hauptverantwortung für die Verluste der CSU bei der Wahl zugeschoben: das Ergebnis war mit 47,7 Prozent der Wählerstimmen zu schlecht. Seine politische Karriere ließ Waigel in der Folge noch bis zum Ende der Mandatszeit 2002 „ausklingen“ – zwar ohne Ämter in der Fraktion, die er ablehnte, aber nicht untätig, sondern als Abgeordneter im Dienst für seinen Wahlkreis Neu-Ulm. Auch überließ er nun Stoiber den Vorsitz der CSU und trat 1999 nicht mehr zur Wahl an; 2009 wählte ihn die CSU zum Ehrenvorsitzenden.
Mit seinem durchaus überraschenden Rückzug aus dem Deutschen Bundestag bewies der ehemalige Spitzenpolitiker Theo Waigel allen und sich selbst, es geht: Er geht. Es ist genug, er beendete 2002 seine politische Karriere, trat nicht mehr zur Bundestagswahl an. Mit nicht einmal 60 Jahren – für einen Politiker wahrlich kein Renteneintrittsalter –, gelangen ihm scheinbar problemlos Abstinenz von Macht, Gestaltungskontrolle und Medienberichterstattung sowie die Abgabe von direktem Einfluss – ohne Reue, ohne Schuldgefühle. Nach 30 Jahren Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag und langer Zeit im Ministeramt ein Kunststück, dass nicht jeder und jedem seiner zahlreichen Kolleginnen und Kollegen in gleicher Weise glücken sollte. Damit gelang Waigel am Ende seiner politischen Karriere eine sehr persönliche Transformationsleistung.
Bereits 1999 wurde er Partner in einer Münchner Rechtsanwaltskanzlei; mittlerweile arbeitet er gemeinsam mit seinem Sohn in einer eigenen Kanzlei. Im heimatlichen schwäbischen Umfeld ist er gern gesehener Gast bei verschiedensten gesellschaftlichen und kulturellen Veranstaltungen. Seit seinem Ausscheiden aus dem Parlament ist er Mitglied verschiedener Bei- und Aufsichtsräte. Von 2009 bis 2012 wurde er von den US-Behörden nach der kurz zuvor aufgedeckten Korruptionsaffäre bei der Siemens AG zur Beaufsichtigung des Unternehmens als Anti-Korruptions-Beauftragter eingesetzt. In jüngster Zeit ist er Vorsitzender einer Expertenkommission zur Aufarbeitung des Wirecard-Skandals. Durch seine jahrzehntelange Erfahrung ist er gefragter Experte von Medien und politischem Betrieb und mittlerweile selbst schon als Zeitzeuge Objekt und Auskunftspartner wissenschaftlicher Forschung. Helmut Kohl blieb er über seine Ministerzeit hinaus bis zu dessen Tod 2017 als Freund und Ratgeber eng verbunden.
Peter Ramsauer (Hg.): Weichenstellungen für Deutschland und Europa: Theo Waigel, Stationen eines Politikers, München 2009 [darin u.a.: Helmut Kohl: Ein Glücksfall für Deutschland, S. 15-18].