10. Oktober 1997

Erklärung anlässlich des zweiten Gipfeltreffens des Europarates in Straßburg

 

Herr Präsident der Republik, Frau Präsidentin,

Herr Generalsekretär, verehrte Kolleginnen und Kollegen,

ich freue mich, daß wir uns heute in Straßburg treffen. Als Sitz bedeutender europäischer Institutionen symbolisiert diese Stadt die großartige Vision des geeinten und friedlichen Europas in besonderer Weise.

Ich danke Ihnen, Herr Vorsitzender, und der französischen Regierung für die Einladung zu diesem Treffen und vor allem für die Gastfreundschaft, die wir hier erleben. Mein ganz besonderer Dank, Frau Präsidentin, gilt auch der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, die maßgeblich zum Zustandekommen dieses Gipfels beigetragen hat.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute sind in Straßburg die Staats- und Regierungschefs von 40 Mitgliedstaaten des Europarates sowie von vier Beitrittskandidaten zusammengekommen. Bei unserem letzten Treffen in Wien vor vier Jahren zählte der Europarat noch 32 Mitglieder. Dies unterstreicht die große Anziehungs- und Ausstrahlungskraft des Europarates und der von ihm verkörperten Idee der geistig-kulturellen Einheit unseres Kontinents. Mit der frühen und konsequenten Aufnahme der mittel-, ost- und südosteuropäischen Reformländer hat gerade der Europarat einen wichtigen Beitrag für die europäische Integration geleistet.

Meine Damen und Herren, bei unserem ersten Gipfeltreffen in Wien haben wir weitreichende Entscheidungen getroffen. Auch von diesem zweiten Europaratsgipfel werden wichtige Impulse ausgehen: Ich nenne beispielsweise die bevorstehende Einrichtung des Ständigen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dies ist ein enorm wichtiger Schritt für eine weitergehende Verbesserung des europäischen Menschenrechtsschutzes. Wer von uns hätte vor zehn Jahren geglaubt, daß eine solche Entwicklung einmal möglich sein würde? Wir haben es erlebt. Ich nenne auch die Initiativen des Europarates zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sowie das Rahmenabkommen zum Schutz nationaler Minderheiten, das bald in Kraft tritt.

Die uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten müssen jetzt wirksam angewandt werden. Die Vertragstexte müssen mit Leben erfüllt werden, damit Menschenrechte und Demokratie als Grundprinzipien unseres Zusammenlebens in Europa auf Dauer gesichert sind. Dabei sollten wir auch weiterhin auf eine möglichst enge Koordinierung mit der Europäischen Union und der OSZE achten. Nur gemeinsam können wir den Herausforderungen unserer Tage begegnen.

Die jüngsten Ereignisse in Albanien und das Geschehen im ehemaligen Jugoslawien zeigen, daß der gemeinsame Einsatz für Menschenrechte und Stabilität in Europa nötiger ist denn je. Ich fordere bei dieser Gelegenheit insbesondere die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens auf, das Recht eines jeden Menschen, sicher in sein eigenes Land und seine eigene Heimat einzureisen, zu schützen. Die Flüchtlinge und Vertriebenen haben einen Anspruch darauf, in ihrem Heimatland an einen Ort ihrer Wahl zurückkehren zu können.

Der Europarat hat in den vergangenen Monaten ein Zusatzprotokoll zur Biomedizinkonvention erarbeitet, das das Klonen von Menschen strikt verbietet. Ich begrüße diese Initiative. Sie ist vor allem auch eine moralische Pflicht und Aufgabe, der wir uns stellen müssen. Wissenschaftliche Forschung, Menschenrechte und ethische Grundnormen gehören untrennbar zusammen. Für uns Deutsche ist diese Frage angesichts der barbarischen Taten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft eine besondere moralische Herausforderung! Wir nehmen daher die Frage der Zeichnung der Biomedizinkonvention ganz besonders ernst. Ich bitte um Ihr Verständnis dafür, daß die Bundesregierung erst nach Abschluß der Gespräche mit den maßgeblichen Verbänden und in Abstimmung mit den parlamentarischen Gremien eine abschließende Entscheidung treffen wird.

Deutschland wird im Anschluß an unser Treffen den Vorsitz im Ministerkomitee des Europarates übernehmen. Wir wollen und werden als Vorsitz die Anstrengungen des Europarates unterstützen, den neuen Mitgliedstaaten aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa beim Ausbau ihrer demokratischen und pluralistischen Strukturen zu helfen. Dies haben wir den Menschen dort in den Jahren der kommunistischen Zwangsherrschaft immer versprochen. Dieses Versprechen müssen wir jetzt - ungeachtet aller eigenen Probleme - einlösen.

Dem Europarat fällt mit seiner Tradition auf dem Gebiet des Menschenrechtsschutzes und der justitiellen Zusammenarbeit eine Schlüsselrolle in diesem Bereich zu. Seine erfolgreiche Arbeit bei der Entwicklung gesamteuropäischer Rechtsnormen und Standards ist ein festes Fundament des demokratischen Europas.

Meine Damen und Herren, das gemeinsame kulturelle Erbe in Europa ist ein Band, das unseren Kontinent zusammenschließt. Ich finde es gut, daß der Europarat sich besonders auch für die Stärkung der kulturellen Dimension der europäischen Einigung einsetzt. Der kulturelle Reichtum Europas drückt sich in der Vielfalt seiner Sprachen aus. Zu den in Europa am häufigsten verwandten Sprachen zählt auch die deutsche Sprache. Ich begrüße daher die jüngsten Entscheidungen des Europarates, die einen stärkeren Einsatz der deutschen Sprache ermöglichen.

Frieden und Freiheit, Demokratie und soziale Stabilität können im vereinten Europa nur durch intensive Zusammenarbeit und unermüdliches Engagement auf Dauer gesichert werden. In zwei Jahren feiert der Europarat sein 50. Gründungsjubiläum. Er hat von Anfang an für das Zusammenwachsen unseres Kontinents eine wichtige Rolle gespielt. Sein Beitrag ist gerade heute - nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und an der Schwelle zum 21. Jahrhundert - für den Bau des gemeinsamen europäischen Hauses wichtiger denn je.

Lassen Sie uns hierfür entschlossen weiter arbeiten. Am Ende dieses Jahrhunderts, das so viel Not und Leid sah, ist dies eine große Hoffnung für die nächste Generation. Wir sollten in diesem Sinne unsere Pflicht tun.

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 86. 3. November 1997.