Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr verehrte Damen und Herren,
liebe Freunde!
Auf den Tag heute vor zwanzig Jahren habe ich den Vereinigungsparteitag der CDU Deutschlands in Hamburg eröffnet.
Dieser Moment gehört für mich zu den glücklichsten Stunden meines Lebens: Nach über vier Jahrzehnten der Trennung wurden wir eine Partei, eine CDU für ganz Deutschland.
Meine Damen und Herren, liebe Freunde, ich freue mich sehr, dass wir heute hier in Berlin zusammengekommen sind, um uns gemeinsam an dieses großartige Ereignis vor zwanzig Jahren zu erinnern. Und in diesem Sinne heiße ich Sie alle herzlich willkommen in Berlin, in unserer deutschen Hauptstadt.
65 Jahre CDU,
60 Jahre CDU Deutschlands,
20 Jahre vereinte CDU,
vor dem Hintergrund von
65 Jahre Frieden in Deutschland und Europa,
20 Jahre wiedervereintes Deutschland und Ende des Kalten Krieges.
Liebe Freunde, diese Daten sind Anlass, dass wir uns heute vor allem über das Erreichte freuen, dass wir uns mit Dankbarkeit und Stolz erinnern, wer wir sind und wo wir herkommen, und dass wir aber auch gemeinsam nach vorne schauen, wohin die CDU und wohin Deutschland in Zukunft gehen werden.
Die Fragen, wie es weitergeht - im Materiellen, im Miteinander, in der Umwelt - stellen sich in der immer schnellebigeren Welt für die Menschen mit wachsender Bedrängnis.
Die Menschen in unserem Land erwarten Antworten - auch von uns, der CDU. Sie wollen dabei mitgenommen werden, sie wollen verstehen, sie wollen verstanden werden. Sie verlangen Respekt und Glaubwürdigkeit, Standfestigkeit und Treue, zugleich Aufgeschlossenheit für Neues.
Ich frage also: Wer ist die CDU, wer sind wir, wo kommen wir her und schließlich: wo gehen wir hin?
Um es gleich vorweg zu nehmen:
Die CDU ist kein Auslaufmodell,
die CDU bleibt ein Zukunftsmodell !
Das galt vor 65 Jahren, das galt vor 20 Jahren, das gilt heute und das gilt in Zukunft.
Unsere Geschichte belegt eindrucksvoll, dass es immer die CDU war, die in den entscheidenden Stunden unseres Landes in Regierungsverantwortung war und die Weichen in die richtige Richtung gestellt hat.
Unsere Grundwerte und unsere Geschichte stehen für unsere Zukunftsfähigkeit.
In Erinnerung an unsere Wurzeln zitiere ich aus dem Gründungsaufruf der CDU in Berlin vom 26. Juni 1945, nur sieben Wochen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs:
„In der schwersten Katastrophe, die je über ein Land gekommen ist, ruft die Partei CHRISTLICH-DEMOKRATISCHE UNION DEUTSCHLANDS (...) die christlichen, demokratischen und sozialen Kräfte (...) zum Aufbau einer neuen Heimat. Aus dem Chaos von Schuld und Schande (...) kann eine Ordnung in demokratischer Freiheit nur erstehen, wenn wir uns auf die (...) Kräfte des Christentums besinnen (...)."
Ich zitiere einen unserer Gründer, Eugen Gerstenmaier. Er sagte, die Gründung der CDU habe eigentlich „in den Gefängnissen von Tegel" stattgefunden.
Ich zitiere aus dem Statut der CDU Deutschlands, beschlossen unter Konrad Adenauer, unserem ersten Vorsitzenden und dem ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, auf dem ersten Parteitag der CDU Deutschlands Ende Oktober 1950 in Goslar:
„Die CDU vereint alle deutschen Staatsbürger, die das öffentliche Leben (...) aus christlicher Verantwortung (...) auf der Grundlage der persönlichen Freiheit demokratisch gestalten wollen."
Und weil es sich auf einem Bein so schlecht stehen lässt, zitiere ich für unsere bayerische Schwesterpartei den Mitbegründer der CSU, Adam Stegerwald, Reichsarbeitsminister von 1930 bis 1932. Ich zitiere aus dem Jahr 1945, in dem er auch verstorben ist:
„Mein Hauptbestreben ist darauf gerichtet, an den Voraussetzungen zu arbeiten für eine wahre politische und soziale Demokratie, die ohne eine völlige Neugruppierung und Neuorientierung des deutschen Volkes nicht möglich ist."
Meine Damen und Herren, liebe Freunde, die Gründungsbotschaft unserer Partei war Programm und bleibt Programm. Sie hat bis heute Bestand.
Das heißt:
Die CDU steht auf einem festen Wertefundament von Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit.
Die CDU ist und bleibt eine Volkspartei. Sie ist offen für alle Menschen in allen Schichten und Gruppierungen unseres Landes.
Der Kompass der CDU ist das christliche Menschenbild und das Verständnis seiner Verantwortung vor Gott.
Und: Die CDU steht wie keine zweite Partei in Deutschland für Erneuerung.
Es war die CDU, die auf ihrem Wertefundament die geistigen Grundlagen für den Neuanfang unseres Landes nach 1945 legte.
Es war die CDU, die unser Land mit ihrem Kurs der Westbindung in die freiheitliche Völkergemeinschaft des Westens fest integrierte.
Es war die CDU, die an die deutsche Einheit glaubte und nicht, wie die Sozialdemokraten, die Annäherung an die SED suchte. Ich nenne nur ein Beispiel: Wir haben an der einen deutschen Staatsbürgerschaft gegen alles Drängen unbeirrt festgehalten.
Es war die CDU, die vor zwanzig Jahren die friedliche Revolution in der DDR als historische Chance begriff und die Wiedervereinigung unseres Landes möglich machte. Auch wenn dies heute viele vergessen machen wollen: Die SPD und die Grünen haben vor zwanzig Jahren in historischer Stunde kläglich versagt.
Es war und ist die CDU, für die die deutsche Einheit und die europäische Einigung zwei Seiten einer Medaille sind. Die CDU ist und bleibt die Europapartei.
Das heißt auch: Nachdem wir die deutsche Einheit erreicht haben, müssen wir auch in Europa weiter vorangehen.
Meine Damen und Herren, liebe Freunde, dies alles steht - wie gesagt - dafür:
Die CDU ist kein Auslaufmodell,
die CDU bleibt ein Zukunftsmodell !
Lassen wir uns doch nicht einreden, dass unser Wählerpotential schwindet: Das Volk ist unser Potential. Es liegt an uns, es für uns zu gewinnen.
Lassen wir uns doch nicht einreden, dass konservativ und fortschrittlich Gegensätze sind. Das Gegenteil ist wahr: Konservativ und fortschrittlich sind zwei Seiten einer Medaille.
Dass wir dem christlichen Menschenbild verpflichtet sind und einer Idee folgen statt einer Ideologie, macht uns in mancher Hinsicht freier und aufgeschlossener für Neues. Das müssen wir nutzen.
Die Gratwanderung besteht freilich darin, dass wir nicht beliebig werden und dem Zeitgeist folgen, sondern ihm mutig widerstehen und uns bei notwendigen Veränderungen treu bleiben.
Das heißt:
Wir wollen unsere traditionellen Wählerschichten erhalten,
wir wollen zugleich neue Wähler ansprechen,
und wir wollen Zukunft gestalten.
Wir wollen also an Bewährtem festhalten und zugleich neue Weichen stellen, kurzum wir wollen - wo notwendig - unsere Politik anpassen und für Veränderungen werben.
Wir müssen dafür auch die Chance nutzen der breiten innerparteilichen Diskussion und anschließend aber geschlossen hinter der gemeinsamen Entscheidung stehen.
Ich will ein paar konkrete Punkte nennen, wo ich die CDU aktuell in besonderer Weise gefordert sehe:
Erstens: Europa.
Liebe Freunde, in zwei Tagen feiern wir den 20. Jahrestag der deutschen Einheit.
Für mich ist dieser Tag jedes Jahr vor allem ein Grund zu großer Freude.
Man muss sich das heute nur noch einmal vor Augen halten:
Wir haben die Wiedervereinigung unseres Vaterlands vor zwanzig Jahren in Frieden und Freiheit und mit Zustimmung unserer Nachbarn und Partner in der Welt erreicht.
Damit konnten wir nicht rechnen, das war uns nicht in die Wiege gelegt, das war nicht selbstverständlich, es hätte alles auch ganz anders kommen können.
Das wollen wir nie vergessen, dafür müssen wir dankbar sein.
Und, sehr verehrte Damen und Herren, liebe Freunde, wir haben mit der Wiedervereinigung unseres Landes auch noch viel mehr erreicht:
Wir haben vor zwanzig Jahren zugleich den Kalten Krieg friedlich beendet und damit auch die Spaltung Europas überwunden.
Wenn ich mir heute die Diskussion über Griechenland, den Euro und die Finanzkrise ansehe, habe ich manchmal den Eindruck, dass manchem in Europa das Gespür abhanden gekommen ist, was das geeinte Europa für uns alle bedeutet.
Meine Damen und Herren, liebe Freunde: Europa bleibt alternativlos, nicht nur, aber gerade in der Frage von Krieg und Frieden. Das wollen wir nie vergessen.
Deshalb müssen wir - gerade auch wir von der CDU als die Europapartei - auch auf dem Weg der europäischen Einigung Kurs halten und weiter mutig vorangehen.
Zweitens: Die Wehrpflicht.
Nach allem, was ich lese und höre, kann ich nicht erkennen, dass sich die Welt in den vergangenen Jahren so sehr verändert hat, dass die Wehrpflicht nicht mehr möglich sein soll - wenn man sie denn will.
Ich war immer jemand, der die Wehrpflicht aus Überzeugung vertreten hat. Ich habe daran auch in den Verhandlungen über die deutsche Einheit festgehalten und mich durchgesetzt.
Es ist gut, dass unsere Partei über dieses Kernthema der Union gründlich diskutieren wird, bevor eine endgültige Entscheidung getroffen wird.
Drittens: Umwelt und Energie.
Für Umwelt und Energie gilt in besonderer Weise:
Wir sind nicht allein auf der Welt.
Natürlich möchten wir alle unsere natürlichen Lebensgrundlagen erhalten, eine saubere Umwelt und eine sichere, umweltschonende Energieversorgung.
Aber wahr ist eben auch: Der Mensch macht Müll, und Energie ist ein Wettbewerbsfaktor.
Es nützt nichts, national vernünftige Politik zu machen, wenn wir international keine Verbündeten haben. Umwelt und Energie brauchen globale Antworten und gemeinsames europaweites Handeln.
Dabei gilt: Umwelt muss sich lohnen, und Energie darf nur so viel kosten, dass wir wettbewerbsfähig bleiben.
Das heißt nicht, dass wir Deutschen nicht eine Vorreiterrolle übernehmen können und sollten. Aber: Deutsche Alleingänge nutzen niemandem, deutsche Vermittlung und Vorreiterrolle schon.
Wie so oft im Leben, gilt auch hier: Es ist alles eine Frage des Maßes.
Viertens: Bildung und Integration.
Es kann uns nicht egal sein, ob unsere Kinder oder die Kinder unserer Nachbarn gebildet sind. Das hat vor einigen Jahren in einer Rede unser Bundespräsident Horst Köhler sehr schön auf den Punkt gebracht. Recht hat er!
Zum Wesen der Demokratie gehören mündige Bürger. Mündig kann nur sein, wer ein Mindestmaß an Bildung hat.
Und: Bildung heißt Integration in die Gesellschaft.
Die CDU hat immer dafür gestanden, dass jeder Mensch in unserem Land die Chance bekommen soll, ein Leben nach seinen Möglichkeiten und Talenten zu leben und seinen Platz in unserer Gesellschaft zu finden.
Wenn ich mich heute in unserer Republik umschaue, sehe ich ein gemischtes Bild. Es fängt schon in der Jugend an: Ich sehe extrem gebildete, aufgeschlossene und neugierige Kinder, und ich sehe Kinder, denen alles fehlt.
Ich kann nicht erkennen, dass das eine Frage des Geldes ist.
Für mich ist es schlicht die Frage, ob wir uns um unsere Kinder kümmern.
Natürlich sind hier zuallererst die Eltern gefordert. Wenn aber die Eltern versagen, dann muss der Staat eingreifen. Er kann dies auf vielfältige Weise.
Klar ist: Wir dürfen nicht zusehen, wie die Zukunft unserer Kinder verspielt wird. Wir dürfen es aus menschlichen Gründen um der Zukunft der Kinder willen nicht. Und wir dürfen es auch deshalb nicht, weil die Kinder auch unsere Zukunft sind.
Das heißt nicht, dass Eltern und Familie aus der Pflicht entlassen werden oder unser Familienbild überholt ist.
Es heißt nur, eine gesellschaftliche Herausforderung anzunehmen und vernünftige Lösungen pragmatisch anzubieten.
Das Bildungsthema steht beispielhaft für eine Entwicklung, die ich mit zunehmender Sorge beobachte:
Unsere Gesellschaft ist dabei, sich zu spalten
in Arme und Reiche,
in Gebildete und Ungebildete,
in Akademiker und Nicht-Akademiker,
in Facharbeiter und Ungelernte,
in Arbeitende und Arbeitslose,
in Leistungsträger und Hartz-IV-Empfänger,
in Nicht-Deutsche und Deutsche,
in Ausländer und Inländer und so weiter.
Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen. Sie steht dafür, dass der gesellschaftliche Konsens bei uns in wichtigen Fragen verloren zu gehen droht.
Das heißt auch, dass wir die Diskussion über Bildung und Integration nicht auf Migration beschränken dürfen.
Im Gegenteil: Die Zeit ist reif, dass wir eine Diskussion führen über unsere Identität.
Wir müssen uns dabei auch wieder darauf besinnen, was unser Land nach dem Zweiten Weltkrieg nach innen wie nach außen stark gemacht hat.
Das Wirtschaftswunder ist dafür so ein schönes Beispiel. Es war ja kein Wunder, sondern es war dem Fleiß und dem Willen von Millionen Männern und Frauen in unserem Land zu verdanken, dass „Made in Germany" einen guten Klang bekam.
Daran wollen wir uns orientieren.
Und dazu gehört auch: Wir müssen den Menschen in unserer Republik wieder offen sagen, was unsere Gesellschaft sich leisten kann und will und was nicht.
Das gilt nicht nur materiell, das gilt auch in bezug auf das geistig-moralische Fundament unseres Landes.
Liebe Freunde, ich bin voller Optimismus für unsere Zukunft, weil die Herausforderungen bewältigbar sind.
Aber ich bin auch skeptisch, wenn ich sehe, wie die Tagespolitik zunehmend unser Programm bestimmt und wie Positionen immer kürzer Gültigkeit haben.
Wir dürfen uns den Menschen nicht entfremden, wir müssen unsere Entscheidungen zugleich verantwortungsbewusst treffen und wir müssen dabei an unseren Grundwerten festhalten, kurzum: wir müssen erkennbar wir selbst bleiben.
Das ist nicht immer einfach, es gelingt auch nicht immer, aber es muss sehr viel öfter gelingen, als dass es nicht gelingt.
Ich bin sicher: Wenn sich die CDU ihrer Werte und Inhalte selbst bewusst ist, dann können wir auch glaubwürdig und selbstbewusst über den Tag hinaus Politik gestalten.
Wir müssen also aufgeschlossen sein für Neues, wir dürfen aber nicht mit dem Wind gehen.
Darauf wird es angekommen. Ob die CDU in Deutschland weiter gestalterische Kraft bleibt, hängt davon ab.
Liebe Freunde, Karl Arnold hat einmal gesagt: „Die CDU ist durch nichts und niemanden umzubringen - es sei denn durch sich selbst."
Am 20. Jahrestag der Vereinigung unserer Partei möchte ich Ihnen zurufen: Gehen Sie also heute beruhigt nach Hause und helfen Sie mit, dass es soweit nicht kommt.
Wir haben alle Chancen, nutzen wir sie!
Vielen Dank !