Wir und mit uns das ganze deutsche Volk gedenken in dieser Stunde Ludwig Erhards. Ludwig Erhard, der sich als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft, als Bundeswirtschaftsminister und als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland um den Wiederaufbau Deutschlands verdient gemacht hat. Durch seinen Mut, seine Vertrauenswürdigkeit und sein Einstehen für andere hat er unseren Bürgern Vertrauen und Lebensmut gegeben.
Mit Ludwig Erhard haben wir nicht nur den Vater des deutschen Wirtschaftswunders und den Vorkämpfer und das Symbol der Sozialen Marktwirtschaft verloren, sondern vor allem den unbeugsamen Kämpfer für Freiheit, Recht und für eine menschenwürdige Ordnung. Die Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung unseres Staates wurde durch sein Wirken entscheidend geprägt. Sie wurde bestimmt von seinen Prinzipien: persönliche Freiheit, Chancengleichheit, Recht auf Eigentum und soziale Sicherheit. Soziale Marktwirtschaft, das haben wir von ihm gelernt, ist nicht lediglich ein Weg zum Wohlstand für alle. Soziale Marktwirtschaft - so, wie er sie gelebt hat - ist vielmehr ein Ziel in sich, für das es täglich einzustehen gilt, damit alle in Freiheit besser leben können.
In seiner letzten großen Rede vor diesem Hohen Hause, am 14. Dezember 1976, hat er uns in diesem Sinne gemahnt:
„Bedenken Sie, daß sich vor jetzt nahezu 30 Jahren alle Fraktionen des Deutschen Bundestages selbst im Widerstreit der Parteien vor die gemeinsame Aufgabe gestellt sahen, aus der geschichtlichen Tragödie unseres Volkes die Lehre zu ziehen, daß er einer neuen und geläuterten Wirtschafts- und Sozialordnung bedarf, um nicht nur in materieller, sondern auch in geistig-sittlicher Beziehung unsere gültige Demokratie in uns selbst lebendig sein zu lassen und dazu auch nach außen vor der Welt glaubhaft zu machen."
Die moralisch-geistige Gesinnung war es, die sein Handeln und Denken stets bestimmt hat. Aus dieser Gesinnung lebte er sein Leben; ein Leben, das ihm nicht leicht gemacht wurde und das er sich selbst nicht leicht gemacht hat.
Der Soldat des 1. Weltkrieges, der als Schwerverwundeter heimkehrte, der Student der Nationalökonomie, der hoffnungsvolle junge Wissenschaftler, dem das nationalsozialistische Regime die akademische Laufbahn verwehrte, der aufrechte Patriot, der sich dem Druck nicht beugte, der weitsichtige Politiker, der im Kriegswinter 1943/44 - alle Gefahren mißachtend - seine Denkschrift mit dem Thema „Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung" niederschrieb, dieser Mann hatte seinen eigenen Kompaß.
Als 1945 das deutsche Volk vor den Trümmern stand, ging es neben der Beseitigung materieller Not vor allem darum, unserem Volke einen Weg in die Freiheit zu weisen. Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Hunger waren das Signum jener Tage. Städte und Dörfer, Fabriken und Wohnungen waren weitgehend zerstört. Riesige Flüchtlingstrecks kamen ins Land, die wenig mehr mitbrachten als das, was sie auf dem Leibe hatten, und den Willen zu überleben.
1947 trieb die Entwicklung auf eine Katastrophe zu. Die alles entscheidende Frage war: Wie sollten der Staat und die Wirtschaft neu geordnet werden?
In dieser Stunde der Not setzte Ludwig Erhard sein Zeichen, wies er unerschrocken und unbeirrbar den Weg aus der Zwangsbewirtschaftung in eine freiheitliche Wirtschaftsordnung. Durch 18 Jahre hindurch trug er in verschiedenen Ämtern die entscheidende Verantwortung für den Kurs der deutschen Wirtschaftspolitik.
Er schaffte den Durchbruch von der zwangswirtschaftlichen Reglementierung in die Freiheit der Sozialen Marktwirschaft. Vielen in allen politischen Lagern schien dies damals ein tollkühnes, ja ein unerlaubtes Unterfangen.
Für ihn war die Wirtschaft immer eine menschliche, eine schöpferische Leistung. Nie hat er den Menschen und seine Würde in den Organisationsformen von Wirtschaft und Gesellschaft aus den Augen verloren. Unvergessen ist sein Bekenntnis auf den Parteitag der CDU der britischen Zone am 28. August 1948 in Recklinghausen:
„Die Grundlage einer neuen gesellschaftlichen Ordnung ist nicht der sinn- und seelenlose Termitenstaat mit all seiner Entpersönlichung des Menschen, sondern der organische Staat, gegründet auf der Freiheit des Individuums, zusammenstrebend zu einem höheren Ganzen."
Er sah auch frühzeitig die Gefahren, die seinem Werk und unserer Sozialen Marktwirtschaft drohen, einer Ordnung, die heute Vielen als etwas ganz und gar Selbstverständliches erscheint, von manchen bereits als überaltert angesehen wird, als eine Ordnung, die zu ersetzen sei, ohne daß sie wissen, was gleichwertig an ihre Stelle treten könnte.
Wir sind Ludwig Erhard dankbar, daß er von Anfang an solchen gefährlichen Unverstand mit der ganzen Macht seiner Argumente und jenem Mut und jener Zivilcourage, zu der er immer fähig war, in die Schranken gewiesen hat.
Er hat Inflation und Arbeitslosigkeit als Geißeln gebrandmarkt, die nicht schicksalhaft vom Himmel fallen, sondern nach seiner festen Überzeugung durch menschliche Einsicht und Vernunft im Rahmen einer reiferen und vernünftigeren wirtschaftlichen und sozialen Ordnung beseitigt werden können. Hier in diesem Hohen Hause, dem Deutschen Bundestag, hat er bis zuletzt gegen das Unrecht wirtschaftlicher und sozialer Fehlentwicklungen gekämpft.
So steht das Bild Ludwig Erhards in dieser Abschiedsstunde vor uns: eine eigenwillige Persönlichkeit, die sich anderen nicht leicht erschloß und deren gelegentlich eckig wirkende Gestalt die hohe Sensibilität verbarg; eines Politikers mit Phantasie, Beharrlichkeit, schöpferischer Leistung und Sachverstand; das Bild eines entschiedenen Mahners und wirksamen Kämpfers für die freiheitliche Rechtsordnung; eines Staatsmannes, der den Auftrag der Geschichte an unsere Generation erkannte; der Versöhnung mit den Nachbarn und Gegnern von gestern suchte und fand; der in einer wahrlich weiten Sicht in seiner Art und Mission dem Frieden diente, mit Israel und unseren Nachbarn in West- und Osteuropa.
Die CDU/CSU-Fraktion nimmt Abschied von Ludwig Erhard. Die CDU trauert um ihren Ehrenvorsitzenden; um einen Mann, der unserer Sache treu gedient hat und ohne dessen Wirken das Programm und die Politik der CDU undenkbar gewesen wäre.
Wir nehmen Abschied von einem guten Kameraden und treuen Freund, der gerade uns Jüngeren immer wieder Vorbild war; von einem Manne, der sein Charisma durch seine menschliche Wärme erhielt, der durch seine Aufrichtigkeit überzeugte.
Unsere Mitbürger haben gewußt, daß sich sein Wollen und Wirken nicht nur in den Bahnen kühlen Verstandes, sondern vor allem auch in denen des Herzens bewegte.
Ludwig Erhard hat es erlebt, was wenigen Politikern vergönnt ist: Millionen Menschen haben gespürt, daß seine Politik ihnen galt und ihnen unmittelbar zugutekam.
Ludwig Erhard wollte nicht, daß seine Freunde auf sein Leben und seine Politik zurückblicken. Er erwarte von ihnen - so sagte er an seinem 80. Geburtstag am 4. Februar d.J. - auch für die Zukunft kämpferische Treue zu den Ideen und Grundsätzen, die die Bundesrepublik Deutschland geprägt haben. Unser Vaterland benötige tapferen Einsatz und Wachsamkeit, damit auch in kommenden Zeiten ein freiheitliches und menschenwürdiges Dasein erhalten bleibe.
Dieses Vermächtnis soll für uns Verpflichtung sein und unser Dank an Ludwig Erhard.
Quelle: Helmut Kohl: Bundestagsreden und Zeitdokumente. Hg. von Horst Teltschik. Bonn 1978, S. 201-204.