11. Mai 1978

Rede in der 90. Sitzung des Deutschen Bundestages anlässlich der Debatte über den Besuch des Staatsoberhauptes der Sowjetunion, Generalsekretär Breschnew, in der Bundesrepublik

 

Dr. Kohl (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

„Der Friede wird erst dann wirklich fest, wenn er zum Hauptorientierungspunkt und Kriterium der Politik aller Staaten wird; wenn nicht die Angst vor dem Nachbarn, sondern das bewußte Bestreben, miteinander friedlich zusammenzuarbeiten und Vereinbarungen ohne Beeinträchtigung der Sicherheit von irgend jemandem zu treffen, das Herangehen der Regierungen an die entstandenen Probleme bestimmen wird."

Dies ist ein Zitat aus der Tischrede des Generalsekretärs der KPdSU, Leonid Breschnew, vom Donnerstag der vergangenen Woche hier in Bonn.

Wir, die CDU/CSU, nehmen diese Erklärung über den sowjetischen Friedenswillen und dieses Werben auch um unser Vertrauen ernst.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die Bedeutung der Sowjetunion als Vertragspartner der Bundesrepublik Deutschland, als militärische Großmacht, als eine der vier Mächte, die für Deutschland als Ganzes und Berlin Rechte und Verantwortlichkeiten innehaben, ist offenkundig.

Deshalb - und hier stimme ich Ihnen zu, Herr Bundeskanzler - ist es wichtig, daß zwischen den verantwortlichen Persönlichkeiten der beiden Staaten trotz der tiefen politischen Überzeugungs- und Interessengegensätze immer wieder Gespräche stattfinden. Auch hierzu sind wir bereit.

Aber ein solcher Dialog kann nur dann wirklich konstruktiv und nützlich sein, wenn er offen und ehrlich geführt wird.

Es liegt deshalb im nationalen Interesse der Deutschen - und ich hoffe, darin sind wir einer Meinung -, sich für nachbarschaftliche, für gutnachbarschaftliche Beziehungen mit der Sowjetunion einzusetzen.

Wir sind bereit, die Sowjetunion als einen Partner zu betrachten, mit dem eine Zusammenarbeit in vielen Bereichen möglich und für beide Seiten von Vorteil ist. Wichtige Abschnitte in der Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen beweisen, daß dies immer wieder möglich war - zum Nutzen beider Völker.

Allerdings - und das muß gerade in Betracht auf das deutsch-sowjetische Verhältnis deutlich hinzugefügt werden - darf ein deutsch-sowjetisches Zusammenwirken nicht zu Lasten der Lebensinteressen anderer Nachbarvölker gehen. Die großen Schicksalsschläge, die unermeßliches Leid über unsere Völker gebracht haben, lehren uns aber auch, daß es im Interesse der beiderseitigen Beziehungen liegt, wenn offen und aufrichtig auch über das gesprochen wird, was uns trennt.

Dies auszusprechen und die sich daraus für die künftige Zusammenarbeit ergebenden Schwierigkeiten und Grenzen aufzuzeigen, bedeutet nicht, einen Interessengegensatz zwischen Deutschland und der Sowjetunion so stark zu betonen, daß jede Zusammenarbeit schlechthin ausgeschlossen ist oder unmöglich gemacht wird. Im Gegenteil: Es ist die Aufgabe beider Seiten, gemeinsame und parallele Interessen aufzuzeigen und auf dieser Grundlage zu versuchen, Beziehungen positiv zu gestalten.

Wir, die CDU/CSU, begrüßen es, daß es möglich war, beim Besuch des sowjetischen Staats- und Parteichefs Leonid Breschnew auch einen offenen Meinungsaustausch mit den Führern der Oppositionsparteien zu führen.

Eine nüchterne Analyse der erzielten Ergebnisse, Herr Bundeskanzler - und damit darf ich auf Ihre Regierungserklärung eingehen -, darf sich jedoch nicht nur auf die Reden, Gespräche und die unterzeichneten Dokumente beziehen. Eine solche Analyse muß die sowjetischen Ziele, Absichten und Interessen, die auch zu diesem Staatsbesuch, zu diesem Termin geführt haben, mit einbeziehen. Dabei habe ich einige nüchterne Feststellungen zu machen.

Es kam zu mehrmaligen Verschiebungen des Termins, und wir glauben, keineswegs nur aus Gründen der Gesundheit. Dann ist dieser Termin sehr kurzfristig anberaumt worden. Das erfolgte zu einem Zeitpunkt, Herr Bundeskanzler, der durch starke Differenzen zwischen der Bundesregierung und den Vereinigten Staaten von Amerika geprägt war und ist. Die Politik der Menschenrechte - um nur einige Beispiele zu nennen - von Präsident Carter wurde von Ihnen persönlich, von vielen Mitgliedern Ihrer Regierung und vor allem von Ihrer eigenen Partei fortdauernd in Zweifel gezogen. Die Diskussion um die Neutronenwaffe, noch vor wenigen Wochen auch in diesem Hause, von der Führung der SPD in irreführender Weise öffentlich entfacht und durch die undurchsichtige Haltung der Bundesregierung mitgefördert, hat deutliche Meinungsverschiedenheiten in zentralen Fragen der Sicherheits- und Abrüstungspolitik zwischen Bonn und Washington offenbart. Auf den Streit in Sachen Wirtschaftspolitik zwischen Ihnen und der Administration des Präsidenten Carter will ich in diesem Zusammenhang gar nicht weiter eingehen.

Dieser Besuch erfolgte auch so rechtzeitig, daß er noch vor den Gipfelkonferenzen der NATO und der westlichen Industrieländer Ende Mai und im Juli dieses Jahres stattfand. Das sind Gesichtspunkte, die den internationalen Zusammenhang deutlich machen und die auf keinen Fall vergessen werden dürfen. Ich hätte mir sehr gewünscht, Herr Bundeskanzler, wenn Sie diesen Zusammenhang hier nicht nur hergestellt, sondern auch aus Ihrer Sicht in Ihrer Regierungserklärung dokumentiert hätten.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Es gibt einen zweiten sehr wichtigen zentralen Gesichtspunkt: Der Verlauf des KSZE-Nachfolgetreffens in Belgrad hat offenkundig die Sowjetunion politisch und moralisch in die Defensive gedrängt. Die Entwicklung in Afrika, insbesondere am Horn von Afrika, hat weltweite Kritik an der sowjetischen Expansionspolitik ausgelöst.

Wir haben in diesen Tagen den blutigen Umsturz und die kommunistische Machtübernahme in Afghanistan erlebt. Sie fielen zeitlich mit diesem Besuch zusammen. Es ist ein ziemlich trauriges Zeichen für den Zustand der öffentlichen Meinung bei uns im Westen, daß dieses Ereignis in Afghanistan nahezu ohne öffentliche Reaktion blieb.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Es kommt ein dritter Merkposten hinzu, Herr Bundeskanzler: Die Enttäuschung der sowjetischen Führung über die Stagnation der amerikanisch-sowjetischen Gespräche über die Begrenzung strategischer Rüstungen ist seit langem offenkundig. Auch die Wiener Verhandlungen über die Truppenreduzierung in Mitteleuropa verlaufen gegenwärtig durchaus nicht im Sinne Moskaus.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, daß die Sowjetunion seit einiger Zeit bestrebt ist, der Bundesrepublik Deutschland, nicht nur im politischen Sinne, sondern auch in Fragen der Abrüstung und Rüstungsbegrenzung eine Schlüsselrolle im westlichen Bündnis zuzuweisen. Die sowjetische Führung geht dabei davon aus, daß zweiseitige Gespräche zwischen ihr und der Bundesregierung über Fragen der Sicherheit und Abrüstung ihren Eindruck auf unsere Bündnispartner im Westen nicht verfehlen werden.

Ein zweiter Punkt gehört dazu. Die Sowjetunion konnte im jetzigen Zeitpunkt auf ein für sie günstiges innenpolitisches Klima in der Bundesrepublik Deutschland rechnen. Das will ich ganz nüchtern ansprechen und belegen. Die von Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, mit pseudomoralischen Argumenten geführte Diskussion und Auseinandersetzung über die Neutronenwaffe war für die Sowjetunion eine außerordentlich willkommene Hilfe, die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik und in Westeuropa gegen diese Waffe zu mobilisieren.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Sie hat - ob Sie das immer wollten oder nicht, aber das war im Gefolge Ihrer Politik die Konsequenz - auch dazu beigetragen, wieder ein Stück Mobilisierung gegen die Amerikaner in der Bundesrepublik zu erreichen.

(Wolfram [Recklinghausen] [SPD]: Das haben Sie doch gemacht!)

Das ist ein so ungewöhnlich törichter Zwischenruf, daß Sie ihn ruhig noch einmal wiederholen können.

(Zurufe von der SPD.)

Die CDU/CSU ist ganz gewiß nicht die Partei, die die Bevölkerung gegen die Amerikaner mobilisiert hat. Sie haben die Anti-Amerikakampagne in der Bundesrepublik jahrelang geschürt.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Auf den vorderen Bänken Ihrer Parteiführung sitzen nicht wenige, die damit in den letzten Jahren politische Geschäfte gemacht haben.

(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.)

Wenn wir schon bei der Verteidigungsbereitschaft sind: Es war ja nicht zuletzt Ihre Politik - denken Sie an die Auswirkung der Diskussion um die Wehrpflichtnovelle, den Wechsel im Verteidigungsministerium, die wiederholten Vorstöße von führenden Leuten der SPD, die gemeinsame NATO-Linie in Fragen der Wiener Truppenabbauverhandlungen zu verlassen und eigene Initiativen zu ergreifen -, die der Sowjetunion - ob Sie das wollten oder nicht, aber sie tat es - das Vorhandensein eines Nährbodens für ihre gegen den Westen gerichtete Abrüstungspropaganda signalisierte. Das ist doch die Erfahrung in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten Monaten.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Während die Sowjetunion in den Jahren nach 1970 in besonderer Weise stark aufgerüstet hat, vermittelte und vermittelt Westeuropa - und gerade auch die Bundesrepublik Deutschland - den Eindruck, als werde ein wesentlicher Teil der politischen Führung - auch unseres Landes - immer deutlicher davon gezeichnet, ein Nachlassen der Verteidigungsbereitschaft in Kauf zu nehmen. Auch das gehört zur Bestandsaufnahme der Gegenwart.

Dafür tragen Sie, meine Damen und Herren von der SPD, wesentliche Verantwortung. Wir erleben doch mit Sorge, wie die Herren Brandt, Wehner, Bahr, Ehmke und andere erneut dabei sind, die wichtige Diskussion über Abrüstung und Rüstungskontrolle mit einseitigen und selektiven moralischen Argumenten zu führen und damit einer wirklich ernsthaften Sachdiskussion zu entziehen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Was Sie hier betreiben, ist doch nichts anderes als der Versuch, wie in den Jahren nach 1969 die Bürgerschaft unseres Landes zu spalten und zu polarisieren. Anfang der 70er Jahre waren alle jene, die für die Ostpolitik der Regierung waren, Freunde des Friedens, während alle Gegner und Kritiker dieser Politik in primitiver Weise als Feinde des Friedens abgestempelt wurden. Genau die gleiche Lesart soll doch jetzt im Vorfeld der Wahlen wieder praktiziert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich kann Sie nur warnen, diese Demagogie fortzusetzen. Ich kann Sie nur warnen, weil Sie damit die Sicherheit unseres Landes nicht fördern und weil Sie damit eine Entwicklung einleiten, deren militärische und politische Folgen unübersehbar sind. Sie schaden damit wahrlich nicht der Opposition. Sie schaden allein den Interessen unseres Vaterlandes und damit auch dem westlichen Bündnis.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Auch das ist ja kein Zufall und muß angesprochen werden: Diese Kampagne liegt im Interesse sowjetischer Ideologen, und sie ist Wasser auf die Mühlen der kommunistischen Propagandisten genauso wie Ihre just zum Zeitpunkt des Breschnew-Besuchs in Gang gebrachte Kampagne gegen den Radikalenerlaß. Es ist doch kein Zufall, daß sich jetzt ausgerechnet Herr Brandt hinstellt und dieses Thema in dieser Form abhandelt, er, der immerhin dabeisaß, als die deutschen Ministerpräsidenten damals diese Vereinbarung mit dem Bundeskanzler trafen.

(Strauß [CDU/CSU]: Und mit unterschrieben hat!)

Und unterschrieben hat. - Können Sie denn leugnen, daß hier der Zusammenhang mit den Berufsverbotskampagnen der Kommunisten unzweifelhaft hergestellt werden kann, hergestellt werden muß?

In diesen internationalen und innenpolitischen Rahmen müssen wir auch den Besuch von Generalsekretär Breschnew einordnen, denn an diesen Realitäten und an den nationalen Interessen unseres Volkes müssen wir den Besuch als Ganzes und im einzelnen auch die Dokumente messen. Die Ziele deutscher Ostpolitik müssen bleiben:

1. die Bewahrung unserer Freiheit, die Verwirklichung der Menschenrechte für alle Deutschen - denn dies ist der moralische Kern unserer bleibenden Forderung nach der Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands im Rahmen eines vereinigten, freien Europas;

(Beifall bei der CDU/CSU.)

2. die Aufrechterhaltung und Entwicklung der Bindungen Berlins an die Bundesrepublik Deutschland - dies ist ein wichtiges Element des Viermächteabkommens über Berlin, das strikt eingehalten und voll angewendet werden muß;

(Beifall bei der CDU/CSU.)

3. die Einbindung unserer Friedensbemühungen in die Politik der Europäischen Gemeinschaften und der Nordatlantischen Allianz.

(Wolfram [Recklinghausen] [SPD]: Das praktiziert die Bundesregierung doch alles!)

4. Die Verträge mit dem Westen und dem Osten und die KSZE-Schlußakte müssen natürlich auch im deutschen Interesse in Übereinstimmung mit unserer Verfassung und im Sinne der völkerrechtlich verbrieften Menschenrechte genutzt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

5. Zu dieser Politik gehört unser Eintreten für eine ausgewogene Rüstungsbegrenzung und Abrüstung, die eine qualitative und quantitative Parität sowohl interkontinental wie europäisch-regional gewährleistet. Unser Ziel - Herr Bundeskanzler, an diesem Punkt stimmen wir Ihnen gern zu - bleibt ein dauerhafter Friede in Europa und weltweit. Das ist der Wille aller Deutschen.

Wir sollten in der deutschen Innenpolitik damit aufhören, uns gegenseitig abzusprechen, daß wir mehr oder weniger für den Frieden seien. Wir haben gemeinsam die Lektion unserer Geschichte gelernt.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Bundeskanzler, wenn wir diese Elemente, diese Grundvoraussetzungen als Maßstab an die Ergebnisse dieses Besuchs anlegen, dann sind diese Ergebnisse trotz allem recht mager. Es war

- das braucht nichts Schlechtes oder Negatives zu sein - ein Besuch der Kontakte und nicht der Resultate. Aber diese Kontakte

- das sage ich deutlich - sind von großer Bedeutung. So wichtig dieser Besuch für die Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen war, so rechtfertigt er nicht die überschwengliche Kommentierung, die Sie und andere mit Ihnen vertreten haben und in diesen Besuchstagen dem deutschen Bürger gelegentlich zugemutet haben. Die nüchternere Sprache Ihrer Regierungserklärung heute gefällt mir sehr viel besser. Aber, Herr Bundeskanzler, Sie hätten dann schon ein Wort zu Ihrer These sagen sollen, daß dies ein „Ereignis von historischer Dimension" sei und daß Vertragsvereinbarungen zu verzeichnen seien, die „ohne Beispiel in der Welt" dastünden. Das sind sehr große Worte. Wir sind ja in dieser Erfahrung von Ihnen verwöhnt. Aber ich meine, in einer Regierungserklärung sollten Sie doch dem Lernbegierigen und Lernwilligen in Deutschland etwas Amtshilfe gewähren. So hoffnungslos sind ja selbst die Kollegen in der SPD nicht dran, daß sie nicht bereit wären, hier dazuzulernen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Meine Damen und Herren, mit Interesse haben wir dagegen die Äußerung der FDP gelesen. Ich teile die Ansicht von Herrn Mischnick, daß erst die kommenen Monate und Jahre zeigen müssen, wieweit Übereinstimmung zwischen Bonn und Moskau in Tat und Wahrheit erreicht werden konnte und ob der sowjetische Partner mehr als bisher die Weisheit und den Willen aufbringt, den elementaren Überzeugungen, Rechten und Interessen des deutschen Volkes Rechnung zu tragen.

Zusammenfassend kann man sagen: Die Schlußdokumente können nicht an ihren Worten, sondern müssen an ihren Wirkungen und Taten gemessen werden. Nicht schöne Worte schaffen jenes Vertrauen, von dem in diesen Tagen so oft die Rede war, sondern die konkreten Taten.

Die Schlußdokumente sind - wie so viele deutsch-sowjetische Texte der letzten acht Jahre - der Versuch, die tiefgreifenden politischen Interessenunterschiede und Überzeugungsgegensätze zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland durch eine Ansammlung wohlklingender Formeln wie Entspannung, Abrüstung, Frieden, Vertrauen zu überdecken. Unsere Erfahrung, Herr Bundeskanzler, hat gerade in den letzten Jahren und gerade in der Berlin-Frage gezeigt, daß verbale Übereinstimmung noch keine Übereinstimmung in der Sache ist und daß eine solche Politik leicht zu Trugschlüssen und Illusionen führen kann. Wir werden deshalb auch weiterhin die sowjetische Entspannungsbereitschaft daran messen, wieweit ihr Taten folgen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Prüfsteine für diesen guten Willen sind für uns

1. die Bereitschaft zu realer und kontrollierter Abrüstung und damit größerer Sicherheit in Europa,

2. Berlin, das für uns nicht irgendeine Stadt, sondern Herzstück der deutschen Geschichte und der deutschen Gegenwart ist,

(Beifall bei der CDU/CSU.)

3. die Entwicklung in Deutschland, vor allem auch an der innerdeutschen Grenze,

4. die Verwirklichung der Menschenrechte und

5. ein Voranschreiten bei der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Kultur und des Jugendaustausches.

Es gibt keinen Zweifel, meine Damen und Herren, daß sich die Verbesserung der politischen Beziehungen zwischen den beiden Staaten und zwischen Ost und West generell am besten, am glaubwürdigsten in einer ausgewogenen Verminderung der militärischen Zerstörungskraft niederschlagen würde. Die Sowjetunion, Herr Bundeskanzler, muß wissen, daß ihre Erklärungen über Frieden und Entspannung so lange nicht überzeugend sind, solange sie den Ausbau ihrer militärischen Macht praktisch unbegrenzt fortsetzt.

Wir alle in der CDU/CSU wären gern bereit, die Aufrichtigkeit der sowjetischen Friedensbeteuerungen und des Gewaltverzichts anzuerkennen. Die militärische Überlegenheit der Sowjetunion, wie sie sich vor allem in der gewaltigen Überlegenheit der Panzerwaffe und der Mittelstreckenraketen dokumentiert, steht unserem guten Willen dazu und dem anderer immer noch entgegen. Die sowjetische Überlegenheit gerade in Mitteleuropa übersteigt doch bei weitem die Verteidigungserfordernisse der Sowjetunion.

Wenn die sowjetische Führung darauf verweist, daß es allein ihrer Souveränität unterliegt, ihr eigenes Sicherheitsbedürfnis zu definieren, so muß sie dieses subjektive Sicherheitsbedürfnis auch anderen, auch der Bundesrepublik Deutschland, auch dem Westen als Ganzem, selbstverständlich zugestehen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Aber, meine Damen und Herren, gerade das tut die Sowjetunion nicht, wenn sie gleichzeitig alles versucht, unsere Antwort auf die sicherheitspolitische Herausforderung des Warschauer Paktes zu verhindern. Dazu gehört eben auf Grund unseres nationalen Sicherheitsbedürfnisses und desjenigen des Bündnisses die Weitergabe militärischer Kenntnisse und technischen Know-hows der Amerikaner an die europäischen Verbündeten; dazu gehört - ich sage es noch einmal - auch die Einführung der Neutronenwaffe.

Die Sicherheit in Europa kann nur auf der Basis wechselseitig angewendeter Kriterien hergestellt werden. Nach wie vor, meine Damen und Herren - und wir haben keine Freude an dieser Feststellung, aber sie muß getroffen werden, weil sie realistisch ist -, läßt es aber der dialektische Sicherheitsbegriff der Sowjetunion nicht zu, eine Übereinstimmung herbeizuführen, um die verschiedenartigen Militär- und Rüstungspotentiale in Ost und West wechselseitig vergleichbar und nachweisbar zu machen. Erst dann stünde einer Übereinkunft im Rahmen von SALT oder MBFR nichts mehr im Wege, weil erst dann jede Seite und auch wir sicher sein könnten, daß die andere Seite daraus keinen einseitigen Vorteil gewinnt. Wir werden uns auf keinen Fall einer sowjetischen Sicherheitsdoktrin beugen, die nur in der Aufrechterhaltung von militärischer Überlegenheit ausreichende Sicherheit findet. Wir warnen deshalb davor, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland auf die sowjetische Zusicherung zu gründen, daß militärische Gewalt in den wechselseitigen Beziehungen nicht angewandt, angedroht und manifestiert werden soll. Es geht hier vielmehr um ein wesentlich politisches Problem: Ein Partner oder Gegner kann nicht nur nach seinen Erklärungen beurteilt werden; ausschlaggebend bleibt, meine Damen und Herren, wozu er fähig ist.

Aus der Erfahrung der Geschichte wissen wir, daß vereinbarter Gewaltverzicht diejenigen Bedrohungen für eine frei bestimmte Politik nicht ausschließt, die in der bloßen Existenz überlegener Militärmacht liegen. Wer sich, Herr Bundeskanzler - auch ohne daß er offen bedroht wird -, im Bewußtsein seiner eigenen militärischen Unterlegenheit kein eigenständiges, den Interessen des eigenen Landes entsprechendes Handeln mehr zutraut, wer in entscheidenden Fragen die Billigung des überlegenen Nachbarn einholen muß, um Konflikten vorzubeugen, ein solcher Staat, meine Damen und Herren, ist auch in unserem internationalen System politisch erpreßbar.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wir, die Bundesrepublik Deutschland, müssen deshalb alles tun, um die politische Solidarität innerhalb des Atlantischen Bündnisses überzeugend zu stärken. Wir müssen unseren eigenen Beitrag zur westeuropäischen Verteidigung ohne Wenn und Aber leisten. Beides ist die Voraussetzung dafür, daß unsere Bundesrepublik Deutschland nicht in eine Lage gerät, in der sie politisch erpreßbar ist. Eine derartige sowjetische Einwirkung würde zu einer Beziehung führen, in der sich die Bundesrepublik Deutschland eine einseitige Pflicht zum Wohlverhalten gegenüber den außen- und innenpolitischen Forderungen der Sowjetunion auferlegen müßte.

(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Wir würden in eine Wohlverhaltensabhängigkeit geraten. Das kann und darf nicht sein!

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Meine Damen und Herren, eine solche Entwicklung ist langfristig nur zu verhindern, wenn es - wie in den vergangenen Jahren - auch künftig ein ausgewogenes politisches und militärisches Verhältnis zwischen NATO und Warschauer Pakt gibt, das die auf beiden Seiten vorhandenen Machtpotentiale für die Zwecke des militärischen Einsatzes und des politischen Drucks unbrauchbar macht. Vor allem in dieser Feststellung liegt nach wie vor die friedenswahrende Mission der NATO und unserer Bundeswehr.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Bundeskanzler, in diesem Zusammenhang erfüllen uns die vorliegenden Texte mit einiger Sorge. Bekanntlich hat die Sowjetunion bei den Wiener Truppenabbauverhandlungen von Anfang an darauf gedrängt, schon in einem frühen Stadium über nationale Begrenzungen, also auch über eine Reduzierung der Bundeswehr, zu verhandeln. Die Bundesregierung und unsere Verbündeten haben sich diesen Forderungen immer widersetzt. Wir haben diese Haltung nachdrücklich unterstützt und tun es heute auch. Es war wiederum den Herren Brandt und Wehner vorbehalten, ihre Bereitschaft zu Abschwächungen der westlichen Bündnispolitik in Wien immer wieder zu signalisieren. Jetzt, Herr Bundeskanzler, erklärt sich die Bundesregierung ihrerseits in der „Deklaration" bereit, sich - ich zitiere - „mit ihren Streitkräften an Verringerungen der direkten Teilnehmer der Verhandlungen" zu beteiligen.

Hinweis genug auf die Problematik dieses Satzes ist es, daß sich - Herr Breschnew war kaum abgereist - der Bundesaußenminister bemüht fühlte, diesen Satz öffentlich zu interpretieren.

Ich will für die CDU/CSU feststellen, daß wir eine Vorreiterrolle in Abrüstungsfragen im Sinne der sowjetischen Vorstellungen strikt und entschieden ablehnen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Dann verwundert uns eine andere Formulierung, Herr Bundeskanzler. Sie haben sie heute sehr defensiv in Ihrer Regierungserklärung verteidigt. Wir lesen mit Erstaunen die Formulierung, „daß niemand militärische Überlegenheit anstrebt". Meine Damen und Herren, die Sowjetunion strebt nicht danach, sie hat sie bereits. Das ist ein ganz wesentlicher und entscheidender Punkt.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Bundeskanzler, was soll eigentlich dieser Satz? Ich könnte Ihnen jetzt eine ganze Stunde lang Ihre eigenen Zitate zu diesem Punkt vorlesen: den Bundesverteidigungsminister Helmut Schmidt, den Bundesfinanzminister Helmut Schmidt und den Bundeskanzler Helmut Schmidt. Sie haben doch selbst immer wieder bis in die letzten Tage hinein von der bereits bestehenden militärischen Überlegenheit der Sowjetunion in Europa gesprochen. Bereits diese Überlegenheit muß uns doch gemeinsam zuviel sein, muß abgebaut werden oder von der NATO ausgeglichen werden. Die Bundesrepublik Deutschland selbst kann und will keine militärische Übermacht besitzen.

Die Friedenspolitik Konrad Adenauers hat sich von Anfang an in völkerrechtlich verbindlicher Form zum Prinzip des Gewaltverzichts bekannt. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich ebenfalls unter Adenauer freiwillig Rüstungsbeschränkungen und Rüstungskontrollen unterworfen, insbesondere dem Verbot der Herstellung von Atomwaffen sowie biologischer und chemischer Waffen.

Nachdem das Prinzip des Verzichts auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt zur Lösung strittiger Fragen in der Schlußakte von Helsinki erneut feierlich bekräftigt worden ist, müssen doch nun endlich praktische Schritte getan werden, um den Frieden durch eine allgemeine und vollständige Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle unangreifbarer zu machen. Die Bundesrepublik Deutschland muß von der Sowjetunion die Bereitschaft erwarten, ihrem Gewaltverzicht endlich, jetzt und heute, konkrete und ausgewogene Abrüstungsmaßnahmen folgen zu lassen.

Ein wesentlicher Prüfstein, meine Damen und Herren, für die Entspannungsbereitschaft der Sowjetunion bleibt für uns die sowjetische Politik und die der DDR gegenüber Berlin. Wir stellen auch nach diesem Besuch, Herr Bundeskanzler, keine positive Bewegung im Blick auf die Berlin-Frage fest. Das gemeinsame Schlußkommuniqué klammert im Gegensatz zur gemeinsamen Deklaration die Berlin-Frage völlig aus. Dies ist bei anderen Themen nicht der Fall.

Im Abkommen über die langfristige wirtschaftliche Zusammenarbeit hat sich Moskau bereit gefunden, West-Berlin in den Text aufzunehmen. Allerdings, meine Damen und Herren, wird sich auch hier erst bei der Ausfüllung dieses Rahmenabkommens zeigen, wie konkret die Sowjetunion die Einbeziehung Berlins meint.

Herr Bundeskanzler, seit drei Jahren liegen drei zweiseitige Abkommen auf dem Tisch, die auch diesmal nicht unterzeichnet werden konnten, weil sich die Sowjetunion nach wie vor strikt weigert, West-Berlin konkret einzubeziehen. Es wäre doch Ihre Aufgabe gewesen, Ihren hohen Gast darauf hinzuweisen, daß wir ein solches selektives politisches Verhalten auf die Dauer nicht hinnehmen und akzeptieren können.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Immer dann, meine Damen und Herren, wenn es vorrangig um sowjetische Interessen geht, ist die Sowjetunion bereit, unseren Interessen ein Stück entgegenzukommen, im anderen Falle nicht.

Die sowjetische Führung muß doch wissen, daß es gerade im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit durchaus große Möglichkeiten gibt, wenn sie dort, wo es um unsere Interessen geht, größeres Entgegenkommen und größere Leistungsfähigkeit nachweisen würde.

Sie, Herr Bundeskanzler, und vor allem auch Ihre politischen Freunde in der SPD sprechen dennoch von einer positiven Perspektive in der Berlin-Frage. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie uns dies heute erläutert hätten. Wir sind gerne bereit, dazuzulernen, aber Sie müssen schon deutlich machen, wo sich diese positive Entwicklung zeigt.

Schon einmal sind Sie von Gesprächen aus Moskau zurückgekehrt - es war vor drei Jahren, ich erinnere mich noch gut an dieses Bild auf dem Bildschirm unmittelbar nach Ihrer Ankunft - und haben erklärt, daß jetzt alles vorangehe. Es war ein strahlender Optimismus. Es waren auch gute Wahltermine, die damals anstanden. Noch auf dem Flugplatz haben Sie davon gesprochen, es gehe jetzt nicht mehr darum - ich zitiere wörtlich -, „ob Berlin in die drei Abkommen konkret einbezogen werden kann, sondern nur noch um das Wie". Nichts hat sich bis heute bewegt, Herr Bundeskanzler. Wann gab es denn einen besseren Termin, wenn nicht jetzt beim Besuch von Herrn Breschnew, um darüber zu einem Ergebnis zu kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Aber das ist nur ein Teil der Realität der Bundesrepublik Deutschland und Berlins. Unmittelbar nach der Abreise von Herrn Breschnew müssen wir bereits befürchten, daß die Aktionen begonnen haben, die Position in Berlin noch weiter zu schmälern.

(Kunz [Berlin] [CDU/CSU]: Genauso ist es!)

Wie anders sind diese unglaublichen Äußerungen und Unterstellungen von Herrn Brandt und Herrn Wehner zu verstehen, Berlin nicht zum Testfall zu machen? Für die routinemäßige Wahl des Regierenden Bürgermeisters von Berlin zum Bundesratspräsidenten kündigt Herr Wehner aus eigenen Stücken, ohne von irgend jemandem dazu aufgefordert zu sein, bereits jetzt den Protest der Sowjetunion und der DDR an,

(Dr. Jenninger [CDU/CSU]: Unglaublich!)

obwohl seinerzeit die Regierenden Bürgermeister Suhr, Brandt und Schütz in genau dasselbe Amt gewählt worden waren, entsprechend den gewachsenen Bindungen zwischen Berlin und der Bundesrepublik Deutschland, wie sie auch im Viermächteabkommen akzeptiert worden sind.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Was Sie tun, Herr Wehner, ist nichts anderes als eine franko abgeschickte Einladung an Moskau und Ost-Berlin, erneut Schikanen in und um Berlin einzuleiten.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Sie provozieren und mitverantworten damit bewußt eine Verschlechterung unserer Position in Berlin. Die Warnung, Bundesbehörden nicht zum Testfall für Berlin zu machen, sind nicht nur gänzlich überflüssig, sie sind dem deutschen und dem Berliner Interesse in höchstem Maße abträglich.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich hätte gern von Ihnen eine Antwort gehört, Herr Bundeskanzler, wie Sie und der Herr Vizekanzler und Bundesaußenminister künftig in Gesprächen mit sowjetischen Führern oder in Gesprächen mit den drei Westalliierten mit dem Vorwurf des Herrn Wehner zurecht kommen wollen, daß Sie - ich zitiere wörtlich -, „sei es versehentlich"

(Dr. Marx [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

das sind die mildernden Umstände für Herrn Schmidt -, „sei es, weil man's probieren wollte" -, Sie müssen überlegen, wer das dann war -, „sei es auch bewußt fehlerhaft Entscheidungen für Berlin getroffen haben",

(Dr. Marx [CDU/CSU]: „Bewußt fehlerhaft")

zu denen Herr Wehner wörtlich feststellt: „Das wird allmählich abgebaut werden können." Herr Wehner, wer hat Sie eigentlich legitimiert, in dieser Weise über ein nationales Interesse der Deutschen zu reden?

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Bundeskanzler, zu all dem schweigen Sie

(Dr. Jenninger [CDU/CSU]: Wie immer!)

seit Tagen. Sie haben viele Tage und Stunden Gelegenheit gehabt. Ich habe gehofft, daß Sie wenigstens heute den Mut aufbringen, hier vor dem Forum des Bundestages das zu sagen, was Ihre Pflicht ist.

(Dr. Jenninger [CDU/CSU]: Das darf er nicht!)

Aber es ist erneut das alte Lied: Aus Angst vor Ihrer eigenen Fraktion sagen Sie und tun Sie nicht das, was für unseren Staat richtig ist.

(Beifall bei der CDU/CSU. Zurufe von der SPD.)

Aber ich gebe diese Frage auch gleich an den Herrn Bundesaußenminister weiter. Auch von ihm habe ich dazu bis jetzt nichts gehört. Er hat heute noch nicht gesprochen, und wir tragen natürlich in unserem Herzen die Hoffnung, daß er sprechen möge, und zwar nicht in einer indirekten Form, daß man vermuten könnte, Herr Wehner sei damit gemeint, sondern meine Hoffnung ist, Herr Kollege Genscher, daß Sie Roß und Reiter nennen; denn Sie sind persönlich angegriffen, wenn ich an jene Einrichtung eines Bundesamtes denke - ich kann das Wortungetüm nicht nachsprechen, deswegen will ich mich darauf beschränken, es nur anzudeuten -, das Sie damals auch mit unserer Unterstützung nach Berlin gebracht haben. Herr Wehner muß doch Sie gemeint haben, wenn er davon geredet hat, daß man da etwas bewußt fehlerhaft veranstaltet hat. Oder es ist nicht so; dann soll Herr Wehner sagen, wen er meint. Aber eines, meine Damen und Herren von der SPD, geht nicht: daß Sie jetzt in Berlin bei jeder nur denkbaren Gelegenheit vor der Wahl dort vor den Bürgern die große Schau abziehen,

(Wolfram [Recklinghausen] [SPD]: Das müssen gerade Sie sagen!)

aber dort, wo es um die Grundbestandteile der Berlin-Politik geht,

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

das genaue Gegenteil unter Beweis stellen.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Bundeskanzler, wir begrüßen es nachdrücklich, wenn Sie sich voll und ganz dafür einsetzen, daß möglichst viele hohe Staatsgäste nach Berlin gehen. Wir begrüßen es natürlich umso mehr, wenn das auch nach den Wahlen regelmäßig stattfindet, so daß ein kontinuierlicher Zusammenhang dieser Besuche hergestellt wird. Aber wir würden es sehr begrüßen, wenn Sie auch bei solchen Gelegenheiten, bei Besuchen hoher Staatsgäste in Berlin, deutlich das aussprächen, was auszusprechen Ihres Amtes ist und was Sie heute nicht ausgesprochen haben.

Wir werden uns auch in Zukunft entschieden dagegen wehren, daß die Sowjetunion und die DDR ständig versuchen, politische Positionen, die Moskau im Viermächteabkommen nicht durchsetzen konnte, durch restriktive Auslegung, durch unvollständiges und damit falsches Zitieren des Abkommens zu erreichen.

(Dr. Marx [CDU/CSU]: Das haben wir heute wieder erlebt!)

Auch hier, Herr Wehner, sind Sie dabei, Schützenhilfe zu leisten, wenn Sie lapidar feststellen, daß Berlin - ich zitiere - „kein konstitutiver Teil" der Bundesrepublik Deutschland sei. Und genau dieses in seiner Verkürzung gefährliche Zitat haben Sie, Herr Bundeskanzler, hier heute ebenfalls verwendet, und das ist ein schlimmer Zustand!

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Das Viermächteabkommen über Berlin stellt fest, Herr Bundeskanzler, daß die Westsektoren Berlins „wie bisher" kein Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland sind. Es stellt aber ebenfalls - und zwar im gleichen Satz - fest - und das ist doch ganz entscheidend -, „daß die Bindungen zwischen den Westsektoren Berlins und der Bundesrepublik Deutschland aufrechterhalten und entwickelt werden". Dieser Zusammenhang, Herr Wehner, darf doch nicht auseinandergerissen werden, wenn wir unsere Position nicht dauerhaft schwächen wollen.

Wir wehren uns entschieden dagegen, daß die Sowjetunion und in ihrem Gefolge die DDR das Viermächteabkommen über Berlin als Instrument benutzen, mit dessen Hilfe sie ein Mitspracherecht in allen den Westteil von Berlin betreffenden Angelegenheiten und die Kontrolle über das Verhalten der Bundesrepublik Deutschland in Berlin zu erlangen versuchen. Wenn die Sowjetunion - dies ist einer der Prüfsteine - eine dauerhafte und ersprießliche Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern will, wird sie diese Politik aufgeben müssen. Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland, Aufgabe jeder Bundesregierung muß es sein, dafür zu sorgen, daß Freiheit, Sicherheit und Lebensfähigkeit West-Berlins nicht angetastet werden.

Meine Damen und Herren, auch nach dem Berlin-Abkommen bleiben die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Deutschland als Ganzes und auf ganz Berlin unverändert die Grundlage der westlichen Rechte in Berlin. Sie stehen dem deutschen Verfassungsrecht nicht entgegen, sondern schützen es. Wir werden die sowjetische Politik insbesondere auch danach beurteilen, in welchem Maße sie den erklärten Willen der Menschen in West-Berlin selbst berücksichtigt.

Meine Damen und Herren, ein weiteres zentrales Thema bleibt für uns das Thema der Menschenrechte. Die Sowjetunion ist Vertragspartner der internationalen Menschenrechtspakte und Mitunterzeichnerin der KSZE-Schlußakte. Wir werden auch zukünftig die Aufrichtigkeit der sowjetischen Bereitschaft zur Zusammenarbeit daran messen, wieweit diese international verbrieften Ansprüche der einzelnen Menschen und der Völker in Deutschland und weltweit verwirklicht werden.

In seiner zweiten Tischrede hat Leonid Breschnew erklärt: „Freilich werden ideologische Auseinandersetzungen sowie der Kampf der Weltanschauungen fortdauern."

Ich halte es für redlich, auch das hinzuzufügen: Wir werden uns in aller Offenheit und Freiheit dieser Auseinandersetzung stellen, ihr nicht ausweichen und sie auch sicherlich bestehen.

Aber in dieser Rede fährt Breschnew fort, und wir werden ihn beim Wort nehmen: „Aber wir sind gegen die Ausartung der Ideologie in die Macht der militärischen Stäbe und des Kampfes der Ideologien in den psychologischen Krieg. Der friedliche, ehrliche Wettbewerb der Ideen und der gesellschaftlichen Praxis - das ist unser Prinzip."

Wir sind bereit, meine Damen und Herren, auf der Grundlage der Prinzipien von Helsinki auch zweiseitige Abkommen zu unterstützen, die die Freizügigkeit von Menschen, Ideen, Informationen und Meinungen in Europa fördern. In Betracht kommen für uns Abmachungen über die Verbesserung der Reisemöglichkeiten aus persönlichen, familiären und beruflichen Gründen, über die Zusammenführung getrennter Familien und die Beseitigung noch bestehender Ehehindernisse, über die Förderung des Jugendaustauschs und der sportlichen Beziehungen, über verbesserte Arbeitsmöglichkeiten für Journalisten und die internationale Verbreitung von Informationen. Wir sind bereit, die Verbesserung der kulturellen Beziehungen jederzeit zu unterstützen, weil wir eine große gemeinsame Kultur auch mit den Völkern der Sowjetunion haben und weil es für uns wichtig ist, daß zu dieser Kultur Europas auch immer der Beitrag aus dem Bereich der Völker der Sowjetunion gehört.

Herr Bundeskanzler, wir bejahen den Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen. Gemeinsam mit der deutschen Wirtschaft stehen wir auf einem prinzipiell positiven und realistischen Standpunkt. Wir werden unsere Aufmerksamkeit aber voll auf die Einzelheiten richten, wenn es darum geht, das Abkommen verbindlich zu konkretisieren. Bei der Durchführung des Abkommens wird es darauf ankommen, daß die Grundsätze der wirtschaftlichen und politischen Ausgewogenheit und des gegenseitigen Nutzens gewahrt werden und daß insbesondere West-Berlin konkret einbezogen wird. Ebenso darf - das ist sehr wichtig; ich hätte mir eigentlich gewünscht, Herr Bundeskanzler, daß Sie auf diese Frage heute schon eine Antwort geben - unsere enge Einbindung in die Europäische Gemeinschaft durch dieses Abkommen keinen Schaden erleiden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Meine Damen und Herren, nach wie vor bleiben die Probleme der östlichen Devisenknappheit, der Verschuldung und der sogenannten Kompensationsgeschäfte. Die Sowjetunion ist bereits gezwungen, ihre Einfuhr zu drosseln und dringend erwünschte Projekte zurückzustellen. Im übrigen wissen gerade die Unternehmer trotz der ausgehandelten Perspektive wirtschaftlicher und technischer Zusammenarbeit in den allermeisten Fällen nicht einmal, wie sich der Handel mit der Sowjetunion in den allernächsten Jahren entwickeln wird.

Deshalb warne ich vor einer Langzeitperspektive, die in Euphorie umschlägt und die dieses Abkommen nicht in der harten Alltagspraxis deutsch-sowjetischer Wirtschaftsbeziehungen sieht. Wir kennen alle das große wirtschaftliche Interesse der Sowjetunion an einer intensiveren Ausfüllung dieses Abkommens genauso wie an dem hochwillkommenen Technologieimport und den hochgeschätzten Möglichkeiten, ökonomische Reserven für andere Prioritäten und Ziele freizusetzen.

Meine Damen und Herren, wir wissen aber auch um das Risiko einer wachsenden Abhängigkeit, in die die deutsche Volkswirtschaft durch zu weit getriebene Kooperation auf Kompensationsbasis geraten kann. Tauschhandel und Kompensation stärken weder die Meistbegünstigung noch die Arbeitsteilung, die ja bekanntlich Eckpfeiler der freien Weltwirtschaft sind. Sie können den fairen Wettbewerb und damit auch Arbeitsplätze gefährden. Wir haben bereits einige Hinweise aus wichtigen Bereichen unserer Wirtschaft in dieser Richtung.

Die Bundesregierung ist mit ihrer Unterschrift unter das langfristige Abkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit Verpflichtungen eingegangen, auf die die Sowjetunion jederzeit zurückgreifen kann, wenn ihr dies nützlich und angebracht erscheint. Deshalb und auch wegen der Bilanz, die in Zukunft aus dem Abkommen auch von Moskau gezogen werden wird, warne ich dringend vor Euphorie und empfehle sehr viel mehr Realismus in der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit im Bereich der Ökonomie. Unser Urteil entspricht mancherlei Erfahrung, und es beschränkt sich auf den wirtschaftspolitischen Aspekt.

Herr Bundeskanzler, aus Gründen, die ich nicht kenne, ja, die ich nicht einmal verstehen kann, haben Sie in Ihren jüngsten Äußerungen zu den wirtschaftlichen Perspektiven -

(Wolfram [Recklinghausen] [SPD]: Sie verstehen vieles nicht!)

Sie können natürlich alles verstehen, Herr Kollege. Das ist mir völlig klar. Sie gehören zu jenen begnadeten Gestalten in diesem Haus, die zu jedem Punkt Zwischenrufe machen - es sind nur immer die gleichen.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Bundeskanzler, was war eigentlich der Grund - das war eine so bemerkenswerte Äußerung, daß sie hier diskutiert werden muß -, daß Sie den Äußerungen über die wirtschaftlichen Perspektiven in diesem Abkommen in den letzten Tagen eine Betrachtung hinzugefügt haben, die in die Geschichte und in die Politik führt? Sie haben in einer Sendung des Deutschen Fernsehens - der Text liegt mir hier vor - zwar mit Wenn und Aber und mit Ach und Krach, wie ich Ihnen gern einräume, aber in der Substanz dennoch - vor allem für die der deutschen Sprache nicht Mächtigen - eklatant deutlich gemacht, daß Sie dieses langfristige Wirtschaftsabkommen in der historischen Perspektive in der Nähe des Rückversicherungsvertrages von Otto von Bismarck sehen. Herr Bundeskanzler, angesichts der gespannten Beziehungen, die nicht zuletzt durch Ihr persönliches Wirken mit nicht wenigen in Europa entstanden sind, ist es doch Gift für unsere Beziehungen zu unseren Nachbarn, wenn auf diesen Teil der jüngsten deutschen Geschichte so ohne alles Erläuternde zurückgegriffen wird. In jeder Hauptstadt des Westens wird doch gerade in diesen Monaten immer wieder die Frage gestellt: Sind die Deutschen wirklich zuverlässige Partner? Sie können doch nicht erwarten, daß diejenigen, die eine Antwort auf diese Frage erwarten, das ganze Kompendium der deutschen Geschichte nach 1870 gegenwärtig haben. Unter dem Begriff des Rückversicherungsvertrages Otto von Bismarcks ist, wie ich wohl weiß, in der Darstellung zum Teil sehr verkürzt ein Zusammenhang sehr eigener Art entstanden. Ich kann nur sagen: Für die deutschen Interessen wäre es tödlich, wenn bei unseren westlichen Partnern, bei unseren Freunden im Bündnis der Eindruck entstünde, daß wir beginnen, eine Schaukelpolitik zwischen Ost und West zu eröffnen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Das, was Sie noch verklausuliert haben, hat Ihr -

(Bundeskanzler Schmidt: Unerhört!)

Nun, Herr Bundeskanzler, das ist nicht unerhört, sondern Sie müssen dazu Rede und Antwort stehen; denn Sie haben es doch gesagt.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Warum rufen Sie „unerhört", wenn ich Ihnen das Zitat des Herrn Staatssekretärs Bölling vorlesen will? Das ist doch immerhin Ihr Sprachrohr - so wird jedenfalls gesagt. Das lesen doch auch andere. Sie können einem ausländischen Gast doch nicht übel nachreden, daß er einen Staatssekretär der Bundesregierung ernst nimmt. Dieser hat im „Hessischen Rundfunk" gesagt - wörtliches Zitat -: „Deutsche und Russen sind aufeinander angewiesen. Das ist eine Erkenntnis, die schon der große Bismarck beherzigt hat, als er den berühmten Rückversicherungsvertrag unterschrieben hat mit der zaristischen Regierung."

Meine Damen und Herren, hier geht es nicht um einen Streit um Worte. Das können Sie alles interpretieren. Was aber hier in der Tendenz angedeutet wird, ist gefährlich.

Herr Bundeskanzler, ich spreche das hier nicht an, damit Sie womöglich jetzt wieder das Gefühl empfinden, Sie würden bewußt falsch interpretiert. Warum haben Sie überhaupt bei diesem Abkommen den Zusammenhang mit dem Bismarckschen Vertrag hergestellt?

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Bundeskanzler, das müssen wir austragen; denn es gibt nur zwei Überlegungen als Motiv für Ihr Vorgehen: Entweder - das wäre schlimm, aber immerhin entschuldbar - haben Sie die Tragweite dieses Vergleiches nicht übersehen,

(Zuruf des Abg. Dr. Ehmke [SPD].)

oder aber, Herr Kollege Ehmke, das, was sich - im Blick auf die vorderen Bänke Ihrer Fraktion - hier bietet - ich habe das in einer Reihe von Beispielen heute angesprochen -, was Herr Wehner zu Berlin sagt, was Herr Bahr überhaupt zur Ostpolitik sagt, ist inzwischen in der SPD so weit vorgedrungen, daß es auch Teil der amtlichen Politik der Bundesregierung geworden ist.

Dann, meine Damen und Herren, muß ich auch wieder die Frage an den Herrn Kollegen Genscher richten: Ist das eine Politik, die noch mit der Politik der Freien Demokratischen Partei in Übereinstimmung zu bringen ist?

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Bundeskanzler, Sie haben in vielen Dokumenten unzweideutig - das will ich ausgesprochen anerkennend positiv hervorheben - immer wieder erklärt - wie ich es jetzt auch tue -, daß die Grundentscheidung für die Bundesrepublik Deutschland, in die Europäische Gemeinschaft und in das westliche Bündnissystem einzutreten, irreversibel ist. Aber wenn das so ist: Warum bringen Sie dann solche Vergleiche, die das Mißtrauen förmlich herausfordern?

Ich habe selbst im Gespräch mit dem Generalsekretär empfunden, wie in diesen Tagen einmal mehr unsere sowjetischen Gesprächspartner besonders empfindlich reagieren - aus verständlichen Gründen -, wenn wichtige Abschnitte und Kapitel der jüngsten europäischen und der deutsch-sowjetischen Geschichte angesprochen werden. Wir kommen dabei nicht darum herum, uns dieser Last der Geschichte zu stellen. Wir kommen nicht darum herum, zu sehen, daß vieles von dem, was jetzt in der Sowjetunion in bezug auf Deutschland gedacht wird, seinen Grund in jenen Taten und in jenen Erfahrungen hat.

Wir wollen doch aus der Geschichte lernen. Wir haben viel von der jungen Generation gesprochen. Wir wollen doch nach rückwärts blicken, um Konsequenzen zu ziehen, aber nach vorne handeln, damit kommenden Generationen dieses schlimme Schicksal vieler Russen und Deutscher in der Mitte dieses Jahrhunderts erspart bleibt. Deswegen - nicht, weil wir Streit wollen, Kalten Krieg wollen oder die Realität nicht sehen - müssen wir allesamt in diesen Gesprächen mit der Sowjetunion auch die geschichtliche Perspektive der Einheit der deutschen Nation ansprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich darf ausdrücklich erklären, daß wir es begrüßen, daß der Herr Bundespräsident in seiner Rede gegenüber Herrn Breschnew noch einmal ausdrücklich bekundet hat, was für uns Deutsche die Entspannung bedeutet: die Schaffung eines Zustands in Europa, „in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt" gemäß dem Brief zur deutschen Einheit.

Ich will jetzt nicht auf jene kleinliche Reaktion in der Moskauer „Prawda" eingehen, weil das nicht dem Stil unserer Debatte hier entspricht. Es ist aber nicht ohne Interesse, daß so etwas gegenüber dem Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland möglich war.

Niemand braucht zu befürchten, daß die Vertretung unseres Selbstbestimmungsrechts zu einer Bedrohung des Friedens werden könnte. Nur: Friede ist undenkbar ohne Gerechtigkeit. Wir als deutsche Patrioten wollen die Spaltung Europas und mit ihr die Spaltung und Teilung unseres Vaterlandes in Frieden überwinden, auch, wenn das lange Zeit, vielleicht sogar Generationen, dauern sollte. An Drohungen und Gewalt denkt niemand.

Wir verkennen nicht die realen Machtverhältnisse. Aber zur Macht der Geschichte gehört die Macht der Tatsachen und zählen nicht nur die Politik der Regierungen und die Stärke der Waffen, sondern immer auch der Wille der Völker, auch der Wille der deutschen Nation zur Einheit, der seine geschichtliche Kraft behalten wird; dessen sind wir sicher.

(Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU.)

Quelle: Helmut Kohl: Bundestagsreden und Zeitdokumente. Hg. von Horst Teltschik. Bonn 1978, S. 366-385.