11. Juni 1998

Rede zur Eröffnung der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Kreisau

 

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Herr Buzek,
lieber Herr Mazowiecki,
Exzellenzen,
liebe Frau Unger,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
und vor allem: liebe junge Freunde,

 

ich will zunächst ein persönliches Wort an Sie, Herr Außenminister Geremek, richten und Ihnen herzlich zum Karlspreis gratulieren.

 

Wer sich Sensibilität und Offenheit für Geschichte bewahrt hat, wird es in dieser Stunde spüren: Dies ist ein wichtiger Tag in der Geschichte unserer Völker und, ich in sicher, auch für die Zukunft Europas. Der heutige Tag und dieser Platz rufen bewegende Erinnerungen hervor. Am 12. November 1989 feierte an dieser Stelle Bischof Nossol eine Versöhnungsmesse. Herr Mazowiecki und ich tauschten dabei den Friedensgruß aus. Das war nicht irgendeine formale Geste. Das hatte etwas zu tun mit unserem Leben, mit unseren Erfahrungen, mit unseren Visionen, mit unserer Zukunft. Wir machten uns in jenen Tagen auf den Weg, um für Deutsche und Polen, Polen und Deutsche, ein neues Kapitel unserer Beziehungen aufzuschlagen. Damals war gerade die Mauer in Berlin gefallen. Die Wiedervereinigung Deutschlands und die Überwindung der Teilung Europas in Frieden und Freiheit wurden möglich.

 

Gerade eben hatten wir, Ministerpräsident Buzek und ich, Gelegenheit zu einer Begegnung oben im Berghaus mit Frau Freya von Moltke, Frau Clarita von Trott zu Solz und Frau Rosemarie Reichwein. Auch dies war ein bewegender Augenblick, für den ich dankbar bin. Die Ehemänner dieser Frauen wurden von den Nationalsozialisten ermordet, weil sie für Ideale eintraten, die heute gelebte Wirklichkeit sind: Sie traten ein für Menschenrechte, für Menschlichkeit, für Offenheit, für ein Miteinander in Europa in Frieden und Freiheit.

 

Heute haben wir, Polen und Deutsche, eine wahrhaft historische Chance, unsere Beziehungen im Geiste der Versöhnung, der Verständigung und der guten Nachbarschaft zu gestalten. Sie, Herr Mazowiecki, und ich haben damals am 12. November 1989 vereinbart, eine Internationale Jugendbegegnungsstätte in Kreisau hier auf dem ehemaligen Gut der Familie von Moltke zu unterstützen.

 

Wir haben viel Grund, all denen zu danken, die dieses Werk vorangebracht haben. Junge Menschen aus Polen und Deutschland - aber auch aus anderen Ländern - kommen bereits seit Jahren hierher, um sich mit den Ideen und den Idealen des Kreisauer Kreises auseinanderzusetzen und an der Gestaltung eines neuen, friedlichen Europas mitzuwirken.

 

Herzlich danken möchte ich dem Klub der Katholischen Intelligenz Breslau und den katholischen Laiengruppen, die hier in der Stiftung Kreisau tätig sind. Mein Dank gilt auch den Partnern und Freunden der Stiftung Kreisau in Deutschland, den Niederlanden und den USA, die tatkräftig mitgewirkt haben. Ganz besonders herzlich möchte ich Ihnen, Gräfin Moltke, danken. Ich weiß, mit welcher Leidenschaft Sie diese Aufgabe immer verfolgt haben. Ich danke Ihnen und Ihrer Familie für das, was Sie getan haben.

 

Stellvertretend für die vielen, die zur Verwirklichung dieses Projekts beigetragen haben, danke ich nicht zuletzt dem Förderkreis für die Internationale Jugendbegegnungsstätte Kreisau in Frankfurt am Main, dem Deutsch-Polnischen Jugendwerk und der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit.

 

Vor allem möchte ich auch an die Hilfe vieler junger Menschen erinnern, die tatkräftig Hand anlegten. Die Bewohner von Kreisau, Schweidnitz und der Umgebung, einschließlich der politischen und kirchlichen Repräsentanten, haben dieses Projekt mit Sympathie und Unterstützung begleitet.

 

Meine Damen und Herren, die Frauen und Männer des Kreisauer Kreises haben damals täglich Unrecht erlebt. Sie sahen im Christentum die wertvollste Kraft zur Überwindung von Haß und Lüge und zeichneten sich durch eine bewundernswerte menschliche Reife und großen Mut aus: Ich nenne Helmuth James von Moltke und Peter York von Wartenburg, Alfred Delp und Adam von Trott zu Solz.

 

Zu diesen Männern gehörte ebenso Eugen Gerstenmaier. Er hat das NS-Regime überlebt und das Erbe des Kreisauer Kreises in die nächste Generation hineingetragen. Es ist für mich eine Ehre, daß er mein Freund war. Ich erinnere mich auch an eine Begegnung als junger Student mit Hans Lukaschek, der vor 1933 Oberpräsident der Provinz Oberschlesien gewesen war. Nachdem er aus der Gestapo-Haft freigekommen war, übernahm er später in der ersten Regierung Konrad Adenauers eine wichtige Aufgabe als Bundesminister.

 

Helmuth von Moltke schrieb 1942: "Die eigentliche Frage, vor die Europa nach dem Krieg gestellt wird, ist die, wie das Bild des Menschen im Herzen unserer Mitbürger wieder hergestellt werden kann. Dies aber ist eine Frage der Religion und der Erziehung ... ." Eine bessere Welt konnte nach der Vision des Kreisauer Kreises nur aufgebaut werden, wenn die nationalistische Machtpolitik überwunden würde, die in weniger als einem halben Jahrhundert zu zwei Weltkriegen geführt hatte.

 

Wir haben das Erbe von Kreisau aufgenommen und verstanden. Das Rückgrat für die neue europäische Ordnung - so die Vorstellungen der Männer und Frauen, die hier zusammengekommen waren - sollten die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich einerseits und zwischen Deutschland und Polen andererseits sein. Heute können wir feststellen - und ich sage das mit Stolz -, daß sich die Beziehungen zwischen unseren Ländern und Regierungen hervorragend entwickelt haben und sich weiter verbessern. In unseren amtlichen wie in unseren persönlichen Beziehungen, lieber Herr Buzek, ist der europäische Geist unserer Beziehungen für mich in besonderer Weise spürbar.

 

Fast täglich ereignen sich Dinge, die wir vor zehn Jahren noch für undenkbar gehalten hätten. Ich nenne ein Beispiel: Begreifen wir eigentlich, was es heißt, daß 59 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs deutsche und polnische Soldaten vertrauensvoll zusammenarbeiten? Daß im nächsten Jahr Polen unser Partner in der NATO sein wird und wir bald in Stettin einen gemeinsamen deutsch-polnisch-dänischen Militärstab einrichten werden?

 

Herr Ministerpräsident, für uns ist die deutsche Minderheit in Polen mehr denn je eine wichtige Brücke zwischen unseren Ländern: Sie ist eine Chance, Menschen zusammenzuführen. Wir wollen mit Ihnen, in enger Zusammenarbeit und Absprache mit Ihrer Regierung, alles tun, damit diese Brücken stärker genutzt werden. Das ist mir auch ein sehr persönliches Anliegen. Die Integration Polens in die Europäische Union und die Atlantische Allianz ist eine Aufgabe von historischer Bedeutung. Oder und Neiße dürfen nicht die Ostgrenze der Europäischen Union bleiben. Wir Deutsche werden den Wunsch unserer polnischen Nachbarn nach einer möglichst raschen Aufnahme in die Europäische Union weiterhin nachhaltig unterstützen.

 

Meine Damen und Herren, jeder von uns ist durch seinen eigenen Lebensweg, sein eigenes Schicksal, durch seine eigenen Erfahrungen geprägt. Ich komme, wie Sie wissen, aus der Landschaft am Rhein, aus der Pfalz - aus der deutsch-französischen Grenzregion. Die Menschen in meiner Heimat haben in vielen Generationen darunter gelitten, daß es zwischen Franzosen und Deutschen immer wieder Feindschaft und Krieg gab. Heute ist es für mich ein großes Glück zu sehen, daß in der Generation meiner eigenen Kinder junge Leute heranwachsen, die sich das überhaupt nicht mehr vorstellen können. Es gibt zwar noch eine deutsch-französische Grenze; aber es ist eine Grenze mitten in der Europäischen Union - eine Grenze, die Brücke ist und nicht mehr trennt. Genau das ist mein Ziel auch an der Grenze zwischen Deutschland und Polen: daß eine Generation heranwächst, die nicht vergißt, was war, die dies auch nicht verschweigt, die aber Geschichte als Chance für die Welt von morgen begreift.

 

In nicht einmal zwei Jahren beginnt ein neues Jahrhundert, ein neues Jahrtausend. Es ist ein Glück für die jungen Leute zu wissen, daß ihre Generation nach menschlichem Ermessen nie wieder in einen Krieg ziehen muß. Das ist die Botschaft, die wir heute den Menschen in Polen, Deutschland und Europa zurufen können. Das ist zugleich das Vermächtnis der Männer und Frauen des Kreisauer Kreises. Ihre Ideale sind ein sicheres Fundament für eine friedliche Zukunft in Europa.

 

Deshalb ist es mein tiefer Wunsch, daß viele junge Menschen aus allen Teilen Europas hierher kommen. Meine herzliche Bitte an die Jugend ist: Nehmt Euch des Vermächtnisses von Kreisau an! Wenn wir in diesem Sinne zu Werke gehen, wird es uns gelingen, eine gute Zukunft für das 21. Jahrhundert zu gestalten. Ich wünsche Ihnen allen auf diesem Weg Glück, Erfolg und Gottes Segen!

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 46. 25. Juni 1998.