Herr Ministerpräsident Stoiber,
Herr Präsident Stärker,
meine Damen und Herren Abgeordnete,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
zunächst möchte ich den bayerischen Unternehmern auf dem Bayerischen Unternehmertag 1997 die herzlichen Grüße und guten Wünsche der Bundesregierung überbringen.
Die bayerischen Unternehmerverbände feiern in diesem Jahr ihren 50. Geburtstag. Dies ist ein guter Anlaß, um auf das in den vergangenen fünf Jahrzehnten Erreichte zurückzublicken. Um Kraft für die neuen großen Herausforderungen zu gewinnen, sollten wir uns immer wieder auch daran erinnern, wie schwierig dieser Weg war und wieviel Energie und Überzeugungsfähigkeit dazu gehört haben, um ihn erfolgreich zu gehen. Deshalb: Herzlichen Dank und meinen besonderen Respekt all jenen, die diesen Weg mitgestaltet haben.
Als gemeinsames Sprachrohr der bayerischen Arbeitgeber erfüllt die Vereinigung der Arbeitgeberverbände in Bayern wichtige Aufgaben: Sie ist Gesprächspartner für die Politik und Ansprechpartner für die Gewerkschaften. Die heutige Veranstaltung ist daher zugleich eine gute Gelegenheit, die herausragende Bedeutung der Sozialpartnerschaft in unserem Land zu würdigen. Die Tarifautonomie ist eine der wichtigsten Errungenschaften in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Sie hat sich jahrzehntelang bewährt und ist einer der großen positiven Standortfaktoren für unser Land. Diesen wollen wir auch in Zukunft nicht missen.
Meine Damen und Herren, die Tarifautonomie bedeutet für die Sozialpartner eine große Chance. Sie überträgt ihnen aber auch große Verantwortung: Wer über die Arbeitskosten und die Arbeitsbedingungen bestimmt, hat wesentlichen Einfluß auf die Höhe der Beschäftigung. Vor dem Hintergrund der schwierigen Arbeitsmarktlage brauchen wir heute vor allem Vereinbarungen über mehr Flexibilität in den Betrieben und den Regionen, etwa bei der Festsetzung von Löhnen und Arbeitszeiten. Ich bin entschieden gegen eine Abschaffung des Flächentarifvertrags. Ich setze vielmehr darauf, daß wir fähig sind, umzudenken und das Notwendige zu tun.
Die Sozialpartner sind auf gutem Wege: BDA und DGB haben ihren Mitgliedsverbänden Ende Mai Empfehlungen zur Fortentwicklung des Flächentarifvertrags vorgelegt. Zudem erlauben die Rahmentarifverträge verschiedener Branchen bereits flexible Lösungen. Die Betriebe sind ihrerseits gefordert, diese Chancen noch stärker zu nutzen. Ein positives Beispiel ist die Tarifvereinbarung in der Chemieindustrie. Die Tarifpartner haben Öffnungsklauseln beschlossen, durch die die Betriebe zusätzliche Spielräume vor allem für die Arbeitszeitgestaltung erhalten.
Für mich ist klar: Wir werden unsere Probleme in Deutschland nur lösen, wenn wir den Grundkonsens zwischen Politik und den Sozialpartnern und gerade auch zwischen den Sozialpartnern erhalten. Vor diesem Hintergrund ist auch das Thema Ihres Unternehmertages zu sehen: "Konflikt oder Konsens - Wirtschaft und Gesellschaft im Umbruch". Es greift eine zentrale und aktuelle Fragestellung für unser Land auf: Sind wir Deutschen auch heute fähig zu Gemeinsamkeit? Die drängenden Zukunftsfragen sind nicht in Alleingängen und schon gar nicht im Gegeneinander zu lösen. Wir müssen statt dessen - ungeachtet aller Auseinandersetzungen des Tages - ein vernünftiges Miteinander suchen und dann auch entsprechend handeln. Gleichwohl kann es, dies sage ich hier ebenso deutlich, Konsens nicht um jeden Preis geben.
Meine Damen und Herren, ich bin zuversichtlich, daß der Konsens für unser Land auch künftig der richtige Weg ist. Wir haben in der jüngsten Zeit neben weniger erfolgreichen Beispielen auch viele positive Signale erfahren. Im Januar letzten Jahres haben wir zwischen Bundesregierung, Wirtschaft und Gewerkschaften das "Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung" vereinbart. Unter dem Dach dieses Bündnisses wurden wichtige Weichen gestellt.
Die Bundesregierung hat eine Vielzahl von Reformen durchgesetzt oder auf den Weg gebracht. Wir haben beispielsweise die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auf eine neue gesetzliche Grundlage gestellt. Trotz aller - zum Teil vermeidbarer - Diskussionen sind schon heute positive Wirkungen feststellbar. Dadurch wurden tarifvertragliche Änderungen angestoßen, die bei den Unternehmen zu Kostenentlastungen von über zehn Milliarden D-Mark geführt haben. Zudem sind die Fehlzeiten in den Betrieben auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren zurückgegangen.
Ein weiteres Beispiel ist die Erleichterung der Befristung von Arbeitsverträgen. Hiermit wurden die Möglichkeiten verbessert, Überstunden in Arbeitsplätze umzuwandeln. Außerdem haben wir die Kündigungsschutzschwelle heraufgesetzt und dadurch die Einstellung neuer Mitarbeiter in kleinen Betrieben erleichtert. Ich wünsche mir jetzt, daß all diese Verbesserungen auch tatsächlich genutzt werden, um zusätzliche Arbeitsplätze bereitzustellen.
Vor wenigen Wochen, am 22. Mai 1997, haben wir außerdem die "Gemeinsame Initiative für mehr Arbeitsplätze in Ostdeutschland" von Bundesregierung, Wirtschaft und Gewerkschaften in Berlin vorgestellt. Unser Ziel ist es, dem Aufbau Ost neue Schubkraft zu geben, die Investitionstätigkeit in den neuen Ländern zu stärken und damit neue Arbeitsplätze zu schaffen. Angesichts der schwierigen Lage am Arbeitsmarkt in unserem Land kann ich nur dazu ermuntern, sich auch auf regionaler und betrieblicher Ebene zusammenzusetzen und ähnliche Vereinbarungen zu treffen.
Meine Damen und Herren, der Bayerische Unternehmertag 1997 findet in einer Zeit entscheidender Weichenstellungen statt. In zweieinhalb Jahren geht das 20. Jahrhundert zu Ende, ein neues Jahrtausend beginnt. Weltweit beobachten wir dramatische Veränderungen.
Auch die Gipfelkonferenzen dieser Tage spiegeln dies wider: Vor eineinhalb Wochen - vom 20. bis 22. Juni - fand zum Beispiel das Treffen der Staats- und Regierungschefs führender Industrieländer in Denver statt. In diesem Jahr war es erstmals ein G 8-Gipfel, Präsident Jelzin war von Anfang an dabei. Wer hätte dies vor zehn Jahren für möglich gehalten. Wer hätte damals auch - als wir noch über die Stationierung von Kurzstreckenraketen diskutiert haben - geglaubt, daß wir heute über die Probleme der Deutschen Einheit reden. Klar ist: Die Deutsche Einheit ist für uns ein großartiges Geschenk - auch wenn einige dies heute schon gar nicht mehr wahrnehmen wollen.
An der Schwelle zu einem neuen Jahrhundert haben wir Deutschen Chancen wie nie zuvor in unserer jüngeren Geschichte. Als bevölkerungsreichstes Land in der Mitte Europas sind wir heute von Freunden und Partnern umgeben, und wir haben gleichzeitig gute Beziehungen zu Moskau, Paris, Washington und London. Wie positiv diese Entwicklung gerade für uns Deutsche insgesamt ist, wird immer noch viel zu wenig zur Kenntnis genommen.
Natürlich wird durch die zunehmende Globalisierung der Produktion und Wirtschaftsbeziehungen auch der Wettbewerb immer härter und schärfer. Die Gewichte im Welthandel verschieben sich: Andere Länder holen auf, neue Wettbewerber kommen hinzu. Ich denke hier an die dynamischen Volkswirtschaften in Asien, aber auch in Lateinamerika sowie an die Länder direkt vor unserer Haustür, in Mittel- und Osteuropa.
Die Globalisierung wird noch verstärkt durch den umwälzenden technischen Fortschritt. Durch die Informationstechnik beispielsweise gewinnen entlegene Standorte neue Anziehungskraft durch sekundenschnellen Datenaustausch rund um den Globus. Diese tiefgreifenden Veränderungen erfüllen verständlicherweise viele Menschen mit Sorge, zum Beispiel um ihren Arbeitsplatz. Wir müssen diese Sorgen ernst nehmen. Wir müssen aber zugleich auf die neuen Chancen hinweisen, etwa durch das Entstehen neuer Märkte für unsere Exporte.
Ich bin fest davon überzeugt, daß wir die neuen Aufgaben erfolgreich bewältigen. Wir schaffen es - so, wie es die Gründergeneration nach dem Zweiten Weltkrieg unter viel schwierigeren Bedingungen geschafft hat. Die zentralen Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, sind offensichtlich: Wir müssen die Arbeitslosigkeit bekämpfen und neue wettbewerbsfähige Arbeitsplätze schaffen, wir müssen uns rechtzeitig auf den demographischen Wandel einstellen, und wir müssen den Standort Deutschland fit machen für das 21. Jahrhundert.
Deutschland ist nach den USA die zweitgrößte Exportnation der Welt. Dies sollte für uns Ansporn sein, auch in Zukunft einen Spitzenplatz zu halten. Unser Land hat hervorragende Voraussetzungen. Wir haben eine ausgezeichnete Infrastruktur und hervorragend qualifizierte Arbeitnehmer. Wir haben eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur mit einem leistungsfähigen Mittelstand. Und wir haben eine beachtliche wirtschaftliche Stabilität sowie - ungeachtet der aktuellen Auseinandersetzungen - ein gutes soziales Klima. Hinzu kommt: Die Wirtschaftsperspektive ist positiv, das Konjunkturklima erwärmt sich. Wir haben alle Chancen, in diesem Jahr ein reales Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von zweieinhalb Prozent zu erreichen.
Allerdings, die Entwicklung der Beschäftigung bleibt enttäuschend. Die Zahl der Arbeitslosen ist noch immer viel zu hoch. Dies kann für niemanden akzeptabel sein. Das Schaffen neuer Arbeitsplätze bleibt innenpolitische Aufgabe Nummer eins. Der Zusammenhang zwischen Wachstum und Beschäftigung ist nicht mehr so eng wie früher. Wir müssen deshalb alles tun, um die Voraussetzungen für neue Arbeitsplätze in unserem Land weiter zu verbessern.
Gleichwohl bleibt die konjunkturelle Besserung eine unverzichtbare Voraussetzung für neue zusätzliche Arbeitsplätze. Der sich abzeichnende Aufschwung steht auf einem soliden Fundament. Mit einer Inflationsrate von eineinhalb Prozent haben wir faktisch Preisstabilität. Zugleich bewegen sich die Zinsen auf historisch niedrigem Niveau - das ist eine wichtige Voraussetzung für die Investitionen. Die Weltkonjunktur ist lebhaft - dies stärkt unsere Exporte ebenso wie die jüngste Aufwertung des Dollars. Wir haben in Deutschland in jüngster Zeit auch wieder Tarifabschlüsse - und dies ist eine besonders erfreuliche Entwicklung -, die mehr Rücksicht auf Wachstum und Beschäftigung nehmen.
Wir alle, die für Beschäftigung Verantwortung tragen, sind heute gemeinsam gefordert, die Voraussetzungen für mehr Beschäftigung weiter zu verbessern und zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Ich halte ausdrücklich an dem im Januar 1996 zwischen Wirtschaft, Gewerkschaften und Bundesregierung vereinbarten Ziel fest, die Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 zu halbieren. Natürlich ist dieses Ziel ehrgeizig. Es mag auch sein, daß wir es nicht erreichen. Entscheidend bleibt aber doch, daß wir uns ein Ziel setzen, an dem wir unsere Anstrengungen ausrichten.
Daß wir im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit erfolgreich sein können, zeigen nicht zuletzt die Erfahrungen der Vergangenheit: Zwischen 1983 und 1992 sind schon einmal mehr als drei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze in den alten Ländern geschaffen worden. Zur Jahreswende gab es in den alten Bundesländern immer noch knapp zwei Millionen Arbeitsplätze mehr als 1983 - trotz des Beschäftigungsrückgangs der letzten Jahre. Diese Entwicklung wird in der heutigen Diskussion allzugern ignoriert.
Dies alles zeigt: Wir haben Probleme in Deutschland, die wir angehen müssen. Wir können nicht einfach so weitermachen wie bisher. Dies hat im übrigen auch etwas mit Selbstachtung zu tun. Ich finde es unerträglich, wenn unsere Nachbarn - zum Beispiel die Österreicher und die Niederländer - mit unseren Standortnachteilen für ihre Länder werben - auch wenn ich dafür viel Verständnis habe. Dies macht um so deutlicher: Wir müssen die notwendigen Veränderungen entschlossen vorantreiben. Konkret bedeutet dies für uns zum Beispiel, daß wir bei den Arbeitszeiten noch flexibler werden und bei den Lohnabschlüssen noch stärker die schwierige Situation am Arbeitsmarkt berücksichtigen müssen.
Meine Damen und Herren, untrennbar mit dem Arbeitsmarkt verbunden ist das Thema Ausbildung. Wer heute versäumt, Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, trägt Mitverantwortung für Probleme unseres Arbeitsmarktes in der Zukunft. Eine gute Ausbildung ist die beste Absicherung gegen Arbeitslosigkeit. Hinzu kommt: Die Lehrlinge von heute sind die Arbeitskräfte von morgen. Gut ausgebildete Arbeitnehmer sind und bleiben ein wichtiger Aktivposten unseres Landes im weltweiten Wettbewerb. In diesem Jahr sind noch besondere Anstrengungen notwendig, damit wir wieder einen Ausgleich am Lehrstellenmarkt erreichen. Rund 630000 Jugendliche suchen in diesem Jahr eine Lehrstelle - das sind 13000 mehr als im vergangenen Jahr. Meine Bitte: Stellen Sie - wo immer möglich - auch 1997 wieder zusätzliche Ausbildungsplätze bereit.
Ein ausreichendes Lehrstellenangebot bleibt zunächst noch eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe. Bis zum Jahr 2005 steigt die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen weiter - auf über 700000. Für eine starke Industrienation wie Deutschland muß es möglich sein, genügend Lehrstellen für ihre jungen Menschen bereitzustellen. Wir haben hier vor allem auch eine moralische Verpflichtung. So, wie junge Menschen in der Pflicht gegenüber dem Staat und der Gesellschaft sind - zum Beispiel junge Männer bei der Bundeswehr oder im Zivildienst -, so steht unsere Solidargemeinschaft in der Verantwortung, ihnen eine grundlegende Voraussetzung für den Start ins Berufsleben zu ermöglichen.
Neben Wirtschaft und Gewerkschaften ist natürlich auch die Politik gefordert. Die Bundesregierung hat die Rahmenbedingungen für die Berufsausbildung in Deutschland auch bereits entscheidend verbessert: Wir haben zum Beispiel durchgesetzt, daß die Ausbildungsordnungen schneller und zeitnäher modernisiert werden. Weitere Anstrengungen im Ausbildungsbereich sind notwendig. Ich werde darüber auch in zwei Tagen im Gespräch mit den Regierungschefs der Länder reden. Ein wichtiger Punkt ist es, den Berufsschulunterricht betriebsfreundlicher zu organisieren. Die Lehrlinge müssen wieder mehr Zeit im Betrieb verbringen. Klar ist, daß es nicht darum geht, den Berufsschulunterricht zu verkürzen. Vielmehr brauchen wir flexible Gestaltungsmöglichkeiten, um den unterschiedlichen praktischen Bedürfnissen der Betriebe wieder stärker Rechnung zu tragen.
Meine Damen und Herren, für eine gute Zukunft unseres Landes ist die Bundesregierung entschlossen auf Reformkurs. Wir werden die notwendigen Reformen ohne Wenn und Aber angehen. In diesen Wochen und Monaten stehen wichtige Weichenstellungen auf der Tagesordnung. Nächste Woche entscheiden wir im Kabinett über den Nachtragshaushalt 1997 und den Haushalt 1998. Bei allen Schwierigkeiten halten wir daran fest, den konsequenten Stabilitätskurs der letzten Jahre fortzusetzen.
Bei der Beurteilung der Haushaltspolitik muß berücksichtigt werden, daß seit 1990 jährlich über 100 Milliarden D-Mark aus dem Bundeshaushalt in die neuen Länder fließen und daß seit 1990 allein der Bund im Zuge der deutschen Wiedervereinigung Erblasten von 350 Milliarden D-Mark übernommen hat. Zudem haben wir seit 1989 die Länder in Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie die Nachfolgestaaten der Sowjetunion mit Transferzahlungen von insgesamt gut 180 Milliarden D-Mark unterstützt.
Ich möchte in diesem Rahmen auch einmal darauf hinweisen, daß der Anteil der Bundesausgaben am Bruttoinlandsprodukt mit knapp 13 Prozent jetzt wieder den niedrigsten Stand seit Mitte der 50er Jahre erreicht hat und damit auf dem Niveau von 1989 liegt. Das heißt: Der Bund nimmt die Wirtschaftskraft heute nicht stärker in Anspruch als Ende der 80er Jahre - trotz der hohen Arbeitslosigkeit und trotz der deutschen Wiedervereinigung. Unser Ziel bleibt es, die Staatsquote bis zum Jahr 2000 insgesamt wieder auf das Niveau vor der Wiedervereinigung - das heißt 46 Prozent - zurückzuführen. Eine niedrigere Staatsquote bedeutet mehr Spielraum für das Senken der Steuer- und Abgabenlast und ist zugleich wichtige Voraussetzung für zusätzliche Investitionen und mehr Beschäftigung.
Die Bundesregierung hat außerdem trotz schwieriger Mehrheitsverhältnisse große Reformprojekte auf den Weg gebracht. Ich bin sehr stolz darauf, daß wir - wie Anfang des Jahres angekündigt - alle drei großen innenpolitischen Reformwerke, die Steuerreform, die Rentenreform und die dritte Stufe der Gesundheitsreform, noch vor der parlamentarischen Sommerpause verabschiedet oder auf den Weg gebracht haben.
Für die Zukunftssicherung des Standortes Deutschland ist der Umbau unseres Steuersystems unverzichtbar. Positiv ist, daß die investitions- und beschäftigungsfeindliche Vermögensteuer seit Anfang dieses Jahres nicht mehr erhoben wird. Ich hoffe sehr, daß jetzt auch die Blockade im Bundesrat gegen die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer aufgegeben wird.
Nächster Baustein ist die große Steuerreform. Sie ist ein Schlüsselprojekt für mehr wirtschaftliche Dynamik und mehr Arbeitsplätze. Kernziel unserer Reform ist es, die Einkommen- und Körperschaftsteuersätze auf ein international wettbewerbsfähiges Niveau zu senken. Zugleich wollen wir Steuerschlupflöcher schließen und Steuervergünstigungen abbauen und damit das Steuersystem einfacher und leistungsgerechter gestalten. Für mich ist entscheidend, daß wir rasch Klarheit für Investoren schaffen, damit neue Arbeitsplätze möglichst schnell entstehen können. Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, daß in Deutschland eine Steuerreform zustandekommt, die diesen Namen auch verdient.
Ein weiterer Schwerpunkt unser Politik ist, die sozialen Sicherungssysteme auf die Zukunft vorzubereiten und die Lohnzusatzkosten zu senken. Wir müssen uns auf den demographischen Wandel in unserer Gesellschaft einstellen und noch stärker als bisher zur Kenntnis nehmen, daß der Anteil älterer Menschen in unserer Bevölkerung wächst. In Deutschland leben heute 13 Millionen Menschen, die 65 Jahre und älter sind. Im Jahr 2030 werden es bereits 19 Millionen sein. Hinzu kommt: Deutschland hat mit die niedrigste Geburtenrate in der Europäischen Union, nur Italien und Spanien weisen noch geringere Quoten auf. Zudem, und dies ist natürlich eine sehr erfreuliche Entwicklung, steigt die Lebenserwartung bei uns.
Der sich abzeichnende demographische Wandel erfordert, daß wir rechtzeitig die notwendigen Konsequenzen ziehen. Besonders betroffen sind das Gesundheitswesen und der Generationenvertrag in der Rentenversicherung. Heute, am 1. Juli, ist das Gesundheitsreformgesetz in Kraft getreten. Vor drei Wochen haben wir es im Bundestag gegen den Widerstand der Opposition durchgesetzt. Es stellt einen wichtigen Schritt dar, um die Balance zwischen unverzichtbarer Solidarität und notwendiger Eigenverantwortung zu verbessern.
Auch für die Alterssicherung hat die Bundesregierung ein klares Konzept. Wir werden damit die lohn- und beitragsbezogene Rente für die Zukunft sichern sowie eine kalkulierbare und tragfähige Belastung für die Beitragszahler in den kommenden Jahren gewährleisten. Zugleich geben wir Investoren damit ein verläßliches Signal, daß die Entwicklung der gesetzlichen Lohnzusatzkosten längerfristig begrenzt wird. Wir werden außerdem die Beitragszahler durch einen höheren Bundeszuschuß für die gesamtstaatlichen Aufgaben in der Rentenversicherung entlasten.
Der Entwurf für das Rentenreformgesetz 1999 ist vom Kabinett vor zwei Wochen beschlossen und auf den parlamentarischen Weg gebracht worden. Ziel bleibt die Verabschiedung des Gesetzentwurfes bis zum Ende dieses Jahres. Die Bundesregierung strebt dabei einen parteiübergreifenden Rentenkonsens an - aber nicht um jeden Preis.
Insgesamt halten wir daran fest - wie mit Wirtschaft und Gewerkschaften im Januar 1996 vereinbart -, daß die Summe der Sozialversicherungsbeiträge bis zum Jahr 2000 auf unter 40 Prozent zurückgeführt werden soll.
Entscheidend für eine gute Zukunft ist und bleibt die Sicherung des Friedens. Zentrale Herausforderung ist es, den europäischen Einigungsprozeß weiter voranzutreiben. Meine Damen und Herren, wir befinden uns mitten im Bau des Hauses Europa. Wir bauen ein Haus Europa, in dem die europäischen Völker, die dies wollen und können, ihren Platz finden, und - das ist sehr wichtig - in dem wir ein Dauerwohnrecht für unsere amerikanischen Freunde haben.
Ich sage dies auch mit Blick auf die historische Rede von Winston Churchill, die er im September 1946 in Zürich gehalten hat. Angeführt von Konrad Adenauer haben wir Deutschen, insbesondere wir jungen, den wunderbaren Ausspruch Churchills aufgenommen: Wir bauen die Vereinigten Staaten von Europa. Ich selbst habe - wie viele andere - über viele Jahrzehnte hinweg den Fehler begangen, diese Bezeichnung zu verwenden. Wir haben jedoch lernen müssen, daß sie in dieser Form zu einem Mißverständnis führt. Sie hat bei Teilen der Öffentlichkeit, auch bei uns in Deutschland, die Assoziation hervorgerufen, daß wir so etwas wie die Vereinigten Staaten von Amerika auf europäischem Boden schaffen wollten. Genau das wird dieses Haus Europa nicht sein.
Wir alle werden unsere nationale Identität behalten. Wir werden Franzosen, Italiener, Finnen, Briten und Deutsche bleiben, um nur einige zu nennen. Wir sind uns auch über die Form der europäischen Gemeinschaft einig. Wir wollen keinen europäischen Superstaat, in dem zentralistisch das Leben der Bürger reguliert wird. Im Gegenteil: Wir wollen ein bürgernahes und handlungsfähiges Europa, das auf dem Prinzip Einheit in Vielfalt aufbaut.
Wir haben auf diesem Weg in den vergangenen Jahren bereits eine gewaltige Strecke zurückgelegt und sind gerade dabei, weitere große Schritte voranzukommen. 1997 und 1998 sind Schlüsseljahre für den europäischen Einigungsprozeß. Vor zwei Wochen - am 16. und 17. Juni - haben wir auf dem Europäischen Rat in Amsterdam die Entscheidung über den revidierten EG-Vertrag getroffen. Ein wichtiges Ergebnis in Amsterdam war, daß wir die Beitrittsverhandlungen mit den ersten Ländern aus Mittel- und Osteuropa - wie geplant - ein halbes Jahr nach Ende der Regierungskonferenz aufnehmen werden, also Anfang 1998.
Ein weiteres zentrales Thema in Amsterdam bildeten die Vorbereitungen zur dritten Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, insbesondere die Einführung des Euros. Wir brauchen die gemeinsame europäische Währung. Nur mit einer gehobenen europäischen Freihandelszone ist unsere Zukunft nicht zu gewinnen. Wir müssen deshalb den Binnenmarkt durch das Vollenden der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ergänzen. Erst mit der Wirtschafts- und Währungsunion wird der europäische Binnenmarkt seine positiven Wirkungen für Wachstum und Arbeitsplätze voll entfalten können.
Voraussetzung dafür ist, daß der Euro eine stabile Währung wird. Diesem Ziel dient auch der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt, der auf die Initiative von Bundesfinanzminister Dr. Theo Waigel zurückgeht und der jetzt in Amsterdam unverändert verabschiedet wurde. Für die dauerhafte Stabilität der gemeinsamen europäischen Währung steht ebenso die künftige Europäische Zentralbank. Sie ist nach dem Modell der Deutschen Bundesbank als unabhängige Notenbank aufgebaut.
Das Einhalten der im Maastricht-Vertrag vereinbarten Stabilitätskriterien und des Zeitplans für die dritte Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion gehören untrennbar zusammen. Es bleibt bei dem, was wir gesagt haben, und zwar sowohl bezüglich des Einhaltens der im Maastricht-Vertrag vereinbarten Stabilitätskriterien als auch des Zeitplans: Das am Bruttoinlandsprodukt gemessene Budgetdefizit von 3 oder 3,0 Prozent - das ist überhaupt nicht mein Problem - darf nicht überschritten und der Zeitplan muß eingehalten werden.
Wer glaubt, er könne die Probleme jetzt lösen, indem er ausweicht und sich für eine Verschiebung des Zeitplans einsetzt, statt die Anstrengungen für das Einhalten der Kriterien fortzusetzen, der irrt sich. Dies wird jedenfalls nicht die Linie der Bundesrepublik und schon gar nicht meine Linie sein. Ich halte an den vereinbarten Beschlüssen fest. Ich sage hier ganz klar - ob dies bezweifelt wird oder nicht: Ich bin überzeugt, daß wir das Defizitkriterium erreichen und den Zeitplan einhalten können.
Im übrigen: Die endgültige Entscheidung, welche Länder den Euro einführen, wird im Mai kommenden Jahres auf Basis der dann feststehenden Ist-Daten für 1997 zu treffen sein. Ich halte nichts davon, auf dem Weg zur Vollendung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion auf die anderen Länder zu schauen und Ratschläge zu geben. Was uns Deutsche jetzt einholt, ist auch ein Teil unserer Arroganz. Manche bei uns haben sich jahrelang wie ein Primus aufgeführt und unseren Partnern und Freunden in Europa mit erhobenem Zeigefinger erklärt, was sie falsch machen oder was sie ändern müssen. Jetzt geht es uns Deutschen so, wie es häufig einem Klassenprimus geht. Wenn dieser eine schlechte Note hat, freut sich die ganze Klasse darüber. Und wenn wir jetzt Schwierigkeiten haben, freuen sich genauso alle anderen darüber. Meine Damen und Herren, wir sollten jetzt vor allem unsere eigenen Hausaufgaben machen und aufhören, darüber zu spekulieren, wer das Ziel erreicht und die Kriterien zeitgerecht erfüllt.
Ich möchte auch noch einmal darlegen, weshalb die Stabilität der gemeinsamen europäischen Währung für uns Deutsche so wichtig ist. Gerade viele unserer ausländischen Freunde haben Schwierigkeiten, unsere Stabilitätsdiskussion nachzuvollziehen. Das Verhältnis der Deutschen zur D-Mark kann man nur verstehen, wenn man die deutsche Geschichte kennt.
Millionen Deutsche haben in diesem Jahrhundert zweimal den Verfall ihrer Währung erlebt und alle Ersparnisse verloren. Millionen Deutsche haben vor dem Ersten Weltkrieg dem Kaiser vertraut und ihr Vermögen verloren. In der sicheren Erwartung, daß der Kaiser die Kriegsanleihen zurückbezahlen werde, hat auch mein Großvater seine knappen Ersparnisse in diese Anleihen investiert. Wir wissen, was damals passierte. In der Weimarer Republik gab es wirtschaftlich nur wenige gute Jahre, dann kam die große Inflation. Danach kamen Hitler, der Zweite Weltkrieg, das Ende der Nazizeit und der Zusammenbruch, der auch eine schwere moralische Krise bedeutete.
In dieser Stunde, im Sommer 1948, ist dann die D-Mark eingeführt worden. Für die Deutschen ist sie ein Symbol geworden. Die D-Mark gab es vor der Bundesflagge, vor unserer Nationalhymne und vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Wenn wir, die Deutschen, für den europäischen Einigungsprozeß jetzt diesen Beitrag leisten und für den Euro die D-Mark aufgeben, dann haben wir vernünftige Gründe, daran festzuhalten, daß dies eine stabile Währung sein muß.
Meine Damen und Herren, die Fortschritte der letzten Jahre in Deutschland und in Europa geben Anlaß zu einem realistischen Optimismus für die Zukunft. Ich bin zuversichtlich, daß wir die Probleme unseres Landes gemeinsam erfolgreich meistern werden. Dabei geht es nicht nur um Materielles. Entscheidend ist, daß unsere Werte stimmen. Gegenseitiges Vertrauen ist eine wesentliche Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Weltoffenheit, Menschlichkeit, Selbstvertrauen, Pflichterfüllung und Fleiß sind keine altmodischen Tugenden, sondern Schlüssel für eine gute Zukunft.
Wir haben die besten Chancen für das 21. Jahrhundert, wenn wir die Herausforderungen offensiv angehen. Meine Bitte an Sie ist: Lassen Sie sich von dem törichten Kulturpessimismus, den manche in unserem Land verbreiten, nicht beeindrucken. Unser Land ist ein wunderbares Land - im besten Sinne des Wortes. Ich möchte Sie alle herzlich dazu einladen, die sich uns bietenden Chancen anzunehmen und zu nutzen.
Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 68. 18. August 1997.