1. Oktober 1997

Rede anlässlich der Eröffnung des Verwaltungsgebäudes der Bayerischen Vereinsbank in Leipzig

 

Lieber Herr Schmidt,
Herr Oberbürgermeister,
meine Damen und Herren Abgeordneten,
verehrte Gäste und vor allem:
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
der Bayerischen Vereinsbank,

 

I.

 

dies ist ein großer Tag für die Bayerische Vereinsbank und für die Stadt Leipzig. Die festliche Musik des Thomanerchors hat uns hervorragend eingestimmt auf den Anlaß unseres Hierseins. Wir feiern heute in Leipzig die Einweihung der neuen Zentrale einer Bank aus München für den Regionalbereich Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt. Das besondere daran ist: Es ist ein Bankhaus, das in früherer Zeit in diesem Teil Deutschlands gar nicht vertreten war und erst nach dem Fall der Mauer ein völlig neues Filialnetz hier in den neuen Bundesländern aufgebaut hat. Im Kleinen vollzieht sich ein Stück Globalisierung: Man geht über die Grenzen der eigenen Heimat hinaus und investiert in eine neue Zukunftsregion. Die Bayerische Vereinsbank hat inzwischen 105 Filialen in den neuen Ländern eingerichtet, weitere 104 Filialen der Bayerischen Hypotheken- und Wechsel-Bank kommen demnächst hinzu. Dieser Tag - an der Schwelle zum 7. Jahrestag der Deutschen Einheit und im Rückblick auf das Leipzig der 80er und der beginnenden 90er Jahre - ist deshalb ein weiterer Markstein der Entwicklung dieser Stadt.

 

Die Einweihung des neuen Bankhauses ist eine gute Gelegenheit, auf eine vorbildliche Initiative der Bayerischen Vereinsbank aufmerksam zu machen. Aus Anlaß ihres 125. Gründungsjubiläums vor drei Jahren hat die Vereinsbank über zwei Millionen D-Mark für Wohn- und Ausbildungsmöglichkeiten für Jugendliche allein hier in Leipzig eingesetzt. Entgegen einer Gewohnheit bei manchen in Deutschland, die das Wort "Danke" offenbar für altmodisch halten und aus ihrem Sprachschatz gestrichen haben, möchte ich diese Gelegenheit nutzen, um der Vereinsbank für diese Initiative ausdrücklich ein herzliches Dankeschön zu sagen. Sie geben ein großartiges Beispiel - hier in Leipzig und an vielen anderen Orten.

 

Meine Damen und Herren, Leipzig ist eine aufstrebende Finanzmetropole in den neuen Ländern und eine Stadt mit einer großen und bedeutenden Geschichte. Auch in der jüngeren Vergangenheit sind von hier historische Ereignisse ausgegangen. Vor acht Jahren ertönte auf den Straßen und Plätzen Leipzigs der Ruf: "Wir sind das Volk! Wir sind ein Volk!" Das war der Ruf nach Freiheit und Selbstbestimmung. Auch das Wort "Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr" gehört in diesen historischen Kontext.

 

Nach der innerdeutschen Währungsunion, nach dem Geschenk der Deutschen Einheit, hat die Stadt eine großartige Entwicklung genommen. Wer wie ich in regelmäßigem Abstand hierherkommt, stellt erstaunt und bewundernd fest, wieviel seither geleistet worden ist. Wenn zum Beispiel überall in Deutschland große Bauprojekte mit so wenig Bürokratie in Angriff genommen würden wie hier, stünde unser Standort noch ein wenig besser da. In Leipzig und in vielen anderen Orten in den neuen Ländern wird zunächst gefragt: "Was können wir tun, damit es klappt?" Es wird nicht gesagt: "So etwas haben wir noch nie gemacht; deshalb sollten wir zunächst einmal einen Ausschuß gründen." Diese großartige Stadt wächst wieder zu einem Schmuckstück unter den deutschen Städten heran. Die neuen Gebäude, die inzwischen errichtet worden sind oder an vielen Stellen der Stadt gerade gebaut werden, sind ein Vertrauensbeweis in die Leistungskraft und die Zukunftsfähigkeit dieser Region. Sie geben das richtige Signal. Es lohnt sich, in Deutschland, in den neuen und in den alten Ländern, zu investieren.

 

Gerade mit Blick auf Ostdeutschland füge ich an dieser Stelle hinzu: Die Wirtschaft und vor allem der Mittelstand brauchen die Banken als Partner. Erinnern wir uns an die Gründerzeit der deutschen Wirtschaft im vergangenen Jahrhundert oder an den Wiederaufbau in den 50er Jahren in der alten Bundesrepublik, den man später das Wirtschaftswunder nannte. Die Banken hatten damals einen ganz entscheidenen Anteil am wirtschaftlichen Neuanfang in Deutschland. Die industrielle Forschung und Entwicklung, das Schaffen vieler Arbeitsplätze wäre ohne die aktive Mitwirkung von klugen und weitsichtigen Männern und Frauen aus der Kreditwirtschaft nicht möglich gewesen.

 

Heute brauchen wir diese Aufbruchstimmung vor allem in den neuen Ländern. Meine Bitte an Sie alle lautet: Fördern Sie unternehmerischen Wagemut! Unterstützen Sie die Bereitschaft, etwas zu riskieren und Innovationen durchzusetzen! Helfen Sie mit, daß überall in Deutschland wieder ganz selbstverständlich wird, was die Generation der Gründer nach dem Zweiten Weltkrieg vorgelebt hat: Mut zur Zukunft und die Bereitschaft, etwas zu wagen und das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Ich setze darauf, daß das Zusammengehen der Bayerischen Hypotheken- und Wechsel-Bank und der Bayerischen Vereinsbank genau in diese Richtung wirken wird. Ihre optimistische Rede, die Sie, sehr geehrter Herr Schmidt, in diesem Zusammenhang gerade gehalten haben, bestärkt mich in meiner Zuversicht.

 

Übermorgen, meine Damen und Herren, feiern wir den Tag der Deutschen Einheit. Dies ist ein guter Anlaß, uns daran zu erinnern, welche gewaltige Wegstrecke wir in den vergangenen Jahren zurückgelegt haben. Der Aufbau Ost ist eine beispiellose Kraftanstrengung der Deutschen. Ich bin immer wieder erstaunt, daß unsere ausländischen Gäste diese Leistung sehr viel vorbehaltloser würdigen als wir selbst dies tun.

 

Seit 1990 fließen jährlich über 100 Milliarden D-Mark aus dem Bundeshaushalt in die neuen Länder - bis Ende 1998 zusammengerechnet rund 950 Milliarden D-Mark. Seit 1990 hat der Bund im Zuge der deutschen Wiedervereinigung Erblasten in Höhe von 350 Milliarden D-Mark übernommen. Gleichzeitig haben wir Deutschen seit 1989 an die Länder in Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie an die Nachfolgestaaten der Sowjetunion Transferzahlungen in der Größenordnung von insgesamt gut 180 Milliarden D-Mark geleistet. Natürlich wünsche ich mir, daß andere in Europa sich hier noch stärker engagieren. Denn unser Einsatz für diese Länder ist eine Abschlagszahlung auf den Frieden in ganz Europa.

 

Unser Ziel ist es, daß die Völker dort die Chance erhalten, politische Stabilität, Demokratie, Rechtsstaat und marktwirtschaftliche Entwicklung in ihren Ländern zu verwirklichen. Die Alternative wäre ein Rückfall in alte Strukturen, in ein Klima der gegenseitigen Bedrohung, in eine neue Rüstungsspirale. Dies wäre das Schlimmste, das uns passieren könnte. Wir wollen nie wieder Geld in Milliardenhöhe in neue Raketen stecken. Wir wollen Werke des Friedens tun. Dies muß unsere Politik bestimmen.

 

Meine Damen und Herren, gemeinsam haben wir den wirtschaftlichen Aufholprozeß der neuen Länder in den vergangenen sieben Jahren ein großes Stück vorangebracht. Beim Neubau der Verkehrsinfrastruktur zum Beispiel haben wir uns Ziele gesetzt und verwirklicht, von denen viele nicht glaubten, daß sie in so kurzer Zeit erreichbar sind. Von besonderer Bedeutung für den Standort Ostdeutschland sind die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit. Die insgesamt 17 Projekte haben absoluten Vorrang. Dazu gehört auch die Anbindung von Leipzig an die Schienenachse Berlin-Erfurt-Nürnberg.

 

Die neuen Länder sind auf einem guten Kurs - aber eine große Strecke des Weges liegt noch vor uns. Der Aufbau Ost behält deshalb für mich - und dies sage ich nicht nur in Leipzig, sondern ebenso in Bonn, in München, in meiner Heimat Ludwigshafen und in vielen anderen Orten Westdeutschlands - ungeachtet aller Sparnotwendigkeiten absolute Priorität. Im Sommer dieses Jahres haben wir ein mittelfristiges Förderkonzept für den Aufbau Ost für den Zeitraum vom 1999 bis 2004 beschlossen, und zwar - darüber freue ich mich besonders - im Einvernehmen mit Bundestag und Bundesrat. Dies bedeutet Planungssicherheit für Investoren in den nächsten sieben Jahren. Natürlich weiß ich, daß Staat und Steuerzahler nicht alles leisten können. Gefragt bleiben vor allem Eigeninitiative und ein konstruktives Miteinander.

 

Ein gutes Beispiel dafür war die Konsumgütermesse Ost für Produzenten aus den neuen Ländern, die Anfang September in Düsseldorf stattgefunden hat. Sie ist im Frühjahr dieses Jahres bei einem Gespräch geboren worden, das ich in Bonn mit den Spitzenvertretern von 14 großen deutschen Handelsunternehmen geführt habe. Dabei haben die Handelsunternehmen zugesagt, ihre Bezüge aus den neuen Ländern bis 1998 gemessen am Volumen von 1995 zu verdoppeln. Die Messe war - trotz anfänglicher Skepsis bei manchen Beteiligten - ein großer Erfolg. Bemerkenswert war, daß sieben Jahre nach der Deutschen Einheit ein Drittel der westdeutschen Einkäufer, die diese Messe besucht haben, bis dahin noch keinen Kontakt zu ostdeutschen Produzenten aufgenommen hatte. Dies macht deutlich, wie wichtig solche Gelegenheiten sind, Handelspartner miteinander ins Gespräch zu bringen.

 

Ein weiteres Beispiel für zukunftsgerichtetes Handeln ist die Gemeinsame Initiative von Bundesregierung, Wirtschaft und Gewerkschaften für mehr Arbeitsplätze in Ostdeutschland vom Mai dieses Jahres. Unser Ziel ist neue Schubkraft für den Aufbau Ost mit mehr Investitionen und damit zusätzlichen Arbeitsplätzen. Die Tarifpartner haben sich verpflichtet, die Tarifabschlüsse stärker am Beschäftigungsaufbau und an der Leistungskraft der Betriebe zu orientieren. Die Kreditwirtschaft hat zugesagt - und dafür möchte ich bei dieser Gelegenheit ein herzliches Wort des Dankes sagen -, Betrieben in wirtschaftlichen Schwierigkeiten rasch und wirksam zu helfen sowie Existenzgründer und junge Unternehmen bei der Beschaffung von Wagniskapital zu unterstützen. Wir haben uns darüber hinaus darauf verständigt, regelmäßig im Abstand von sechs Monaten eine Zwischenbilanz zu ziehen, um zu sehen, ob das, was wir uns gemeinsam vorgenommen haben, auch verwirklicht wird.

 

Meine Damen und Herren, die Gemeinsame Initiative für mehr Arbeitsplätze in den neuen Ländern ist zugleich ein gutes Signal für ganz Deutschland. Sie zeigt, daß die notwendige Bereitschaft in unserem Land zum konstruktiven Miteinander in entscheidenden nationalen Fragen vorhanden ist. In diesem Gemeinschaftsgeist werden wir auch eine andere wichtige Herausforderung der Gegenwart meistern: allen Jugendlichen, die dies wollen und die notwendigen Anforderungen erfüllen, eine Lehrstelle bereitzustellen. In diesem Jahr suchen 630000 junge Männer und Frauen einen Ausbildungsplatz. Das sind 13000 mehr als im letzten Jahr. Die Zahl der Lehrstellenbewerber wird bis 2006 noch weiter steigen. Ich sehe diese Entwicklung als ein Geschenk an. Die Jugend ist unser größtes Kapital für eine gute Zukunft. Wir müssen jetzt alles daransetzen, den jungen Menschen genügend Lehrstellen zur Verfügung zu stellen. Aber wir müssen auch klar und ehrlich sagen: Weder können wir jedem Bewerber eine Ausbildung in seinem Traumberuf ermöglichen, noch können wir einen Arbeitsplatz nach dem Ende der Ausbildung garantieren.

 

Das bedeutet zum Beispiel, daß wir jungen Leuten ein höheres Maß an Mobilität zumuten müssen, so wie wir es auch von den Studenten verlangen. Das wichtigste ist, daß kein Jugendlicher auf der Straße stehengelassen wird. Dafür müssen wir uns alle gemeinsam anstrengen. Die Tarifpartner des privaten Bankgewerbes haben vereinbart, in diesem Jahr zusätzlich sieben Prozent mehr Ausbildungsplätze als im Vorjahr bereitzustellen. Bundesregierung und neue Bundesländer fördern in diesem Jahr 15000 Arbeitsplätze im Rahmen des Aktionsprogramms Lehrstellen Ost. Ein ausreichendes Lehrstellenangebot ist für mich eine moralische Verpflichtung unserer Gesellschaft gegenüber den jungen Menschen. Ich kann zum Beispiel von einem 17jährigen, der keine Lehrstelle findet, nicht erwarten, daß er mit 19 Jahren ganz selbstverständlich seine Pflicht als Soldat der Bundeswehr oder im Ersatzdienst leistet. Auch die Jungen müssen die wichtige Erfahrung machen, daß beides zusammengehört: Rechte und Pflichten.

 

Meine Damen und Herren, die Hochwasserkatastrophe im Oderbruch in diesem Sommer hat gezeigt, daß in Ost- und Westdeutschland eine junge Generation heranwächst, die überhaupt nichts mit jener "Null-Bock"-Generation zu tun hat, die uns der Zeitgeist immer wieder einreden will. Auf den Deichen an der Oder erlebten wir einen Gemeinschaftsgeist und Gemeinsinn, der zu den besten Errungenschaften in der Geschichte unseres Landes gehört. Nahezu jeder meiner ausländischen Kollegen hat mich auf die Fernsehbilder aus Deutschland angesprochen, die junge Rekruten der Bundeswehr und viele andere Helfer aus Ost und West beim unermüdlichen Einsatz gegen die Flut des Hochwassers gezeigt haben. Der Präsident der Vereinigten Staaten, der französische Präsident und andere Kollegen aus Europa haben darin übereingestimmt, daß dies die richtigen Deutschen sind. Und sie haben hinzugefügt: Etwas anderes haben wir von Euch nicht erwartet. Warum redet Ihr anders, als Ihr handelt, wenn es darauf ankommt?

 

Die Deutschen haben in einer Welle der Solidarität in wenigen Tagen fast 130 Millionen D-Mark für die Opfer der Flutkatastrophe gespendet. Dies war eine großartige Erfahrung und zeigt ein Bild von Deutschland, das weit von dem entfernt ist, wie es viele Schwarzmaler und Kulturpessimisten immer wieder zeichnen. Deutschland ist ein Land, in dem die Menschen das Einstehen füreinander nicht verlernt haben. Wir sollten dies häufiger und offener aussprechen.

 

II.

 

Meine Damen und Herren, wir übergeben der Öffentlichkeit das neue Bankhaus in einer Zeit teifgreifender Veränderungen in Deutschland, Europa und der Welt. In zwei Jahren beginnt ein neues Jahrhundert. Die Welt wächst immer stärker zusammen, wir erleben eine zunehmende Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen. Neue dynamische Länder und Regionen treten in die Weltwirtschaft und damit selbstverständlich auch in die Weltpolitik ein. In der alten Bundesrepublik waren wir bisher gewohnt, Platz zwei in der Rangfolge der Exportnationen der Welt einzunehmen. Diesen Platz wollen wir halten. Das bedeutet aber, daß wir uns an neue Konkurrenten gewöhnen müssen. Beispielsweise unterhalten wir heute Geschäftsbeziehungen mit der Volksrepublik China in einer Dimension, die vor wenigen Jahren noch undenkbar war und die aus heutiger Perspektive in nächster Zukunft eher noch zunehmen wird.

 

Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, daß neue Konkurrenten nicht mehr nur im fernen Asien sitzen, sondern auch direkt in unserer Nähe, in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Es ist unser Wille und unsere Hoffnung, daß Tschechen, Polen und Ungarn, daß die Menschen in der Ukraine oder in Rußland auf die Beine kommen, ein demokratisches Gemeinwesen aufbauen und eine leistungsfähige Wirtschaft entwickeln. Damit werden Sie natürlich unsere Konkurrenten. Aber wir wollen das. Wir wollen, daß die Völker im Osten Europas, genauso aber auch in Lateinamerika und in Asien bei ihrem Streben nach Frieden, Freiheit und Wohlstand erfolgreich sind.

 

Wenige Zahlen zeigen, in welchem Tempo sich die Welt verändert. Das Welthandelsvolumen ist von knapp 2000 Milliarden US-Dollar im Jahre 1980 auf rund 5300 Milliarden US-Dollar 1996 gestiegen. Der Anteil der asiatischen Wachstumsmärkte am Welthandel hat sich seither mehr als verdoppelt, von gut acht Prozent im Jahr 1980 auf rund 18 Prozent im vergangenen Jahr. Der deutsche Welthandelsanteil liegt damals wie heute bei rund zehn Prozent. Das Handelsvolumen der internationalen Finanzmärkte explodiert. Anfang der 80er Jahre betrug der weltweite Devisenhandel täglich 60 Milliarden US-Dollar. Anfang der 90er Jahre waren es bereits 1200 Milliarden US-Dollar.

 

Diese Entwicklung geht uns ganz unmittelbar an. Ich sage es anhand eines Bildes aus dem Fußballsport. Wenn Sie in der Bundesliga spielen, müssen Sie alles tun, um darin zu bleiben. Wenn Sie abgestiegen sind - als Pfälzer habe ich das am Beispiel Kaiserslautern kürzlich miterlebt -, müssen Sie alles daransetzen, um wieder in die Bundesliga zurückzukehren. Natürlich: Wer aus der Nationenliga absteigt und sich einredet, dies sei eine gute Sache, der braucht sich über die Konsequenzen nicht zu wundern. Wahr ist: Diese Haltung entspricht nicht dem Denken der überwältigenden Mehrheit der Menschen in unserem Land.

 

Meine Damen und Herren, wir haben überhaupt keinen Grund zu Pessimismus. Solange wir nur wollen und unser Schicksal selbst in die Hand nehmen, werden wir auch in Zukunft eine der führenden Nationen der Welt bleiben. Deutschland hat hervorragende Voraussetzungen. Wir verfügen über eine ausgezeichnete Infrastruktur und gut ausgebildete Arbeitnehmer. Unser duales Berufsausbildungssystem ist weltweit anerkannt. Wir besitzen eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur mit einem leistungsfähigen Mittelstand. Unser Land ist weltweit ein Begriff für wirtschaftliche Stabilität und ein gutes soziales Klima. Das konstruktive Miteinander in unserem Land ist ein kostbares Gut, mit dem wir alle behutsam umgehen sollten. Das heißt nicht, daß ich für Konsens um jeden Preis eintrete. Aber gerade auch im Umgang der Tarifpartner miteinander hat sich die Fähigkeit zu Gemeinsinn stets als Stärke für unser Land erwiesen.

 

Wir können heute feststellen, daß die wirtschaftlichen Perspektiven in Deutschland sich deutlich verbessert haben. Im Januar wurde ich noch von manchen belächelt, als ich davon sprach, daß wir in diesem Jahr ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um zweieinhalb Prozent erreichen können. Inzwischen haben sich selbst notorische Pessimisten dieser Einschätzung angeschlossen. Für das nächste Jahr können wir sogar mit einem Wachstum von ungefähr drei Prozent rechnen. Dabei hilft uns die aufwärts gerichtete Weltkonjunktur. Herr Schmidt, Sie werden von der kürzlichen Tagung des Internationalen Währungsfonds in Hongkong berichten können, daß wir weltweit für die nächsten vier bis fünf Jahre besonders günstige Aussichten haben. Wir Deutschen haben alle Chancen, auf diesem Zug nicht nur als Trittbrettfahrer mitzufahren, sondern den Zug mitzulenken. Die Voraussetzungen dafür sind gut. Die Konjunktur in Deutschland ist eindeutig im Aufwind. Die Auftragsbücher füllen sich beständig. Die Auslastung der Kapazitäten in der Industrie ist spürbar aufwärtsgerichtet. Wer in diesen Tagen in Frankfurt die Internationale Automobil-Ausstellung besuchte, konnte dies mit Händen greifen. Der Export boomt: Im ersten Halbjahr hat die deutsche Wirtschaft real fast zehn Prozent mehr Güter ausgeführt als im Jahr zuvor. Wir sind im Begriff, Weltmarktanteile zurückzugewinnen. Das alles ist positiv.

 

Dennoch: Die Zahl von über vier Millionen Arbeitslosen ist inakzeptabel hoch. Natürlich wird der Aufschwung auch den Arbeitsmarkt entlasten. Wir müssen jedoch erkennen, daß dies nicht mehr so schnell wie früher geschieht. Ein weiteres kommt hinzu: Unter den über vier Millionen Menschen ohne Arbeit befindet sich rund eine Million Langzeitarbeitslose. Der größte Teil dieser Frauen und Männer kann und will arbeiten, findet jedoch mit dem erworbenen Qualifikationsniveau keinen Arbeitsplatz. Schlechte Ausbildung - schlechte Berufschancen: Diese schmerzliche Erfahrung stellt uns vor eine besondere soziale Herausforderung.

 

Wir beobachten, daß von den rund 630000 jungen Menschen, die eine Ausbildungsstelle suchen, zehn Prozent die notwendigen Ausbildungsvoraussetzungen nicht mitbringen.

 

In diesem Jahr stellt die Bundesanstalt für Arbeit über 850 Millionen D-Mark zur Verfügung, um Schulabgänger nachzuschulen, damit diese überhaupt ein Ausbildungsverhältnis beginnen können. Dies ist eine alarmierende Entwicklung, die uns zum Umdenken zwingt. Wir müssen das Menschenmögliche tun, damit die Jugendlichen eine gute Schulbildung erhalten, auf die sie ihre spätere Ausbildung fußen können.

 

Meine Damen und Herren, die Voraussetzungen für neue Arbeitsplätze in Deutschland sind in der letzten Zeit spürbar verbessert worden. Die Tarifverträge der letzten Monate haben sich stärker als zuvor am Beschäftigungsaufbau orientiert. Ich hätte mir gewünscht, daß dies schon früher möglich gewesen wäre. Die jüngste Vereinbarung in Baden-Württemberg zwischen der Metallindustrie und der Metallgewerkschaft über die Altersteilzeit zeugt von einem neuen Denken und ist ein Fortschritt.

 

Umdenken und Handeln für Deutschlands Zukunft heißt aber auch, notwendige Reformen durchzusetzen. Viele beklagen, daß dies zu zögerlich angepackt werde und zu lang dauere. Dafür habe ich viel Verständnis. Ich füge jedoch hinzu: Die parlamentarische Demokratie ist keine einfache Veranstaltung, sie ist zuweilen sogar überaus anstrengend, auch beschwerlich. Winston Churchill hat das alles wunderbar karikiert. Dennoch ist und bleibt es die Wahrheit: Demokratie ist die einzige Gesellschaftsform, die auf Dauer funktioniert. Deshalb müssen wir diesen manchmal mühseligen Weg des Ausgleichs miteinander gehen.

 

Und dieser Weg ist erfolgreich. Die Bundesregierung hat mit Beharrlichkeit eine Vielzahl von Reformen durchgesetzt oder auf den Weg gebracht. In der Öffentlichkeit ist dies im Lärm der damit einhergehenden, zum Teil vermeidbaren Diskussionen gelegentlich untergegangen. Wir haben zum Beispiel die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auf eine neue gesetzliche Grundlage gestellt. Ich habe bis zur letzten Minute darauf gesetzt, daß die Tarifpartner selbst zu einer Übereinkunft in dieser Frage kommen. Ich denke auch heute noch, daß dies die beste Lösung gewesen wäre. Sie alle kennen die Entwicklung. Die Tarifpartner haben sich nicht geeinigt. Dennoch mußte gehandelt werden. Deshalb haben wir das Gesetz zur Entgeltfortzahlung durchgesetzt. Nur ein gutes Jahr danach sehen wir enorme positive Wirkungen. Selbst in jenen Bereichen, wo das Gesetz nicht direkt eingreift, ist inzwischen tariflich ähnliches vereinbart worden. Unternehmen und Arbeitsplätze wurden um Kosten von über zehn Milliarden D-Mark entlastet. Wir haben heute den niedrigsten Krankenstand seit dem Ende der 70er Jahre.

 

Als Basis für moderne Dienstleistungen haben wir Bahn und Post unwiderruflich auf den Weg der Privatisierung gebracht. Der Börsengang der Telekom und jetzt die Privatisierung der Lufthansa sind ein voller Erfolg.

 

In diesem Sommer haben wir das Dritte Finanzmarktförderungsgesetz beschlossen, um den Finanzplatz Deutschland weiter zu stärken. Wir arbeiten daran, unsere Wertpapiermärkte auf den internationalen Standard der Börsen in New York oder in London zu bringen. Unser Ziel sind möglichst viele Börsengänge auch von Mittelständlern. Wir wollen den Zugang zum Wagniskapital erleichtern und die Stellung der Aktie auch als ergänzende Altersvorsorge stärken.

 

Meine Damen und Herren, ich bedauere es außerordentlich, daß beim Thema Steuerreform ein vernünftiger Kompromiß mit einer spürbaren Senkung der Steuerbelastung nicht zustande gekommen ist. Eines ist sicher: Nach der Bundestagswahl wird die Steuerreform - mit zwei Jahren Verspätung - erneut auf der Tagesordnung stehen. Und Sie werden sehen: Nach der Bundestagswahl wird es eine breite Übereinstimmung im Sinne der Petersberger Beschlüsse geben. Ein Erfolg bleibt, daß die Gewerbekapitalsteuer zum 1. Januar 1998 abgeschafft wird. Damit haben wir verhindert, daß sie in den neuen Ländern eingeführt werden muß.

 

Ein Wort zum Thema Rentenreform. Ich bekenne offen, daß mir bislang unklar ist, weshalb wir in dieser Sache streiten. Denn die objektiven Fakten liegen doch für jedermann verständlich und offen zutage. Wir sind neben Italien das Land mit der niedrigsten Geburtenrate in der Europäischen Union. Daran wird sich in absehbarer Zeit aller Voraussicht nach wenig ändern, denn den neuesten Daten zufolge leben mittlerweile 36 Prozent unserer Bevölkerung in Single-Haushalten. Darüber hinaus werden die Menschen in unserem Land - und dies ist eine erfreuliche Entwicklung - älter als je zuvor. Die Männer haben eine Lebenserwartung von 73 Jahren und die Frauen eine Lebenserwartung von 79 Jahren, Tendenz weiter steigend. Der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung wächst. Ich nenne nur ein besonders einprägsames Beispiel: Zu Beginn der 80er Jahren hatten wir knapp unter 1000 Menschen, die über 100 Jahre alt waren. Im Jahr 2000 werden es bereits knapp 5000 sein.

 

All diese Entwicklungen haben tiefgreifende Auswirkungen auf unsere sozialen Sicherungssysteme. Es ist unsere Pflicht, bereits heute die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen, zum Beispiel in unserem Gesundheitssystem. Wir können und wollen nicht den Weg gehen, den eine frühere britische Kollegin eingeschlagen hat und der dazu geführt hat, daß die Krankenkasse in einem bestimmten Lebensabschnitt keine Bypass- und keine Hüftoperation bezahlt. Dies halte ich für zutiefst unsozial.

 

Das soziale Sicherungssystem muß so gebaut werden, daß der Lebensabend der Älteren gesichert ist. Gleichzeitig dürfen wir aber nicht der heranwachsenden jungen Generation eine Last aufbürden, die sie nicht mehr tragen kann und ihr die Luft zum Atmen nimmt. Deshalb müssen wir in die soziale Sicherung mehr Eigenverantwortung einbauen. Ich habe keinen Zweifel, daß wir dies schaffen werden.

 

III.

 

Meine Damen und Herren, die Sicherung von Frieden und Freiheit im 21. Jahrhundert ist und bleibt die zentrale Herausforderung der Zukunft. Deshalb bauen wir das Haus Europa - ein Haus mit Wohnungen für alle europäischen Völker, die dort leben möchten, und mit einem Dauerwohnrecht für unsere amerikanischen Freunde. Dafür brauchen wir eine Hausordnung, die sicherstellt, daß wir unvermeidliche Streitigkeiten zivilisiert im Haus austragen und nicht draußen auf der Straße. Gerade wir Deutschen in der Mitte Europas mit den meisten und längsten Grenzen zu unseren Nachbarn haben ein vitales Interesse am Gelingen des europäischen Einigungsprozesses.

 

Unsere zentrale Lage mitten im zusammenwachsenden Europa ist eine großartige Chance. Vor einigen Tagen war der Vorstand einer der großen Chemiekonzerne der Welt bei mir. Wir sprachen über weitere Investitionen im Chemiedreieck. Beim Abschied erklärten meine Gäste, wieviel Skepsis sie zunächst gehabt hätten, in den neuen Ländern zu investieren. Inzwischen hätten sie aber festgestellt, daß das Chemiedreieck ein hervorragender Standort sei und sich von hier aus nach Mittel-, Ost- und Südosteuropa ganz neue Möglichkeiten ergäben. Deshalb würden sie ihre geplanten Forschungseinrichtungen ausbauen.

 

Meine Damen und Herren, wir müssen und werden das europäische Einigungswerk konsequent fortsetzen. Im nächsten Jahr werden die notwendigen Entscheidungen für die Einführung des Euros getroffen - natürlich unter Einhaltung der Stabilitätskriterien. Wir werden keine weiche Währung zulassen. All jene, die mir nachsagen, ich sei so "europafanatisch", daß ich alles mitmache, täuschen sich. Wir nehmen diese Kriterien sehr ernst. Ich denke nicht zuletzt an die Leipziger, die vor acht Jahren darum gekämpft haben, diese D-Mark endlich in den Händen zu halten. "Der Euro" wird eine dauerhaft stabile Währung sein, der Stabilitätspakt wird dazu beitragen. Es ist jetzt nicht die Stunde des Populismus, in der mit den Ängsten der Leute gespielt werden darf.

 

Wir gehen konsequent auf diesem Weg Europas, weil es der Weg des Friedens ist. François Mitterrand hat in seiner letzten Rede vor dem Europäischen Parlament wenige Tage vor seinem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt und einige Monate vor seinem Tod in einer testamentarischen Weise den Abgeordneten zugerufen: Nationalismus, das ist der Krieg. Das kann jemand sagen, der noch zur Kriegsgeneration zählt, der weiß, was Krieg, Verheerung und Barberei bedeutet haben.

 

Eines ist sicher: Das 21. Jahrhundert wird ein friedliches und freies Jahrhundert der Deutschen und der Europäer sein, wenn wir diesen Weg gemeinsam gehen und das Haus Europa bauen, in dem wir Leipziger bleiben, in dem wir Sachsen bleiben, in dem wir Deutsche bleiben und in dem wir gemeinsam Europäer sind. So, wie es Thomas Mann sinngemäß formuliert hat: Ich bin ein deutscher Europäer und ein europäischer Deutscher.

 

Ich wünsche der Vereinsbank hier in Leipzig in diesem Haus, den Männern und Frauen, die hier arbeiten, und den Kunden, die hierher kommen, eine gute und gesegnete Zeit. Ich wünsche uns, daß ein Haus wie dieses, jetzt neu gebaut, weit hineinragt in das neue Jahrhundert und neue Jahrtausend und dann der späteren Generation etwas kündet, von dem ich mir von Herzen wünsche, daß sie es über uns Heutige sagen werden: Sie waren klug, sie haben Weitsicht gezeigt, sie haben Mut bewiesen und sie haben ihre Pflicht getan.

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 86. 3. November 1997.