11. März 1984

Rede auf der Eröffnungsveranstaltung der Misereor-Fastenaktion in Trier

 

Heute eröffnet das Bischöfliche Hilfswerk MISEREOR seine alljährliche Fastenaktion mit dem Leitwort „Unser Verzicht - Leben für viele". Ich habe die Einladung zu dieser Veranstaltung gerne angenommen, um ein herzliches Wort des Dankes an jene vielen Mitbürger zu richten, die sich in diesem christlichen Gemeinschaftswerk oft schon seit Jahren persönlich engagieren. In dem großen Erfolg der kirchlichen Hilfswerke zeigt sich, daß sich die Menschen unseres Landes im Wohlstand nicht einfach bequem eingerichtet haben, sondern ihren Dienst am Nächsten leisten.

Die Menschen in Trier wissen aus der Geschichte ihrer Stadt, was es heißt, abseits der großen Zentren mit der eigenen Not allein zu bleiben. Und deshalb finde ich es richtig, gerade von hier aus den Appell an unsere Mitbürger zu richten: Wir tragen Verantwortung für die eine Welt. Die persönliche Solidarität ist Ausdruck der Nächstenliebe, sie ist auch politischer Ausdruck unseres Eintretens für die Würde des Mitmenschen.

Mit ihrem eigentlichen Auftrag, der Glaubensverkündung, betont die Kirche in der Welt von heute die moralische Pflicht, Verhältnisse zu schaffen, die allen Menschen ein würdiges Leben in Freiheit ohne die Bedrückung durch Hunger und Elend ermöglichen. Not und Unrecht sind kein unveränderlicher Naturzustand, dem wir uns tatenlos ergeben müßten. Sie sind das Ergebnis menschlichen Verhaltens, der Irrtümer, der mangelnden Rücksichtnahme, aber auch von Hilf- und Ratlosigkeit.

Das Hilfswerk MISEREOR, das so viele Menschen anspricht und zum Handeln bewegt, ist ein vorbildliches Beispiel des engagierten Einsatzes für Freiheit und Recht, für Solidarität und Gerechtigkeit in der Welt. MISEREOR ist eine Initiative, die Vertrauen verdient und - wie die vielen Spender zeigen - Vertrauen erhält. MISEREOR ist aber auch ein herausragendes Beispiel privater Entwicklungszusammenarbeit. Sie fördert die Eigenständigkeit und Freiheit ihrer Partner in den Ländern der Dritten Welt.

Die private Entwicklungshilfe findet bei den Menschen in unserem Land außergewöhnlich großen Rückhalt. Zwischen 1970 und 1982 gingen über 7 Mrd. DM an Spenden ein. MISEREOR und das evangelische Werk „Brot für die Welt" gehören, auch im internationalen Vergleich, zu den leistungsfähigsten privaten Einrichtungen der Entwicklungshilfe. Die Bürger unseres Landes begreifen ihre Verantwortung gegenüber den Armen in den Entwicklungsländern. Ich möchte besonders das Engagement der jungen Generation hervorheben. Die Hilfsbereitschaft ist groß.

Mit dem Dank an unsere Mitbürger verbinde ich die Bitte, auch in Zukunft diese Herausforderung mit Mut anzunehmen, und sich in mitmenschlicher Solidarität zu engagieren. Wir gewinnen damit auch Freunde in der Welt.

Entwicklungszusammenarbeit beruht auf gesamtmenschlicher Verantwortung für die eineWelt: Sie ist eine langfristig angelegte Gemeinschaftsaufgabe. Sie erfordert Rücksichtnahme und Verständnis, erfordert die Bereitschaft, gemeinsame Verantwortlichkeiten zu erkennen.

Es liegt im vitalen Interesse unseres Volkes, unseres Landes, in einer Welt leben und handeln zu können, in der Ungerechtigkeit und Not abnehmen und sich Freiheit und Recht ausbreiten. In seiner Ansprache auf der 3. Generalkonferenz der lateinamerikanischen Bischöfe in Puebla sagte Papst Johannes Paul II. im Januar 1979: "Diejenigen, die die Verantwortung für das öffentliche Leben in den Staaten und Nationen tragen, werden begreifen müssen, daß der innere und der internationale Friede nur gesichert werden können, wenn ein soziales und ökonomisches System in Kraft tritt, das auf der Gerechtigkeit aufbaut."

Unsere besondere Unterstützung gilt deshalb vor allem jenen Ländern, die für breite Bevölkerungsschichten eine gerechte Wirtschafts- und Sozialordnung anstreben, die demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten für alle Bürger eröffnen und die Menschenrechte und Grundfreiheiten achten. Wir versuchen, friedlich auf jene einzuwirken, die diese Ziele noch nicht anerkennen.

Die Verwirklichung der Menschenrechte bleibt das Ziel unserer Entwicklungspolitik. „Hilfe zur Selbsthilfe" ist der Grundsatz, von dem wir uns leiten lassen.

Es ist gut, daß wir auf dieser Grundlage eine breite Übereinstimmung über den Rang der Entwicklungspolitik erreicht haben - eine Übereinstimmung sowohl zwischen den demokratischen Parteien als auch mit den freien, gesellschaftlichen Gruppen.

Gelegentlich wird kritisch angemerkt, daß die Entwicklungspolitik auch von außenpolitischen Kriterien bestimmt werde. Hier gibt es sachliche Unterschiede zwischen den Bedingungen des staatlichen Handelns und der Arbeit freier privater Träger. Die Regierung hat für die auswärtigen Beziehungen insgesamt Sorge zu tragen. Deutsche auswärtige Politik heißt Bewahrung und Förderung von Frieden und Freiheit in Deutschland, in Europa, in der Welt. Die staatliche Entwicklungspolitik, die zu einem neuen Bestandteil unserer auswärtigen Beziehungen geworden ist, hat ihren eigenen Rang, sie hat eigenständige Ziele und Verpflichtungen.

Unsere Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern beruht auf Partnerschaft und gegenseitigem Respekt. Wir unterstützen echte Blockfreiheit, weil sie eine Voraussetzung für die Selbständigkeit und die Zukunft dieser Länder ist. Aber auch für die Entwicklungsländer gilt, daß wirtschaftliche Freiheit und politische Freiheit zusammengehören und sich gegenseitig bedingen.

Die Wirtschaft - auch in den Ländern der Dritten Welt - muß sich in sozialer Verantwortung bewähren. Wir unterstützen eine marktwirtschaftliche und gleichzeitig soziale Politik, die nicht nur zu mehr Produktivität, sondern auch zu mehr Verteilungsgerechtigkeit führt.

Entwicklungspolitik muß Struktur- und leistungsschwache Regionen und Branchen gezielt fördern. Sie muß die Voraussetzungen schaffen für unternehmerisches Handeln, z. B. im Handwerk und Kleingewerbe, bei den kleinen und mittleren ländlichen Betrieben.

Ich habe Verständnis dafür, daß das nach dem Krieg entstandene System der Weltwirtschaft von vielen Entwicklungsländern kritisch gesehen wird. Aber dirigistische und planwirtschaftliche Maßnahmen und neue bürokratische Großorganisationen, wie sie in den Forderungen nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung vorgeschlagen werden, führen erfahrungsgemäß nicht zum Erfolg. Wir müssen eine internationale, marktwirtschaftliche Ordnung stärken, die soziale Korrekturen und Ziele berücksichtigt und den schwächeren Partnern faire Chancen einräumt.

Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern muß verbessert und ausgebaut werden, damit die Entwicklungsländer zu mehr Unabhängigkeit und Wohlstand kommen und damit wir unsere eigenen wirtschaftlichen Chancen langfristig erweitern können.

Der Eintritt der Staaten der Dritten Welt in die internationale Politik gehört zu den wichtigsten Veränderungen in diesem Jahrhundert. Wir unterstützen den Willen der Entwicklungsländer zur Unabhängigkeit und ihre Forderung nach Selbstbestimmung und eigenständiger Gestaltung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung. Wir respektieren ihren Wunsch, den eigenen Charakter zu bewahren und sich wieder stärker auf gewachsene und häufig von außen gestörte Traditionen zu besinnen.

Globale Entwicklungen stellen die Länder der Dritten Welt vor Probleme, die sie zwar in erster Linie selbst lösen müssen, die sie allein aber nicht mehr meistern werden: das sprunghafte Anwachsen der Bevölkerung, den Mangel an Nahrungsmitteln, Energieverknappung und Umweltbelastungen, Massenarbeitslosigkeit und nicht zuletzt die drückende Auslandsverschuldung. Angesichts dieser Not dürfen wir uns nicht damit abfinden, daß die Rüstungsausgaben - übrigens auch in der Dritten Welt - ständig steigen, während Hunderte Millionen Menschen Hunger leiden. Hunger und Unterernährung, Krankheiten, Wohnungsnot und Massenarmut in den Entwicklungsländern sind Schlüsselprobleme für die Zukunft der Menschheit. Die Solidarität mit den Armen in der Welt geht jeden Bürger unseres Landes an.

Der Christ sieht seinen Nächsten nicht allein im Haus nebenan, nicht nur in seiner Stadt und seinem eigenen Land. Nach christlicher Auffassung ist jeder Mensch Ebenbild Gottes.

Ich bin dankbar für die Hilfe von so vielen in unserem Land, und ich hoffe, daß diese Hilfsbereitschaft weiter wächst. Die Älteren unter uns erinnern sich noch daran, wie es in den Jahren nach dem Krieg war, als uns unsere heutigen amerikanischen Freunde in unserer Not zur Hilfe kamen. Auch aufgrund dieser Erfahrung müssen wir in unserer Zeit Resignation und Gleichgültigkeit überwinden und uns für unsere Mitmenschen überall auf der Welt engagieren. So können wir Deutsche vor aller Welt bezeugen, daß wir aus der Geschichte gelernt haben und Werke des Friedens tun wollen.

Quelle: Bundeskanzler Helmut Kohl: Reden 1982-1984. Hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Bonn 1984, S. 339-343.