7. September 1987

Tischrede von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl bei einem Abendessen zu Ehren von Generalsekretär Erich Honecker in der Redoute in Bonn-Bad Godesberg

 

Herr Generalsekretär, meine Damen und Herren!

Ich heiße Sie, Herr Generalsekretär, hier in Bonn willkommen. Es ist richtig, daß wir zusammenkommen und miteinander sprechen. Auf Ihren Besuch in der Bundesrepublik Deutschland und auf unsere Begegnung richten sich die Blicke von Millionen Deutschen zwischen Stralsund und Konstanz, zwischen Flensburg und Dresden - und in Berlin. Viele befinden sich in einem Zwiespalt widerstreitender Gefühle: Die Menschen in Deutschland wissen, daß hier zwei Staaten bestehen, die viele praktische Fragen miteinander regeln müssen. Aber sie wissen auch: Dieser Besuch hat eine besondere menschliche und politische Dimension. Er unterscheidet sich von den üblichen Begegnungen in Ost und West. Das Bewußtsein für die Einheit der Nation ist wach wie eh und je, und ungebrochen ist der Wille, sie zu bewahren. Diese Einheit findet Ausdruck in gemeinsamer Sprache, im gemeinsamen kulturellen Erbe, in einer langen, fortdauernden gemeinsamen Geschichte. So tut sich heute mancher schwer mit seinen Empfindungen und mit der Überlegung, wie sich dieses Treffen in die Kontinuität deutscher Geschichte einfüge. Unser Zusammentreffen in Bonn ist aber weder Schlußstrich noch Neubeginn. Es ist ein Schritt auf dem Weg einer schon lange währenden Entwicklung. Sie ist gekennzeichnet durch das Bemühen um ein geregeltes Miteinander. Vor fast fünfzehn Jahren haben die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik den Vertrag über die Grundlagen ihrer Beziehungen unterzeichnet. Dieser Vertrag zeigt Grenzen und Möglichkeiten auf. Möglichkeiten eröffnen sich dort, wo praktische Fragen zum Wohle der Menschen in beiden Staaten gelöst werden können, damit es zu einem Verhältnis guter Nachbarschaft kommt.

Im Rahmen dieses Vertrages steht auch Ihr Besuch, Herr Generalsekretär. Vor fast sechs Jahren, im Dezember 1981, sind Sie mit meinem Amtsvorgänger Bundeskanzler Helmut Schmidt am Werbellinsee zusammengekommen. Damals haben Sie seine Einladung in die Bundesrepublik Deutschland angenommen. Ich habe diese Einladung nach meiner Amtsübernahme aufrechterhalten und bekräftigt. In der Zwischenzeit haben wir bei mehreren Gelegenheiten lange miteinander gesprochen. So wissen wir beide, wo die Chancen dieses Besuchs liegen und bei welchen Fragen wir uns nicht näherkommen werden. Dazu gibt es ja auch im Grundlagenvertrag deutliche Hinweise.

An den unterschiedlichen Auffassungen der beiden Staaten zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage, kann und wird dieser Besuch nichts ändern. Für die Bundesregierung wiederhole ich: Die Präambel unseres Grundgesetzes steht nicht zur Disposition, weil sie unserer Überzeugung entspricht. Sie will das vereinte Europa, und sie fordert das gesamte deutsche Volk auf, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.

Das ist unser Ziel. Wir stehen zu diesem Verfassungsauftrag, und wir haben keinen Zweifel, daß dies dem Wunsch und Willen, ja der Sehnsucht der Menschen in Deutschland entspricht. Dieses Bestreben steht im Einklang mit dem Grundlagenvertrag und dem Brief zur deutschen Einheit. Wir haben dort auch den Gewaltverzicht bekräftigt. Auch dieser ist nicht allein Verfassungsgebot, sondern zentraler Bestandteil der Politik der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an. Krieg und Gewalt dürfen nie wieder Mittel deutscher Politik sein. Wir achten die bestehenden Grenzen, doch die Teilung wollen wir überwinden: auf dem Weg friedlicher Verständigung und in Freiheit. Die deutsche Frage bleibt offen, doch ihre Lösung steht zur Zeit nicht auf der Tagesordnung der Weltgeschichte, und wir werden dazu auch das Einverständnis unserer Nachbarn brauchen.

Wie im Zusammenhang mit dem Abschluß des Grundlagenvertrages ausdrücklich festgestellt worden ist, bestehen die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes und für Berlin unverändert fort. Gerade in Berlin kommt das deutlich zum Ausdruck, wo die Berliner in diesem Jahr den 750. Geburtstag ihrer Stadt feiern.

Die Erfahrung lehrt, daß die gegensätzlichen Positionen in Grundsatzfragen die praktische Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten in Deutschland nicht behindern müssen. So ist in den vergangenen Jahren vieles gut geregelt worden, manches wird verhandelt, anderes läßt noch auf sich warten. Doch die Tendenz ist insgesamt positiv - und soweit es an der Bundesrepublik Deutschland liegt, soll es dabei bleiben.

Bei unserer Begegnung in Moskau vor zweieinhalb Jahren haben wir uns eingehend darüber unterhalten, inwieweit besonders jüngere Menschen in der DDR mehr Reisemöglichkeiten erhalten könnten. Bis Anfang der achtziger Jahre kamen jährlich - neben Rentnern - nur einige zehntausend Besucher. 1986 dagegen konnten wir hier in der Bundesrepublik Deutschland etwa eine Million Rentner und über 550.000 Besucher unterhalb des Rentenalters begrüßen. Ich wünsche sehr, daß 1987 tatsächlich - wie es den Anschein hat - sowohl bei den Rentnern als auch bei den Besuchern unterhalb des Rentenalters jeweils die Millionengrenze überschritten wird. Das wären rund zwei Millionen Besucher allein in diesem Jahr. Und nach unserem heutigen Gespräch, nach den von Ihnen vorgelegten Zahlen, ist diese Zahl zum heutigen Datum bereits weit überschritten.

Aus zahlreichen Gesprächen weiß ich, wie viel das für die Menschen in Deutschland bedeutet. Gerade dieses Beispiel unterstreicht, daß sich die Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland in den letzten Jahren insgesamt günstig entwickelt haben. Konzentrieren wir uns in diesen Tagen auf das Machbare, und bleiben wir uns auch einig, die zur Zeit unlösbaren Fragen nicht in den Vordergrund zu stellen. Mit unserer praktischen Zusammenarbeit trotz aller Gegensätze haben wir ein Beispiel gegeben - zum Wohle der Menschen, und im Interesse des Friedens. Auch die übrigen Völker Europas wünschen, daß sich die Deutschen in Ost und West vertragen und im gegenseitigen Umgang jene Humanität erkennen lassen, die dem Volk Lessings, Schillers und Goethes wohl ansteht.

Zu Werken des Friedens sind wir um so mehr verpflichtet, als in diesem Jahrhundert von deutschem Boden entsetzliches Unheil und Leid ausgegangen ist. Auch daher ist es Aufgabe beider Staaten in Deutschland, durch den Ausbau ihrer Zusammenarbeit zur Verbesserung des politischen Klimas und zur Vertrauensbildung in den West-Ost-Beziehungen beizutragen.

Daß unsere Regierungen Rüstungskontrolle und Abrüstung im Rahmen der übergreifenden Ost-West-Verhandlungen jeweils zu fördern haben, scheint mir selbstverständlich. Friedenssicherung und Gewaltverzicht sind zwingende Erfordernisse der Vernunft und der Moral.

Dabei wissen wir sehr wohl, daß die Hauptverantwortung für einen ertragreichen Ost-West-Dialog auf diesem Gebiet bei den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion liegt.

Die Deutschen haben gelernt, ihre Möglichkeiten und deren Grenzen realistisch einzuschätzen. Diese werden durch die Unvereinbarkeit der politischen Ordnungen beider Staaten und die verschiedene Bündniszugehörigkeit bestimmt. Für die Bundesrepublik Deutschland bleibt die Werte- und Sicherheitsgemeinschaft in der Atlantischen Allianz unverzichtbares und unveränderliches Fundament ihrer Politik, die den Frieden in Freiheit festigen will. Wir wollen überall weniger Waffenarsenale und überall mehr Sicherheit - gerade auch für die Deutschen im Herzen Europas. Erste konkrete Vereinbarungen erscheinen jetzt greifbar nahe. Die von mir geführte Bundesregierung hat ihren Beitrag dazu geleistet.

Ein sicherer und gerechter Friede wird aber nie allein das Werk von Rüstungskontrolle und Abrüstung sein. Wir sind aufgerufen, an einer großen Aufgabe mitzuwirken: der Aufgabe, eine europäische Friedensordnung zu gestalten, die die Spaltung Europas überwindet, Völker und Staaten zusammenführt und für die Menschen die Grenzen öffnet.

Die gemeinsame Geschichte, die uns Deutsche im Guten wie im Bösen unentrinnbar miteinander verbindet, hat uns eine weitere zentrale Lehre vermittelt: Niemals wieder darf der Mensch als bloßes Mittel für politische Zwecke mißbraucht werden. Friede beginnt mit der Achtung der unbedingten und absoluten Würde des einzelnen Menschen in allen Bereichen seines Lebens. Jeder Mensch muß über und für sich selbst bestimmen können.

Deshalb wurde in der Schlußakte der KSZE ausdrücklich anerkannt: Die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist "ein wesentlicher Faktor für den Frieden, die Gerechtigkeit und das Wohlergehen".

Wir wollen Friede in Deutschland, und dazu gehört auch, daß an der Grenze Waffen auf Dauer zum Schweigen gebracht werden. Gerade Gewalt, die den Wehrlosen trifft, schädigt den Frieden. Versäumen wir es nicht, Maßnahmen zu treffen, die auch von Mensch zu Mensch ein Stück Frieden stiften, indem sie mehr Nähe, Miteinander und Freiheit schaffen.

Die Menschen in Deutschland leiden unter der Trennung. Sie leiden an einer Mauer, die ihnen buchstäblich im Wege steht und die sie abstößt. Wenn wir abbauen, was Menschen trennt, tragen wir dem unüberhörbaren Verlangen der Deutschen Rechnung: Sie wollen zueinander kommen können, weil sie zusammengehören.

Daher müssen Hindernisse jedweder Art abgeräumt werden. Die Menschen in Deutschland erwarten, daß nicht Barrieren aufgetürmt werden. Sie wollen, daß wir - gerade auch in diesen Tagen - neue Brücken bauen.

Auch deswegen sollten wir uns noch intensiver darum bemühen, für die Deutschen ein Maximum an Miteinander und Begegnungen, an Reisen und Austausch zu ermöglichen. Wir wünschen das vor allem für die jüngere Generation. Ich befürworte auch mehr Städtepartnerschaften - füge allerdings hinzu: Die neuen Möglichkeiten, die sie für persönliche, sportliche und kulturelle Begegnungen bieten, sollten nicht vorwiegend Funktionsträgern zugute kommen.

Zu einem freien Austausch müssen Bücher gehören, Zeitungen, Filme, auch das Wort des Wissenschaftlers und das Werk des Künstlers. Dafür wollen wir das Kulturabkommen mit Leben erfüllen.

Das Abkommen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, das morgen unterzeichnet werden wird, kann weitere gute Impulse auslösen. In diese Vereinbarungen ist selbstverständlich auch Berlin voll einbezogen. Berlin ist ein zentraler Punkt in unseren Beziehungen. Wenn wir sie konstruktiv weiterentwickeln wollen, darf dieser Prozeß keinen Bogen um Berlin schlagen. Berlin muß in vollem Umfang an der Zusammenarbeit teilhaben.

Ich begrüße es, daß wir uns auf einen lnformations- und Erfahrungsaustausch beim Strahlenschutz verständigt haben. Ein besonders wichtiger Fortschritt ist die Umweltschutz-Vereinbarung. Denn wir haben eine gemeinsame Verantwortung für die natürlichen Lebensgrundlagen der nachwachsenden Generationen in Deutschland.

Wie so viele Orte in Deutschland erinnert auch die Redoute in Bad Godesberg. wo wir jetzt zusammen sind, an die Kontinuität der deutschen Geschichte. Hier in diesem Haus traf Ludwig van Beethoven im Jahr 1792 erstmals mit Joseph Haydn zusammen. Beethoven ist dann nach Wien gezogen; seine Musik gehört nicht diesem oder jenem Staat, sondern allen Deutschen und der ganzen Welt.

Wir dürfen uns auch an einem Abend wie dem heutigen daran erinnern, daß Deutschland und die Deutschen der Welt auf den Feldern der Kunst, der Literatur, der Philosophie, der Technik, der Naturwissenschaften Werke geschenkt haben, auf die wir gemeinsam stolz sein können.

So möchte ich dazu ermuntern, unsere Fragen auch in den weiteren Zusammenhängen der wechselvollen deutschen Geschichte zu sehen. Niemand von uns weiß, was der beständige Wandel der Zeit und der Umstände uns und den nachfolgenden Generationen bringen wird. Aber eines ist sicher: Solchen Wandel wird es auch in Deutschland weiter geben.

Künftige Generationen der Deutschen werden uns danach beurteilen, wie wir unter schwierigen Gegebenheiten mit den praktischen und den moralischen Aufgaben fertiggeworden sind, die uns die Teilung und die Sorge um den Frieden stellen. Gewiß, der Handlungsspielraum des Politikers ist beschränkt. Wer kennt besser die Sachzwänge unserer Zeit als wir Deutsche! Dennoch: Guter Wille, dies glaube ich, kann viel Gutes bewirken - im Dienst an den Deutschen und für den Frieden in Europa und in der Welt. Darauf, und auf Ihr persönliches Wohl, Herr Generalsekretär, erhebe ich mein Glas.

Quelle: Texte zur Deutschlandpolitik. Reihe III, Band 5 (1987). Hrsg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Bonn 1988. S. 194-199.