10. September 1987

Rede vor dem Deutschen Bundestag (Bilanz des Besuchs Erich Honeckers in Bonn am 7./8. September 1987)

 

In dieser Woche ist Generalsekretär Erich Honecker zu einem offiziellen Besuch in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. In unseren ausführlichen Gesprächen haben wir in großer Offenheit alle Probleme im Verhältnis zwischen den beiden Staaten in Deutschland behandelt. Schon heute kann ich mit Befriedigung feststellen: Die Ergebnisse dieses Besuches sind beachtlich. Ich bin zuversichtlich, daß dies in den nächsten Monaten noch deutlicher werden wird. In einer ersten Bilanz halte ich fest: Wir haben Fortschritte zum Wohle der Menschen beider Staaten in Deutschland erzielen können. Die Bundesregierung ist damit ein wichtiges Stück in dem Bemühen vorangekommen, die schmerzlichen Folgen der Teilung unseres Vaterlandes zu lindern.

Wir haben bedeutende Fortschritte in der politischen Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten in Deutschland erreicht. Beide Seiten haben viele praktische Probleme miteinander zu lösen, unbeschadet der gegensätzlichen Standpunkte in Grundsatzfragen. Wir haben einen wichtigen Beitrag zum West-Ost-Dialog geleistet. Die Beziehungen beider Staaten in Deutschland sind eingebettet in den Gesamtzusammenhang der West-Ost-Beziehungen. Umgekehrt gilt aber auch, daß sie in der Zusammenarbeit zwischen Ost und West Impulse geben können und, wie ich denke, auch müssen. Der Verlauf des Besuches hat gezeigt, daß das Bewußtsein für die Einheit der Nation so wach ist wie eh und je. Mehr noch: Ich bin davon überzeugt, dieser Besuch hat dazu beigetragen, dieses Bewußtsein zu schärfen, indem er eindrucksvoll deutlich machte, daß Begegnungen wie die zwischen Generalsekretär Honecker und mir etwas anderes sind als Begegnungen zwischen Vertretern verschiedener Nationen. Es ist für alle offensichtlich geworden, daß dieser Besuch eine besondere menschliche und politische Qualität hatte, daß bei unserer Begegnung deutlich wurde, daß wir in einer fortdauernden gemeinsamen Geschichte stehen. Gleichzeitig hat dieser Besuch die deutschlandpolitische Linie dieser Bundesregierung bestätigt. Wir streben eine enge Zusammenarbeit und konkrete Fortschritte zum Wohle der Menschen an. Aber wir bekennen uns auch unbeirrt zu unseren Grundsätzen und verbergen sie eben nicht hinter beschwichtigenden Formeln. Beides, meine Damen und Herren, ist richtig und notwendig. Nur indem wir beides miteinander verbinden, dienen wir gleichermaßen der Einheit unserer Nation wie auch den Menschen in Deutschland. Die Grundlagen unserer Deutschlandpolitik habe ich in meiner Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 dargelegt und in der Regierungserklärung vom 18. März dieses Jahres erneut bekräftigt. Wir stehen zum Auftrag des Grundgesetzes, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Wir können und werden uns auf Dauer nicht mit der unnatürlichen Teilung unseres Vaterlandes, nicht mit Mauer und nicht mit befestigter Grenze abfinden. Im Grundlagenvertrag, der vor fast fünfzehn Jahren geschlossen wurde, ist der Wille bekräftigt worden, zum Wohle der Menschen in beiden Staaten in Deutschland zu einem Verhältnis guter Nachbarschaft zu kommen. Der Vertrag zusammen mit dem Brief zur deutschen Einheit macht aber auch deutlich, welche Fragen unter den bestehenden Bedingungen nicht gelöst werden können. Dies gilt insbesondere für die noch offene deutsche Frage. Wir halten fest an der Einheit der Nation und an der einen deutschen Staatsangehörigkeit. Die DDR ist für uns nicht Ausland.

Der Besuch von Generalsekretär Honecker erfolgt im Rahmen und auf der Basis des Grundlagenvertrages. Das heißt, weder besiegelt er die Teilung noch öffnet er neue Wege zur Lösung der nationalen Frage.

Unser deutschlandpolitischer Kurs verbindet Grundsatztreue mit Realismus und Augenmaß. In diesen Tagen ist deutlich geworden, daß wir mit diesem Kurs richtig liegen.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, besonders erfreulich sind die Fortschritte, die es in den letzten Jahren bei der Erweiterung und Verbesserung der Kontaktmöglichkeiten zwischen den Menschen aus beiden Staaten in Deutschland gegeben hat. Allein in diesem Jahr kam es bis jetzt, Anfang September, zu über drei Millionen Besuchen aus der DDR in der Bundesrepublik Deutschland, darunter fast 900.000 Besucher unterhalb des Rentenalters. Demgegenüber kamen bis Anfang der achtziger Jahre - neben Rentnern - jährlich nur einige zehntausend Besucher. Hier hat es also nach Übernahme der Amtsführung durch diese Bundesregierung einen grundlegenden Wandel gegeben. Es bleibt unser Ziel, daß alle Deutschen frei und ungehindert reisen können. Ungehinderte Kontakte, offene Grenzen dienen den Menschen, dienen einem friedlichen Miteinander, und sie fördern das Gefühl der Zusammengehörigkeit aller Deutschen.

Zur Erleichterung des Reiseverkehrs haben die Verkehrsminister beider Staaten vereinbart, die Tarife im Eisenbahnverkehr für Rentner und Reisende in dringenden Familienangelegenheiten aus der DDR und für Inhaber von Senioren- und Familienpässen aus der Bundesrepublik Deutschland auf den beiderseitigen Strecken einschließlich des Transitverkehrs nach Berlin (West) um 50 Prozent zu ermäßigen.

Im Interesse der Reisemöglichkeiten unserer Landsleute aus der DDR hat die Bundesregierung bereits vor dem Besuch von Generalsekretär Honecker beschlossen, das Begrüßungsgeld für Besucher aus der DDR auf 100 DM pro Jahr zu erhöhen. Dies soll ein Zeichen praktischer Solidarität mit unseren Landsleuten sein, die uns besuchen.

Meine Damen und Herren, ungenutzte Chancen gibt es noch beim Tourismus. Es besteht zwischen beiden Seiten Übereinstimmung, neue Möglichkeiten für eine Entwicklung des touristischen Reiseverkehrs zu schaffen. Positiv ist festzustellen, daß sich die Abfertigungspraxis an den Grenzübergängen der DDR seit Jahren trotz gelegentlicher Klagen verbessert hat.

Im Postverkehr werden demnächst Erleichterungen für den Geschenkpaket- und Päckchenverkehr in Kraft treten. Die DDR hat zugesagt, im Fernmeldebereich zusätzliche Leitungen zu schalten, womit die Telefonverbindungen zur DDR weiter verbessert werden könnten.

Die Bundesregierung strebt in allen Bereichen mehr Begegnungen und einen verstärkten Austausch an. Wir begrüßen deshalb, daß der Jugendaustausch in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Gemessen an den Wünschen der jungen Leute diesseits und jenseits der Grenze gibt es aber noch erhebliche Möglichkeiten der Ausweitung. Dies gilt ganz besonders für Jugendreisen von Ost nach West. Erfreulich ist die kürzlich getroffene Vereinbarung, die jetzt auch Berliner Jugendliche in den Jugendaustausch einbezieht. Eine positive Tendenz gibt es bei den partnerschaftlichen Verbindungen mit Städten in der DDR, die Raum für vielfältige Begegnungsmöglichkeiten eröffnen. Die Bundesregierung legt allerdings Wert darauf, daß dies nicht nur Begegnungen von Offiziellen sein werden, sondern daß vor allem breite Schichten der Bevölkerung die Chance der Begegnung erhalten.

In den Gesprächen mit Generalsekretär Honecker haben wir erneut gefordert, daß auch andere Beschränkungen und Behinderungen im Reiseverkehr abgebaut werden. Dies gilt insbesondere für den Mindestumtausch. In den letzten Jahren wurde immer mehr Menschen die Einreise in die DDR verweigert. Daher begrüße ich die Mitteilung, daß ab 1988 grundsätzlich alle Personen, die vor dem 1. Januar 1982 aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind, wieder zu Besuch in die DDR reisen dürfen. Ich spreche hier die Erwartung und die Hoffnung aus, daß diese Verbesserung bald auch auf jene ausgedehnt wird, die seit 1982 aus der DDR zu uns gekommen sind.

Ein Hindernis für zwischenmenschliche Begegnungen in Deutschland sind immer noch die zahlreichen Kontaktverbote, denen Bewohner der DDR unterliegen. Wir haben die DDR erneut zum Abbau dieser für die betroffenen Menschen belastenden Maßnahmen aufgefordert.

Meine Damen und Herren, es bleibt für uns unerträglich, daß an der Grenze mitten durch Deutschland und Berlin noch immer auf Menschen geschossen wird. Wir haben auch dies deutlich angesprochen. Nach dem Abbau von Minen und Selbstschußanlagen ist die Aufhebung des Schießbefehls überfällig.

Verständlicherweise nahmen in unseren Gesprächen die Frage der Menschenrechte und humanitäre Fragen einen breiten Raum ein. Wir haben ganz offen über alle Themen gesprochen, die sich auch aus der KSZE-Schlußakte ergeben. Die Bundesregierung wird sich auch weiter und, wenn es notwendig ist, auf diskrete Weise um die Lösung von Härtefällen bemühen. Für uns steht dabei immer das Einzelschicksal im Vordergrund.

Möglichkeiten zur Ausweitung und Verbesserung der Zusammenarbeit gibt es im Bereich des Handels und auf dem Gebiet der Wirtschaft. Wir haben vereinbart, Gespräche über die Bildung einer Gemischten Kommission aufzunehmen. Dabei sollen die bestehenden Regelungen und die bewährten Verfahren nicht berührt werden. Insbesondere die Interessen Berlins sind voll zu wahren. Ein erfolgreicher Abschluß zeichnet sich bei den kommerziellen Verhandlungen über einen Stromverbund mit der DDR ab, in den Berlin (West) einbezogen werden soll.

Begegnung und Austausch, meine Damen und Herren, werden nicht zuletzt durch Abkommen und Verträge ermöglicht. Das im letzten Jahr abgeschlossene Kulturabkommen mit der DDR hat, wie jeder erkennen kann, den kulturellen Austausch belebt. Hier läßt sich noch manches weiterentwickeln und intensivieren. Im Beisein von Generalsekretär Honecker und mir haben die zuständigen Minister beider Seiten drei weitere Verträge unterzeichnet: ein Abkommen über einen Informations- und Erfahrungsaustausch auf dem Gebiet des Strahlenschutzes, ein Abkommen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, ein Abkommen über Umweltschutz. Ich halte gerade diese Umweltschutz-Vereinbarung für ungeheuer wichtig, weil wir damit der gemeinsamen Verantwortung für die nachwachsende Generation in Deutschland gerecht werden.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, für die Bundesregierung ist es unverzichtbar, daß Berlin in die Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten in Deutschland in vollem Umfang einbezogen wird. Deutschlandpolitik ist immer - so wurde sie auch von allen Bundesregierungen verstanden - Verpflichtung für Berlin. Das freie Berlin bleibt auf die Solidarität der Schutzmächte und des ganzen Atlantischen Bündnisses angewiesen. Es gehört mit der Bundesrepublik Deutschland unwiderruflich zur westlichen Welt. Für uns gibt es keine Deutschlandpolitik an Berlin vorbei. Die Einbeziehung Berlins in die Zusammenarbeit wird auch und gerade in Zukunft die Qualität unserer bilateralen Beziehungen wesentlich bestimmen. Berlin war daher auch ein zentrales Thema unserer Gespräche. Berlin darf insbesondere im Bereich der Reise- und Besucherregelungen nicht zurückstehen. Die von der DDR mitgeteilten Erleichterungen begrüßen wir, aber leider fehlt immer noch die Zwei-Tage-Regelung auch für die Berliner. Die Bundesregierung sieht weiterhin eine überragende Aufgabe darin, die Lebensfähigkeit Berlins zu stärken, seine geistige, kulturelle und vor allem auch wirtschaftliche Anziehungskraft zu fördern und die Bindungen zwischen Berlin und dem Bund, wie es im Viermächte-Abkommen festgelegt ist, aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln. Im Interesse Berlins und der Verkehrsanbindung an das Bundesgebiet werden Gespräche mit dem Ziel aufgenommen, die Eisenbahnverbindungen zu verbessern.

Generalsekretär Honecker und ich haben schließlich vereinbart, daß sich die Kontakte der führenden Politiker aus beiden Staaten verstetigen. Wir werden unsere Gespräche, die wir jetzt geführt haben, zu gegebener Zeit fortsetzen. Wir wollen und müssen alle Möglichkeiten ausschöpfen, um zu einer Verbesserung der Lage in Deutschland und damit der Menschen in unserem geteilten Land zu kommen. Es geht, meine Damen und Herren, um mehr Menschlichkeit im geteilten Deutschland. Das ist immer auch ein Dienst am Frieden. Dabei ist für uns selbstverständliche Basis unserer Deutschlandpolitik die feste Verankerung der Bundesrepublik Deutschland im Atlantischen Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft. Die Bundesrepublik Deutschland ist kein "Wanderer zwischen den Welten". Wir wissen, die Deutschen können nur zueinander finden, wenn die Gegensätze zwischen Ost und West zu einer stabilen europäischen Friedensordnung aufgehoben werden. Eine solche Friedensordnung erfordert ihrerseits die Überwindung der deutschen Teilung. Deshalb bleibt die deutsche Frage ein Thema der internationalen Politik. Aus der bitteren Erfahrung der Geschichte unseres Volkes müssen wir uns aber vor Ungeduld und realistischen Erwartungen hüten.

Quelle: Protokoll der 24. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 10. September 1987. Abgedruckt in: Texte zur Deutschlandpolitik. Reihe III, Band 5 (1987). Hrsg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Bonn 1988. S. 233-238.