1. Juni 1995

Erklärung der Bundesregierung, abgegeben in der 41. Sitzung des Deutschen Bundestags

 

Frau Präsidentin,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

wir würdigen heute in dieser Sitzung des Bundestags den Beitrag der deutschen Heimatvertriebenen zum Wiederaufbau in Deutschland und zum Frieden in Europa.

Unter uns leben noch viele, die durch persönliche Erinnerung an Flucht und Vertreibung unmittelbar und nachhaltig betroffen und geprägt sind. Ihre Heimat waren der damalige deutsche Osten oder andere Gebiete in der Mitte, im Osten und Südosten Europas, in denen Deutsche seit Jahrhunderten siedelten und lebten.

Nur Unbelehrbare können bestreiten, dass die erste Ursache jener Tragödie im 30. Januar 1933 zu suchen ist. Eindeutig ist auch die Verantwortung für den Angriffskrieg im Osten, zuerst gegen Polen, dann gegen die Sowjetunion. Wer etwas anderes behauptet, hat nichts, aber auch gar nichts aus der Geschichte gelernt.

Wir müssen aber auch jenen nachdrücklich widersprechen, die in der Erinnerung an das Leid der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge einen Akt kleinlicher Aufrechnung oder gar einen Ausdruck von Revanchismus sehen wollen. Weder wird deutsche Schuld durch das Unrecht der Veitreibung auch nur um ein Jota gemindert, noch hebt deutsche Schuld das Unrecht der Vertreibung auf.

Die Heimatvertriebenen and Flüchtlinge haben einen Anspruch darauf, dass wir vor der Tragik ihres persönlichen Schicksals nicht die Augen verschließen, sondern auch das an ihnen verübte Unrecht beim Namen nennen. Dazu gehört vor allem, dass wir uns den Ablauf und die bis in unsere Zeit reichenden Folgen jener Tragödie bewusst machen. Ich halte dies für eine selbstverständliche menschliche Pflicht.

Schon im Winter 1944/45 hatte die Flucht eines Teils der deutschen Bevölkerung vor der Roten Armee begonnen: aus Ostpreußen, Danzig und Westpreußen, aus Pommern, Ostbrandenburg und Schlesien - eine Flucht hauptsächlich von Frauen, Kindern und alten Menschen; denn die jüngeren Männer waren zumeist an der Front, gefallen oder in Kriegsgefangenschaft.

Für die jüngere Generation ist das alles schon sehr fern gerückt. Für die, die es selbst erlebt haben, wurde es oft zum Trauma, einem Trauma, das bei vielen bis heute nachwirkt. Das Elend der endlosen Trecks, der Hunger und die eisige Kälte auf dem langen Weg nach Westen, die Angriffe aus der Luft auf ungeschützte Kolonnen der Zivilisten, das Feuer sowjetischer Panzer, die die Trecks überrollten - dies alles forderte vieltausendfach tödlichen Tribut.

Heute ist von den einzelnen Geschehnissen jenes Massenexodus die Flucht über das zugefrorene Haff, fast eine Art Binnenmeer an der ostpreußischen Küste, noch am ehesten zum Begriff geworden. Am nachdrücklichsten hat sich aber wohl die Versenkung der „Wilhelm Gustloff" in das Gedächtnis eingebrannt. 5.000 Flüchtlinge sind damals in der Ostsee ertrunken, darunter 3.000 Kinder.

Wir werden und wir wollen über all dem aber auch nicht vergessen, dass die ersten Kriegsflüchtlinge Polen waren, die vor deutschen Angreifern flohen. So begannen die Leiden des polnischen Volkes, das das erste Opfer von Hitlers Vernichtungsfeldzug wurde. Ich erinnere heute auch an das Schicksal jener Polen, die am Ende dieses Kriegs von Stalin gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen. Auf der Potsdamer Konferenz wurde die Vertreibung der Polen und der Deutschen bestätigt. In Potsdam wurde vereinbart, dass die Umsiedlungen, wie es hieß, „in geregelter und humaner Weise" vor sich gehen müssten. Doch die Praxis sprach allen humanen Grundsätzen Hohn.

So kam es zur Geschichte der Vertreibung, wie die Deutschen sie im Osten erlebten: die Schrecken der Lager, in denen Tausende an Hunger, Misshandlungen und Seuchen starben, die Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen, das Elend der Todesmärsche wie der Evakuierungstransporte.

Es ist ein erschütternder Korrespondentenbericht über die Zwangsevakuierung der Sudetendeutschen erhalten, den Willy Brandt im Dezember 1945 für die norwegische Arbeitspresse verfasste. Er schreibt dort unter anderem: „Ich kann [...] nicht verheimlichen oder totschweigen, was jetzt an der Tagesordnung ist [...], selbst wenn es Leute geben sollte, die mir dies als Mitleidspropaganda' auslegen."

Ausdrücklich nimmt Willy Brandt dabei für sich in Anspruch, dass er im Krieg schonungslos „über die deutschen Übergriffe in Norwegen" aufgeklärt habe. Gerade dies gebe ihm das Recht, die Wahrheit auch über das Leid der Vertriebenen auszusprechen. In der Tat: Wer von bestimmten Erfahrungen und Leiden nichts hören will, der wird für den, der sie in ihrer ganzen Schrecklichkeit erleben musste, weniger glaubwürdig. Wir müssen deshalb in diesen Wochen und Monaten auch der vielen Deutschen gedenken, die bei Flucht und Vertreibung ums Leben kamen.

Natürlich lässt sich die Verantwortung aller Deutschen für Hitler nicht teilen in die jener im Westen und die jener im Osten. Die im Osten aber mussten unter den Folgen doppelt leiden. Zwischen allen demokratischen Parteien der Bundesrepublik war deshalb von Anfang an unstreitig, dass es „eine deutsche Gesamthaftung gegenüber den Vertriebenen" gebe, wie Kurt Schumacher es schon 1949 formuliert hat. Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten. Darum müssen auch hier die Tatsachen klar benannt werden.

Bis Ende 1950, dem Ende der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen, waren in das damalige Bundesgebiet über acht Millionen Flüchtlinge und Vertriebene gelangt, in das Gebiet der DDR über vier Millionen, von denen dann in den kommenden Monaten und Jahren noch viele nach Westen weiterzogen. Was bei dieser Völkerwanderung wider Willen geschah, kommt in einer einzigen Zahl zum Ausdruck: Bei Flucht und Vertreibung sind über zwei Millionen Deutsche ums Leben gekommen.

Trotz aller eindringlichen Fernsehberichte über das Kriegsende können sich die Heutigen kaum eine Vorstellung mehr von dem Chaos jener Zeit machen. Wie sah das Land aus, in das die über zwölf Millionen Überlebenden aus dem Osten kamen, elend, oft halb verhungert? Die Industrie war zerbombt, die Verwaltung lahmgelegt, die Verkehrsverbindungen zerstört. In den westdeutschen Besatzungszonen zum Beispiel lebten von den 40 Millionen Einheimischen rund die Hälfte, 20 Millionen, in Notunterkünften, in Lagern und Baracken.

Zu den Heimatvertriebenen kamen noch fünf Millionen Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft hinzu. Ihnen musste aus gutem Grund schnell geholfen werden, wie auch Millionen von Einheimischen, die vor den Bombenangriffen evakuiert waren. Die Versorgungslage war schwierig, viele litten Hunger. Bis 1948 war die Lebensmittelzuteilung streng rationiert und je nach Arbeitsleistung abgestuft.

Stalin hatte mit dieser Entwicklung nicht nur gerechnet, er hatte sie seinem politischen Kalkül zugrunde gelegt. Im vertrauten Kreise hatte er damals geäußert, dass die Angst vor deutschem Revanchismus Deutschlands Nachbarn im Osten auf lange Frist zu einem festen Block mit der Sowjetunion zusammenzwingen würde. Insbesondere aber setzte Stalin darauf, dass die Deutschen aus dem Osten im Westen Deutschlands sozialen Sprengstoff bilden würden, der Westdeutschland politisch destabilisieren und auf die Dauer dem Sog der in Europa übermächtigen Sowjetunion ausliefern würde.

Die Voraussetzung dafür, dass diese zynische Rechnung aufgehen könne, waren gegeben. Flüchtlinge und Vertriebene mussten ja als erstes ein Dach über dem Kopf haben. Die verheerendsten Zerstörungen an Wohnraum waren aber durch die Bombenangriffe in den Städten angerichtet worden. Also wurden viele der Neuankömmlinge aufs Land umgeleitet. Hier konnte man sie zwar, wenn auch nur notdürftig, unterbringen; aber dafür gab es zuwenig Arbeitsplätze. Noch im Jahr 1950 waren von den Vertriebenen in Westdeutschland doppelt so viele arbeitslos wie bei der gesamten Bevölkerung.

Wie wurden diejenigen, die ihre Heimat verloren hatten, von denen aufgenommen, die jedenfalls ein Zuhause hatten? Es gab Hilfsbereitschaft; das ist wahr. Es gab viele Zeichen von selbstlosem Einsatz bei den Einheimischen. Aber es gab auch viel Misstrauen, Gleichgültigkeit und Ablehnung. So sahen sich die, die alles verloren hatten, in der neuen Heimat, die für viele lange Zeit die Fremde blieb, als sozial Deklassierte. Es wäre doch verständlich gewesen, wenn diese Menschen sich radikalisiert hätten, wenn sie Demagogen gefolgt waren. Beispiele für solche Radikalisierung bis hin zur Gewalttätigkeit gab und gibt es ja auch heute noch in unserer Welt.

In Deutschland aber verabschiedeten die Heimatvertriebenen schon im Jahr 1950 ihre „Stuttgarter Charta". Sie trugen damit entscheidend dazu bei, die Voraussetzungen für eine friedliche Entwicklung der Beziehungen Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn zu schaffen, und auch dazu, dass die Rechnung Stalins nicht aufging.

Als diese Charta formuliert wurde, war das Elend der Vertreibung noch allgegenwärtig. Doch schon damals, 1950, wiesen die Vertriebenenverbände feierlich jeden Gedanken an Vergeltung für millionenfach erlittenes Unrecht von sich. Ich zitiere: „Dieser Entschluss ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches im besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat. Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Volker ohne Furcht und Zwang leben können."

Ich gestehe ganz offen: Ich verstehe nicht, warum jene Charta der Heimatvertriebenen nicht häufiger als ein Musterbeispiel politischer Kultur herausgestellt wird. Sie war und bleibt ein Werk des Friedens.

Die Bundesrepublik Deutschland, ja Europa hat den Heimatvertriebenen für diese Charta zu danken. Sie haben millionenfach das damals gegebene Versprechen eingelöst. Ich zitiere wieder: „Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas."

„Die Vertriebenen", so hat Kurt Schumacher 1949 gefordert, müssten „Bestandteile der deutschen Parteien und des politischen Lebens" werden. Dass dies so gut gelang, verdanken wir vielen, nicht zuletzt hervorragenden Führungspersönlichkeiten in den Vertriebenenverbänden - oft kantige, nicht immer einfache Persönlichkeiten. Ich sage dies mit Respekt, und Sie sollten den Respekt einer späteren Generation diesen Männern nicht verweigern. Ich nenne hier steil vertretend für viele unsere früheren Bundestagskollegen Wenzel Jaksch und Herbert Czaja.

Neben der politischen gibt es eine weitere entscheidende Leistung der Vertriebenen zum Aufbau eines freiheitlichen Staatswesens auf deutschem Boden: Das ist ihr gar nicht hoch genug einzuschätzender wirtschaftlicher Beitrag. Die Heimatvertriebenen hatten oft Land, Haus und Hof verloren. Viele kamen ohne jegliche Habe. Aber alle brachten etwas mit, was ihnen niemand nehmen konnte: ihr Wissen, ihr Können, ihre allgemeine wie ihre spezielle berufliche Ausbildung. Das, zusammen mit dem Fleiß und dem Willen, sich wieder hochzuarbeiten, für ihre Kinder eine neue Zukunft zu schaffen, wurde zu einem gewaltigen, außerordentlichen Gewinn für den Wiederaufbau unserer deutschen Volkswirtschaft.

Zur Integration der Vertriebenen haben der Lastenausgleich und andere Fördermaßnahmen gewiss erheblich beigetragen. Dies war ein erster großer Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft. An einen wirklichen Ausgleich der im Osten erlittenen Verluste war nicht zu denken. Immerhin umfassten die Leistungen in den Anfangsjahren bis zu einem Viertel des damaligen Bundeshaushalts. Auf diese solidarische Bewältigung von Kriegsfolgen können die Deutschen, wie ich denke, durchaus stolz sein.

Heute, fünf Jahre nach dem Ende der kommunistischen Diktaturen, lebt Deutschland in guter Nachbarschaft mit den Staaten, aus denen so viele Deutsche vertrieben wurden. Ich möchte hier besonders das gute Verhältnis würdigen, das uns mit Polen verbindet. An dieser Entwicklung haben viele in beiden Ländern und Völkern Anteil. 1970 hat Bundeskanzler Willy Brandt in Warschau ein wichtiges Zeichen gesetzt. Die Kirchen in beiden Ländern haben schon früh den Weg zur Aussöhnung gewiesen.

Eine wichtige Botschaft des Friedens und der Achtung von Menschenwürde und Menschenrechten wurde eine gemeinsame Erklärung polnischer und deutscher Katholiken zum 1. September 1989, also zum 50. Jahrestag des deutschen Angriffs auf Polen. Diese Erklärung, die Menschenverachtung, Gewaltherrschaft und Terror des Nationalsozialismus geißelte, aber auch das Leid von Millionen deutscher Heimatvertriebener beklagte, trägt die Unterschriften von Tadeusz Mazowiecki und Wladyslaw Bartoszewski.

Der Grenzvertrag vom 14. November 1990, in dem das wiedervereinigte Deutschland die bestehende Grenze mit Polen anerkannte, erinnert in seiner Präambel „an das schwere Leid, das dieser Krieg mit sich gebracht hat". Er nennt insbesondere auch den von zahlreichen Deutschen und Polen erlittenen Verlust ihrer Heimat durch Vertreibung oder Aussiedlung. Dies sei Mahnung und Herausforderung zur Gestaltung friedlicher Beziehungen zwischen den beiden Völkern und Staaten.

Wir alle erinnern uns mit Dankbarkeit an die noblen Worte des polnischen Außenministers Bartoszewski vor wenigen Wochen von dieser Stelle aus. Ziel meiner Reise nach Polen in wenigen Wochen, Anfang Juli, soll sein, dieses gute Verhältnis weiter zu festigen.

Auch unser Verhältnis zu unseren tschechischen Nachbarn wollen wir im Geist der guten Nachbarschaft und des friedlichen Miteinanders gestalten. Was bei der Vertreibung der Deutschen dort geschah, war Unrecht. Ich bin Präsident Havel und Ministerpräsident Klaus für ihre Worte dazu dankbar. Wir wollen und werden die ausgestreckte Hand ergreifen. Auf der Grundlage beiderseitiger Wahrhaftigkeit lässt sich eine gute Zukunft für die Menschen in beiden Ländern gewinnen und sichern. Wir wollen und werden in diesem Geiste mit Tschechien zu vernünftigen Regelungen kommen. Ich hoffe, dies wird bald möglich sein.

Es leben auch heute noch Deutsche in Polen, in Tschechien und anderen Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas. Auch zum Schutz der Minderheiten sind mit praktisch allen in Frage kommenden Staaten Nachbarschafts- und Partnerschaftsverträge geschlossen worden. Zuerst gelang dies in einer mustergültigen Weise mit Ungarn, dem wir Deutsche für seine Hilfe im Jahre 1989 immer dankbar bleiben werden.

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich mit besonderem Nachdruck und, so glaube ich, erfolgreich dafür eingesetzt, dass jetzt endlich ein Übereinkommen des Europarats zum Schütze nationaler Minderheiten vorliegt. Wie wenig selbstverständlich solche Regelungen sind, wird uns derzeit täglich ins Bewusstsein gerufen. Jeden Tag werden wir durch das Fernsehen Zeugen der grausigen Realität auf dem Balkan. „Ethnische Säuberung", ein Begriff aus dem Wörterbuch der Unmenschlichkeit, gehört leider immer noch nicht endgültig der Vergangenheit an.

Die Vereinten Nationen haben bekanntlich das Recht kodifiziert, das eigene Land zu verlassen. Angesichts der Erfahrungen der jüngeren und der jüngsten Vergangenheit scheint es mir an der Zeit, dass die Völkergemeinschaft noch ein anderes Menschen recht festschreibt, nämlich das Recht, im eigenen Land zu bleiben.

Wir blicken auf 700 Jahre deutsche Geschichte im Osten zurück. Die großartigen, Stein gewordenen Zeugnisse aus jener Zeit sind zum großen Teil mit den deutschen Städten im Krieg vernichtet worden. Manches davon haben gerade die Polen - um ein Beispiel zu nennen - mit bewundernswertem Können und Einfühlungsvermögen wieder aufgebaut oder restauriert. Städte und Dörfer aber, in denen die Heimatvertriebenen und ihre Vorfahren zu Hause waren, tragen nun natürlich ein anderes Gesicht.

Was die Flüchtlinge und die Vertriebenen retten konnten, sind ihre Traditionen, ihre Kultur, ihre oft sehr persönlichen Erinnerungen - Erinnerungen auch an die großen Söhne und Töchter jener Landschaften. Ich mochte nur einige nennen; Immanuel Kant oder Lovis Corinth aus Ostpreußen, den Gründer des Weltpostvereins Heinrich von Stephan aus Pommern, Joseph von Eichendorff und Gerhart Hauptmann aus Schlesien. Doch - das frage ich bewusst - was ist mit dem Astronomen Kopernikus aus Thorn? Er wird auch von den Polen als einer der ihren reklamiert. Ich denke, wir sollten die Gelehrten streiten lassen.

Ich komme aus einem Ort nicht weit von der französischen Grenze. Ich muss dabei an einen anderen Streit denken, an den um Karl den Großen. Jahrhunderte lang haben sich Deutsche und Franzosen darüber ereifert, wem er nun eigentlich gehört. Heute nimmt diesen Disput eigentlich keiner mehr richtig ernst. Man hat sich stillschweigend geeinigt: Als Karl der Große für die Deutschen, als Charlemagne für die Franzosen gehört er eben beiden. Wir sollten es mit Kopernikus genauso halten und ihn als gemeinsames Erbe betrachten: für die Polen, für uns Deutsche und für ganz Europa.

Wir wollen und wir dürfen den Schmerz und die Tränen dieses Jahrhunderts nicht vergessen. Das schulden wir den Opfern. Nur so kann - wenn überhaupt - die Erfahrung des damals allgegenwärtigen Leidens einen Sinn ergeben und uns Mahnung sein. Den kommenden Generationen müssen wir die alles entscheidende Lehre weitergeben: Friede beginnt mit der Achtung der unbedingten und absoluten Würde des einzelnen Menschen in allen Bereichen seines Lebens.

Wir haben jetzt, wenige Jahre vor dem Ende dieses Jahrhunderts, die Chance zum Bau einer Friedensordnung, die sich auf die uneingeschränkte Achtung der Menschenrechte und des Völkerrechts gründet. Ich bin sicher, kommende Generationen werden uns danach fragen und beurteilen, wie wir in unserer Zeit, in unseren Tagen die praktischen und die moralischen Herausforderungen bewältigen, um Frieden und Freiheit heute und - was noch wichtiger ist -für kommende Generationen zu sichern.

Unsere Kinder und Enkel sollen hineinwachsen in eine Welt, in der nie wieder Menschen aus ihrer Heimat vertrieben werden. Sie sollen hineinwachsen in eine Welt, in der die Völker - um dieses wegweisende Wort der „Stuttgarter Charta" noch einmal aufzunehmen - „ohne Furcht und Zwang leben können".

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 45 (2. Juni 1995).