1. Juli 1991

Erklärung vor der Bundespressekonferenz in Bonn

 

I.

Mit tiefer Sorge haben wir in den letzten Tagen die dramatische Zuspitzung der Ereignisse in Jugoslawien verfolgt. Was sich dort abgespielt hat und noch abspielt, geht ganz Europa an. Vor allem die Europäische Gemeinschaft ist gefordert, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um zu einer friedlichen Lösung des Konflikts beizutragen.

Gestern Abend sind die drei Außenminister der Troika zum zweiten Mal nach Jugoslawien geflogen, um in dem Konflikt zu vermitteln. Inzwischen ist die schon bei dem ersten Zusammentreffen gemachte Zusage eingelöst worden, den Kroaten Stipe Mesic zum Vorsitzenden des Staatspräsidiums zu wählen. Damit ist erreicht, dass die Streitkräfte wieder dem verfassungsmäßigen Oberbefehl unterstellt sind. Jetzt kommt es vor allem darauf an, dass die jugoslawische Volksarmee sich unverzüglich in die Kasernen zurückzieht und der vereinbarte Waffenstillstand eingehalten wird. Die Einheit Jugoslawiens kann nicht mit Waffengewalt aufrechterhalten werden.

Nur ernsthafte Verhandlungen über die Neugestaltung der staatlichen Struktur dieses Landes können eine Lösung bringen, die Bestand hat. Hierbei müssen die in der KSZE-Schlussakte sowie in der „Charta von Paris" niedergelegten Prinzipien Anwendung finden. Dazu gehören sowohl die Menschenrechte, die legitimen Rechte der Minderheiten wie auch das Selbstbestimmungsrecht. Wenn die Kampfhandlungen eingestellt werden, ist die Chance für Gespräche und Verhandlungen gegeben. Ich appelliere nachdrücklich an alle Beteiligten diese Chance ernsthaft zu nutzen.

Außenminister Genscher wird heute - auch in seiner Eigenschaft als derzeitiger Vorsitzender im Krisenmechanismus der KSZE - nach Jugoslawien reisen. Er wird in seinen Gesprächen deutlich machen, dass die weitere Zusammenarbeit mit Jugoslawien entscheidend davon abhängt, dass jeder Einsatz militärischer Gewalt - oder auch die Drohung damit - unterbleibt.

Ich habe bereits auf dem Europäischen Rat in Luxemburg gefordert, dass die Finanzhilfe der Europäischen Gemeinschaft für Jugoslawien eingefroren wird, solange eine friedliche Lösung des Konflikts nicht gesichert ist. Dieser Forderung haben sich die anderen Teilnehmer angeschlossen. An ihr werden wir uneingeschränkt festhalten.

 

II.

Der Europäische Rat hat sich darüber hinaus mit dem Stand der beiden Regierungskonferenzen über die Wirtschafts- und Wahrungsunion sowie über die Politische Union befasst. Der Rat hat ausdrücklich die beachtlichen Fortschritte gewürdigt, die unter luxemburgischer Präsidentschaft erreicht wurden.

In der Orientierungsdebatte über die wesentlichen Fragen beider Konferenzen habe ich nochmals deutlich gemacht, dass wir in Maastricht nur dann zu einem Abschluss kommen werden, wenn dem Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion ein gleichgewichtiges Ergebnis beim Vertrag über die Politische Union gegenübersteht.

Dies bedeutet für uns insbesondere eine substantielle Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments, entscheidende Fortschritte bei der Außen- und Sicherheitspolitik sowie in Kernbereichen der Innen- und Justizpolitik. Letzteres heißt konkret:

- Wir brauchen dringend ein europäisches Asylrecht sowie eine gemeinsame Einwanderungs- und Ausländerpolitik, um mit der dramatischen Entwicklung fertig zu werden.
- Wir brauchen ebenso dringend europäische Einrichtungen, die uns in die Lage versetzen, den Kampf gegen die Drogenmafia sowie das organisierte Verbrechen zu bestehen („Europol").

Ich begrüße es, dass der Europäische Rat meinem Vorschlag grundsätzlich zugestimmt hat, die Arbeiten hierüber sowohl in der Regierungskonferenz als auch parallel bei den Innenministern zügig in Angriff zu nehmen. Ziel ist die Verabschiedung konkreter Maßnahmen im Dezember auf dem EG-Gipfel in Maastricht.

In der Wirtschafts- und Währungsunion hat die große Mehrheit der Mitgliedstaaten unsere Grundsatzpositionen klar unterstützt. Dies gilt vor allem für zwei Bereiche, die zuletzt in der Konferenz im Vordergrund der Diskussion standen:

- Die Unerlässlichkeit sofortiger wirtschaftspolitischer Konvergenzanstrengungen,
- die Ablehnung jeglicher Grauzonen in der geldpolitischen Verantwortung.

Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse in Jugoslawien sollte jedem klar sein, dass Europa die vor uns liegenden Herausforderungen nur dann bestehen kann, wenn es seine Kräfte bündelt und gemeinsam handelt.

 

III.

Heute vor einem Jahr hat der Umtausch der Mark der DDR in D-Mark und damit die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Deutschland begonnen. Anfang 1990 verließen Tag für Tag Tausende von Menschen aus der damaligen DDR ihre Heimat in Richtung Westen.

In dieser schwierigen Situation war das Angebot einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion im Februar 1990 ein deutliches Signal der Hoffnung auf dem Weg zur staatlichen Einheit.

Die Bundesregierung war fest entschlossen, die wirtschaftliche und soziale Einheit - und in deren Folge die staatliche Einheit - Deutschlands rasch zu vollenden. Heute weiß jedermann, dass wir damals genau zum richtigen Zeitpunkt gehandelt haben. Die Menschen verstanden die Ankündigung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion als Signal. Das belegt die Entwicklung zwischen Februar und Juli 1990.

Was damals nach der Volkskammerwahl am 18. März von den Verhandlungsdelegationen unter Leitung der Herren Tietmeyer und Krause in kurzer Zeit geleistet wurde, verdient Respekt und Anerkennung. Ebenso danke ich Bundesminister Waigel und allen beteiligten Beamten für ihren engagierten Beitrag. Erheblichen Anteil am Gelingen der Wahrungsunion hat die Deutsche Bundesbank. Organisation und erfolgreiche Durchführung der Währungsumstellung sind ihr Verdienst.

 

IV.

Festzuhalten bleibt heute - ein Jahr später:

Die Währungsumstellung in der ehemaligen DDR hat die Stabilität der D-Mark - entgegen manchen pessimistischen Vorhersagen -nie in Frage gestellt. Zugleich war der Wahrungsumtausch für die Sparer in den neuen Bundesländern durchaus vorteilhaft. Ihre Vermögensposition kommt bereits heute dem nahe, was im Westen Deutschlands zu Beginn der siebziger Jahre erreicht war. Dies ergeben Untersuchungen der Deutschen Bundesbank.

Die Wirtschaftsunion hat in den neuen Bundesländern nach 40 Jahren erzwungener Abgeschlossenheit endlich die Möglichkeit eröffnet, dass wirtschaftliche Freiheit persönlich erfahrbar wird.

Die Sozialunion bietet Gewähr, dass jeder, der auf Schutz und Hilfe angewiesen ist, mit der Solidarität der Gemeinschaft rechnen kann. Die Renten in den neuen Bundesländern sind seit dem vergangenen Jahr mehrmals kräftig erhöht und an die Lohnentwicklung der Arbeitnehmer gekoppelt worden. Mit Wirkung von heute erfolgt eine weitere Steigerung um durchschnittlich 15 Prozent.

Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion eröffnet eine Vielzahl neuer Berufs- und Lebenschancen. Es gibt inzwischen Hunderttausende von Unternehmensgründungen. Die Investitionspläne von Unternehmen und öffentlicher Hand erreichen allein für dieses Jahr eine Größenordnung von weit über 60 Mrd. DM. Die Aufträge der Betriebe nehmen jetzt kräftig zu - allein am Bau zuletzt mit + 50 Prozent. Gerade veröffentlichte Konjunkturanalysen der Wirtschaftsforschungsinstitute in Kiel und Berlin gehen davon aus, dass wir noch im zweiten Halbjahr 1991 in den neuen Bundesländern die wirtschaftliche Talsohle durchschreiten.

Aber richtig bleibt ebenso, was ich im Deutschen Bundestag am 21. Juni 1990 gesagt habe: „Es wird harte Arbeit, auch Opfer, erfordern, bis wir ... Wohlstand und sozialen Ausgleich für alle Deutschen verwirklichen können."

Der Übergang von der Kommandowirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft macht tiefgreifende Veränderungen unumgänglich. So wird zum Beispiel von den Mitbürgern in den neuen Bundesländern verlangt, sich in wenigen Monaten in einer für sie völlig neuen Wirtschafts-, Rechts- und Gesellschaftsordnung zurechtzufinden. Dies ist für sich genommen bereits eine große persönliche Leistung.

Ich weiß, dass sich gerade in diesen Tagen viele Menschen Sorgen um die Zukunft ihrer Arbeitsplätze machen. Sie brauchen unser Verständnis und unsere Solidarität. Aufgabe aller, die Einfluss auf Investitionen und Beschäftigung haben, ist es, zum schnellen Entstehen vieler zukunftsfähiger Arbeitsplätze beizutragen.

Die Bundesregierung fördert deshalb Investitionen und Beschäftigung in den neuen Bundesländern in einer Weise, die einmalig in Deutschland und Europa ist. Als ein Beispiel für viele nenne ich das „Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost", für das wir in der Kabinettsitzung der vergangenen Woche eine erste ermutigende Zwischenbilanz gezogen haben.

Hinzu kommen müssen Qualifizierungs- und Umschulungsmöglichkeiten sowie Bereitschaft zu Eigeninitiative. Ebenso können Arbeitsförderungs- und Qualifizierungsgesellschaften dazu beitragen, die schwierige Phase am Arbeitsmarkt der neuen Bundesländer zu überbrücken.

 

V.

Mit der Vollendung der staatlichen Einheit Deutschlands und im Zuge des europäischen Einigungsprozesses wird von Deutschland und Europa ein stärkeres Engagement erwartet, um die globalen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen zu bewältigen.

Auf dem kommenden Wirtschaftsgipfel in London werde ich deutlich machen: Die wirtschaftlich stärksten Länder müssen Last und Verantwortung, die aus den globalen Veränderungen resultieren, gemeinsam tragen.

Ich begrüße, dass auch Präsident Gorbatschow nach London kommen wird. Im Vorfeld werde ich am kommenden Freitag in Kiew mit Präsident Gorbatschow zusammentreffen. Die Entwicklung in der Sowjetunion wird dort, wie auch in London, ein wichtiges Thema unserer Gespräche sein.

Der Gipfel wird sich erneut mit der Uruguay-Runde des GATT befassen. Als eine der größten Welthandelsnationen haben wir besonderes Interesse an deren baldigem erfolgreichen Abschluss.

Sie wissen, dass ich mich besonders für den Schutz der tropischen Regenwälder einsetze. Auch in dieser Frage erwarte ich weitere Fortschritte, insbesondere hinsichtlich des umfassenden Pilotprojekts zum Schutz des brasilianischen Tropenwaldes. Ich wünsche mir, dass vom Londoner Gipfel ein konkretes Signal zum wirksamen Schutz von Mensch und Umwelt ausgeht.

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 75 (2. Juli 1991).