11. November 1992

Vortrag im St. Antony's College in Oxford

In der europäischen Einigung liegt unsere nationale Zukunft

 

I.

Sehr geehrter Herr Rektor.meine sehr verehrten Damen und Herren,lieber Douglas Hurd,und vor allem: liebe Studentinnen und Studenten,

gern habe ich die Einladung angenommen, heute zu Ihnen zu sprechen. Weit über die Grenzen Großbritanniens hinaus genießt das St. Antony's College einen hervorragenden Ruf. Vor gut achteinhalb Jahren hatte ich die Freude, hier im Rahmen der Konrad-Adenauer-Gedenkvorlesungen über die Grundlagen der deutschen Außenpolitik zu sprechen. Der heutige Vortrag gibt mir eine gute Gelegenheit, vor diesem Hintergrund Bilanz zu ziehen und über die europa- und außenpolitischen Prioritäten der Bundesrepublik Deutschland nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zu sprechen.

Damals erklärte ich an dieser Stelle, dass es lange dauern würde - möglicherweise Generationen -, bis die Frage der staatlichen Wiedervereinigung Deutschlands zu einer Entscheidung heranreifen könnte. Es ist alles viel schneller gegangen, als wir in unseren kühnsten Träumen erwartet haben. Als sich 1989/90 die Chance zur Wiedervereinigung bot, haben wir sie beherzt ergriffen und sie - das ist ein einzigartiger Vorgang in der deutschen Geschichte - in Frieden und Freiheit mit der Zustimmung aller Partner, Freunde und Nachbarn erreicht.

Wir verdanken diesen Erfolg einer Politik, für die Konrad Adenauer schon in den fünfziger Jahren die Fundamente gelegt hat und die von allen Bundesregierungen seither verfolgt worden ist. Sie beruht auf der Überzeugung, dass es keine vernünftige Alternative zu einem immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker gibt.

Wir Deutschen wissen, wie viel gerade wir der europäischen Integration verdanken. Diese Erfahrung ist zugleich Ansporn für die Zukunft: Auch nach dem Ende des Kalten Kriegs und der Wiedervereinigung Deutschlands halten wir entschieden an der Fortführung des europäischen Einigungswerks fest.

Wir Deutsche haben mehr Nachbarn als jedes andere Land in Europa. Was dort geschieht, berührt uns sehr unmittelbar und umgekehrt. Gerade deshalb haben wir ein elementares nationales Interesse an der Schaffung einer Europäischen Union, der eines Tages alle unsere Nachbarn angehören. Diese Union bedeutet den Abschied von einer Politik wechselnder Koalitionen. Eine solche Politik hat in den letzten 200 Jahren immer wieder zu gefährlichen Instabilitäten geführt und die europäischen Bruderkriege der Vergangenheit nicht verhindern können.

Ein lockerer Zusammenschluss - oder eine Art gehobene Freihandelszone - ist keine Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft. Ein intergouvernementaler Ansatz ist erst recht keine Antwort auf die Lehren der Vergangenheit. Denn er birgt immer das Risiko in sich, dass plötzliche Stimmungsschwankungen die Zusammenarbeit gefährden und einzelne Länder in die Isolation geführt werden - mit negativen Konsequenzen für alle.

Die Europäische Gemeinschaft hat machtpolitische Rivalitäten und die Politik des „sacro egoismo" innerhalb Westeuropas weitestgehend überwinden helfen. Krieg ist in diesem Teil des Kontinents unmöglich geworden. Wir leben heute in der längsten Friedensperiode seit Mitte des 19. Jahrhunderts. 21 Jahre nach dem Ende des Ersten begann der Zweite Weltkrieg. 43 Jahre nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 brach der Erste Weltkrieg aus. Gerade am heutigen Tag, der uns an das Ende dieses Kriegs erinnert, müssen wir uns klarmachen, was es heißt, dass wir schon 47 Jahre in Frieden leben - und mit der Gewissheit, dass dies auch weiterhin so bleibt.

Zumindest ein fundamentales Anliegen ist allen Europäern gemeinsam: dass die nationalen Interessen in Europa nie mehr gewaltsame Konflikte auslösen. Die Lehren der Vergangenheit und die geographische Lage sind aber nur eine Seite der Medaille. Wir alle brauchen die Europäische Union vor allem deshalb, weil wir anders nicht oder nur unzureichend den Herausforderungen von heute und morgen begegnen können. Nur wenn Europa mit einer Stimme spricht und seine Kräfte bündelt, kann es sein Gewicht angemessen zur Geltung bringen. Nur gemeinsam kann sich Europa im weltweiten Wettbewerb mit Japan und Nordamerika wirtschaftlich behaupten. Dies ist gerade für Deutsche und Briten als große Exportnationen von enormer Bedeutung.

Für uns Deutsche ist Europa eine - wenn nicht die - Schicksalsfrage. Es handelt sich hier nicht um irgendein Thema der Tagespolitik. Unsere nationale Zukunft als Land in der Mitte unseres Kontinents ist mit der Entwicklung des übrigen Europas aufs engste verknüpft. Es kann und darf uns daher nicht gleichgültig sein, welchen Weg Europa geht - ob es sich unwiderruflich auf den politischen und wirtschaftlichen Zusammenschluss festlegt oder ob es erneut in die Rivalitäten früherer Zeiten zurückfällt. Dies ist in Wahrheit die Kernfrage der Europapolitik und die Kernfrage der derzeitigen Diskussion über den Vertrag von Maastricht.

Wenn wir jetzt nicht die Europäische Union schaffen, setzen wir leichtfertig das aufs Spiel, was wir bisher erreicht haben. Bei der Diskussion über den Maastrichter Vertrag denke ich oft an eine Äußerung Konrad Adenauers am Vorabend der Abstimmung über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft in der französischen Nationalversammlung im Jahre 1954. Er sagte damals sinngemäß; Wenn diese Vorlage scheitert, dann werden wir mindestens eine Generation brauchen, bis wir in Europa wieder etwas Vergleichbares zustande bringen. Ich wage die Behauptung: Wenn der Vertrag von Maastricht nicht in Kraft tritt und wir auf dem Weg nach Europa zurückgeworfen werden, dann dauert es wesentlich länger als eine Generation, bis wir erneut eine solche Chance erhalten.

Es soll niemand glauben, das Gespenst des Nationalismus in Europa sei endgültig tot oder nur noch auf dem Balkan zu Hause. Ich bezweifle, dass die bösen Geister der Vergangenheit, unter denen wir in Europa in diesem Jahrhundert so schrecklich gelitten haben, ein für alle Mal gebannt sind. Schon heute zeichnet sich im Osten unseres Kontinents teilweise eine Rückkehr zu nationalistischem Denken, zu Intoleranz, ja zu Chauvinismus ab. Aber auch der Westen Europas ist gegen solche Versuchungen nicht gefeit.

Ich fühle mich in eine unselige Vergangenheit zurückversetzt, wenn heute hier und da Stimmung gemacht wird mit dem Argument, Deutschland sei so groß und mächtig geworden, dass es durch Koalitionen „eingedämmt" werden müsse. Es ist eine bedauerliche Ironie, dass damit ausgerechnet jenen Kräften in Deutschland in die Hand gearbeitet wird, die einen Nationalismus alter Prägung propagieren. Unsere Antwort auf derartige Kurzsichtigkeiten ist klar: Die Bundesrepublik Deutschland hat sich endgültig für die europäische Integration entschieden.

II.

Europa steht nach dem Ende des Ost-West-Konflikts vor neuen Herausforderungen. Der Umbruch in Mittel-, Ost- und Südosteuropa bringt große Risiken und Unwägbarkeiten mit sich. Ganz Europa braucht deshalb heute mehr denn je einen sicheren und festen Anker. Diese Rolle kann nur eine starke Europäische Gemeinschaft übernehmen. Und damit bin ich bei einem weiteren wesentlichen Ziel des Vertrags von Maastricht. Dieser Vertrag ist . nicht zuletzt unsere gemeinsame Antwort auf die neue Lage in Europa: Wir stellen uns unserer Verantwortung für die Zukunft des ganzen europäischen Kontinents.

Ich weiß, dass der tiefgreifende Wandel in Europa, dessen Zeugen wir alle seit einigen Jahren sind, viele Menschen in Deutschland, in Großbritannien und anderswo verunsichert. Sie fragen, ob nicht das Tempo der Veränderungen zu schnell sei, ob nicht der Vertrag von Maastricht zu früh komme oder zu ehrgeizig sei. Doch können wir uns eine langsamere Gangart überhaupt leisten? Schon einmal, bei der Wiedervereinigung unseres Vaterlands, haben wir Deutschen erlebt, dass es darauf ankommt, eine einmalige Chance beherzt zu ergreifen. Sie haben, Herr Rektor, in Ihrer Begrüßung völlig zu Recht daran erinnert, für wie kurze Zeit das „Fenster der Gelegenheit" 1990 offenstand.

Heute gilt auch im Hinblick auf die Vertiefung der europäischen Einigung, dass Abwarten die falsche Antwort wäre. Stillstand wäre Rückschritt! Deshalb müssen wir gemeinsam entschlossen nach vorn gehen. Daher werden die Bundesregierung und ich selbst mit aller Kraft dafür arbeiten, dass der Vertrag von Maastricht in Kraft gesetzt wird.

Selbstverständlich respektiere ich die Entscheidungen, die die britische Regierung im Hinblick auf das Ratifizierungsverfahren getroffen hat. Ich darf hier jedoch meinen Wunsch zum Ausdruck bringen, dass der Weg Großbritanniens in die Europäische Union führen wird. Und für mich persönlich möchte ich hinzufügen: Ich bin sicher, dass Premierminister John Major dieses Ziel auch erreichen wird. Unsere Politik war es nie und wird es nie sein, einzelne Partner auszugrenzen oder an den Rand zu drängen. Wir wollen kein Europa der zwei oder drei Geschwindigkeiten - aber ich füge ebenso deutlich hinzu: Wir wollen auch kein Europa, das sich am langsamsten Schiff des Geleitzugs ausrichtet.

Hier und da wird eingewandt, dass der Maastrichter Vertrag nicht deutlich genug umreiße, wie das Europa von morgen letztlich aussehen soll. Dies war - und konnte - jedoch nicht Ziel dieses Vertrags sein. Vielmehr sollte Maastricht ein, wenn auch wichtiger, Zwischenschritt sein, der uns der Verwirklichung eines Traums näherbringt. Natürlich ist dieser Vertrag ein Kompromiss: Vieles ist nicht erreicht worden, anderes wiederum ist sehr gut gelungen.

Für mich hat der Teil des Vertrags, der der Politischen Union gilt, gleiches Gewicht wie die Bestimmungen über die Wirtschafts- und Währungsunion. Jeder in Europa muss sich darüber im klaren sein: Alles, was wir bisher wirtschaftlich erreicht haben, können wir auf Dauer nur bewahren, wenn wir es auch politisch absichern. Eine Wirtschaftsunion ist nur lebensfähig, wenn sie sich auf eine Politische Union stützen kann. Daher baut der Maastrichter Vertrag über die Europäische Union vor allem auf folgenden Kernelementen auf:

Erstens: Die stufenweise Entwicklung einer Wirtschafts- und Währungsunion. Wir sind davon überzeugt, dass wir unsere eigene wirtschaftliche und monetäre Stabilität auf Dauer nur sichern und unseren Wohlstand nur bewahren können, wenn wir in Europa mit dem Ziel einer gemeinsamen Wirtschaftsund Währungspolitik immer enger zusammenarbeiten. Gerade die Turbulenzen an den internationalen Devisenmärkten in den letzten Wochen haben dies mehr als deutlich gemacht.

Die Frage nach der künftigen europäischen Währung ist gerade für die Deutschen von zentraler Bedeutung. In diesem Jahrhundert haben wir zweimal durch Inflation und Krieg Hab und Gut verloren. Viele Millionen meiner Landsleute sind um die Früchte ihrer Arbeit gebracht worden. Nach dem Ersten Weltkrieg hat monetäre Instabilität auch politisch destabilisierend gewirkt und damit den Aufstieg der Nationalsozialisten mit begünstigt. Diese Erfahrung hat tiefe Spuren hinterlassen.

Viele Deutsche fragen, ob die künftige europäische Währung so hart sein wird wie die D-Mark, und sie denken dabei eben auch an die politische Bedeutung, die dies für uns hat. Deshalb habe ich mich in Maastricht nachdrücklich dafür eingesetzt, dass die künftige europäische Währung eine sichere Stabilitätsgrundlage erhält. Dazu gehören insbesondere die Unabhängigkeit der künftigen europäischen Zentralbank, ihre uneingeschränkte Verpflichtung auf das Ziel der Geldwertstabilität sowie eine streng auf Stabilität ausgerichtete Haushaltspolitik in allen Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft.

Jedes Land - und das gilt natürlich auch für Deutschland selbst - muss zudem dafür sorgen, dass seine wichtigsten volkswirtschaftlichen Daten - also: Inflationsrate, Zinsen und Staatsverschuldung - die vorgegebenen strengen Kriterien des Vertrags erfüllen. Eine meiner wichtigsten Aufgaben in diesen Tagen und Wochen besteht darin, meine Landsleute immer wieder daran zu erinnern, dass wir im Hinblick auf die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion noch eine Reihe von Hausaufgaben zu erledigen haben.

Eine Aufweichung der im Maastrichter Vertrag verbindlich festgelegten Stabilitätskriterien kann und wird es nicht geben. Nur wer diese Kriterien erfüllt und damit den Beweis für eine solide Wirtschafts- und Finanzpolitik erbracht hat, kann in die Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion eintreten.

Zweitens: Wir wollen eine gemeinsame Politik in einem so wichtigen Bereich wie dem der inneren Sicherheit. Immer mehr Menschen machen sich zunehmend große Sorgen wegen der Ausbreitung des Organisierten Verbrechens und der internationalen Drogenmafia. Im Drogengeschäft werden - mit steigender Tendenz - Milliarden-Umsätze gemacht, die die Staatshaushalte einzelner Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft übersteigen. Dieses Thema kann uns nicht gleichgültig lassen; es ist zu einer ernsthaften Bedrohung unserer Gesellschaften geworden. In Maastricht haben wir uns daher auf die Schaffung einer europäischen Polizeiorganisation verständigt. Mit EUROPOL werden wir gemeinsam und entschlossen den Kampf gegen die internationale Bandenkriminalität führen.

Gleichermaßen erfordert die dramatisch zunehmende Zahl von Asylsuchenden aus dem Süden wie aus dem Osten, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Westeuropa kommen - und Deutschland ist hierbei in ganz besonderem Maße betroffen -, dringend eine gemeinsame europäische Antwort. Allein in diesem Jahr werden rund eine halbe Million Asylbewerber nach Deutschland kommen, von denen nur ein verschwindend geringer Bruchteil daheim aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen verfolgt ist. Wenn Sie nur die Zahlen vom Oktober 1992 betrachten - rund 50 000 Asylbewerber in meinem Land -, dann haben Sie eine Vorstellung von der Dramatik, die dieses Problem nicht zuletzt für uns Deutsche hat.

Drittens: In Maastricht wurden auch Fortschritte bei der Verstärkung der demokratischen Kontrolle von Kommission und Rat durch das Europäische Parlament erreicht. Für mich können sie aber nur ein erster Schritt in die richtige Richtung sein.

Es bleibt ein wichtiges Ziel der Politik der Bundesregierung, möglichst zügig die Rechte und Kompetenzen des Europäischen Parlaments wesentlich weiter auszubauen. Wir können nicht ständig die mangelnde demokratische Kontrolle von Kommission und Rat beklagen, wenn wir nicht bereit sind, dem Europäischen Parlament mehr Rechte zu geben. In Wahrheit geht es doch hier zum großen Teil gar nicht mehr um Rechte, über die die nationalen Parlamente noch verfugen, sondern um Kompetenzen, die längst auf der europäischen Ebene angesiedelt, dort jedoch einer parlamentarischen Kontrolle entzogen sind.

Auf diese Weise ist gewissermaßen ein parlamentsfreier Raum in Europa entstanden, und ich halte es für selbstverständlich, dass wir diesen unguten Zustand Schritt für Schritt überwinden. Dabei müssen auch die nationalen Parlamente stärker in die Europapolitik einbezogen werden. Darüber hinaus sollten das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente enger als bisher zusammenarbeiten.

Viertens: Gerade aus deutscher Sicht ist die Entwicklung einer Gemeinsamen Außen- and Sicherheitspolitik eine existentielle Frage. Der Krieg im früheren Jugoslawien, aber auch die Krisenherde in anderen Teilen Ost- und Südosteuropas machen mehr als deutlich, dass uns nur eine gemeinsame Politik vor Instabilität bewahren kann. Ich halte es nicht für fair, der Europäischen Gemeinschaft wegen ihrer Jugoslawien-Politik vorzuwerfen, sie tue zu wenig. Denn die Gemeinschaft verfügt ja noch gar nicht über entsprechende Kompetenzen.

Im Hinblick auf Sicherheit und Verteidigung ist für uns die Atlantische Allianz, der enge Schulterschluss mit unseren Freunden und Partnern in Nordamerika unverzichtbar. Die Partnerschaft zwischen Europa und Nordamerika geht aber weit über Fragen der gemeinsamen Sicherheit hinaus. Wir müssen die Brücke über den Atlantik für die Zukunft auf allen Gebieten - Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur - weiter ausbauen. Ich würde mir daher wünschen, dass es uns in den kommenden Jahren gelingt, die beiden Transatlantischen Erklärungen vom November 1990 zu einem umfassenden Vertrag zwischen Europa und Nordamerika weiter zu entwickeln.

Der Vertrag von Maastricht ist nicht nur von grundlegender Bedeutung für die Gemeinschaft selbst. Er stellt zugleich ein Signal der Hoffnung über die Grenzen der jetzigen Europäischen Gemeinschaft dar. Auf der Grundlage des Maastrichter Vertrags sollte die EG die Beitrittsverhandlungen mit Österreich, Schweden, Finnland, der Schweiz - wohl auch mit Norwegen - Anfang 1993 aufnehmen und zügig zum Abschluss führen.

Aber auch Polen und Ungarn, Tschechen und Slowaken und viele andere Menschen und Völker in Mittel-, Ost- und Südosteuropa setzen ihre Hoffnung auf die Gemeinschaft. Diese Hoffnung dürfen wir nicht enttäuschen. Gerade bei den genannten Ländern geht es nicht um eine ferne, vage Chance, sondern um eine klare Beitrittsperspektive im Blick auf einen Zeitpunkt bald nach der Jahrhundertwende. Für mich als Deutschen ist der Gedanke völlig inakzeptabel, dass die Ostgrenze Deutschlands auf Dauer die Ostgrenze der Europäischen Union sein könnte. Polen liegt eben nicht - wie einige es gedankenlos immer wieder formulieren - in Ost-, sondern in Mitteleuropa. Aber nicht nur aus geographischen Gründen steht Polen uns nahe.

Darüber hinaus ist auch die Entwicklung eines engen und vertrauensvollen Verhältnisses zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Staaten der ehemaligen Sowjetunion eine wichtige Zukunftsaufgabe. Eine Mitgliedschaft dieser Länder in der künftigen Europäischen Union halte ich zwar für ausgeschlossen, nicht jedoch eine besonders enge Kooperation.

III.

Die Diskussion während der vergangenen Monate in allen Mitgliedsstaaten der EG hat gezeigt, wie viele Missverständnisse, Unsicherheiten, ja Vorbehalte und Ängste im Hinblick auf den Vertrag von Maastricht noch bestehen. Die Arbeiten in der Gemeinschaft in diesen Wochen und Monaten gelten vor allem dem Abbau dieser Besorgnisse.

Ein Großteil der Vorhaltungen, die gemacht werden, hat übrigens mit dem Maastrichter Vertrag gar nichts zu tun. Aber wer liest denn auch schon diesen umfangreichen Text? Der normale Bürger kaum - allein schon wegen der sehr technischen Sprache - und wohl auch nur wenige Politiker. Auch hier verhält es sich wie im Privatleben: Am besten lässt sich über etwas reden, mit dem man sich zuvor gar nicht richtig beschäftigt hat.

Es ist wahr, viele Menschen befürchten ein zentralistisches Europa. „Brüssel" ist - bei aller prinzipiellen Zustimmung zur europäischen Integration - eine Art Synonym für diese Ängste geworden. Viele Menschen fragen: Werden wir in einem vereinten Europa noch Deutsche, Briten, Italiener oder Franzosen sein? Meine Antwort und die Antwort des Vertrags von Maastricht sind klar; Wir bleiben fest in unserer Heimatregion verwurzelt, wir bleiben Briten, Deutsche, Italiener und Franzosen - und wir sind zugleich Europäer.

Wir Politiker müssen in der Tat den Menschen mehr noch als bisher deutlich machen, dass Europa für sie da ist. Maastricht steht nicht für einen europäischen „Leviathan", sondern für ein demokratisches und bürgernahes Europa, das die nationale Identität und Kultur aller Mitgliedsstaaten und ihrer Regionen achtet. Wir haben mit Maastricht eben nicht den Grundstein zu einem europäischen Über-Staat gelegt, der alles einebnet und verwischt, sondern uns auf ein Europa verpflichtet, das auf dem Grundsatz „Einheit in Vielfalt" aufbaut.

Wir müssen alles tun, um in Zukunft die europäische Politik so zu gestalten, dass sich die Menschen mit ihr stärker identifizieren. Sie müssen spüren, dass es um ihre Interessen geht - und nicht um ein bürgerfernes, technokratisches Europa. Daher haben wir zusammen mit unseren britischen Freunden darauf gedrängt, dass das von uns in Maastricht gemeinsam durchgesetzte Subsidiaritätsprinzip mit Leben erfüllt wird.

Ich weiß, dieser Begriff ist schwer verständlich. Für viele gehört auch er zum euro-chinesischen Vokabular - womit natürlich nichts gegen die schöne chinesische Sprache gesagt sein soll. Deswegen müssen wir ihn erläutern. Er bedeutet, dass die höhere Ebene nur dann tätig werden darf, wenn es unabweisbar notwendig ist. Sie darf sich nicht anmaßen, alles bis ins letzte Detail regeln zu wollen. Dies muss auch für „Brüssel" gelten. Das heißt aber auch, dass nationale Regierungen und Verwaltungen ihre Verantwortung dort, wo sie gefordert ist, wahrnehmen und unbequeme Dinge nicht einfach auf die Gemeinschaft schieben.

Wir alle sollten uns selbstkritisch fragen, welchen Eindruck die oft zu beobachtende „Regelungswut" bei den Bürgern hinterlässt und ob wir nicht Gefahr laufen, das europäische Einigungswerk dadurch in Misskredit zu bringen. Dieser Vorwurf gilt nicht nur für „Brüssel", sondern gleichermaßen für die Mitgliedsstaaten.

Wir dürfen gegenüber „Brüssel" nicht unfair sein. So manche europäische Regelung, die in der Öffentlichkeit Kopfschütteln hervorruft, geht in Wahrheit oft auf nationale Vorstöße zum Schutz eigener, auch wirtschaftlicher Interessen zurück. Vieles davon erweist sich bei näherem Hinsehen als wirklich entbehrlich.

Ich nenne hier ein Beispiel, das in der dänischen Diskussion vor dem Referendum eine enorme Rolle gespielt hat - die Tatsache nämlich, dass in der EG-Obstmarktordnung die Größe von Äpfeln festgelegt ist. Die in Dänemark beliebteste Apfelsorte ist kleiner, als es die EG-Norm vorsieht. Hieraus ergab sich natürlich der Verdacht, dass es vor allem die deutschen Apfelbauern waren, die zum Vorteil der von ihnen produzierten, größeren Äpfel eine entsprechende Regelung in Brüssel durchgesetzt haben.

Es gibt auch noch andere Beispiele. Gegenwärtig tobt ein Kampf um die richtige Bezeichnung von Aprikosenmarmelade. Hier muss man wissen, dass die Süddeutschen und die Österreicher Aprikosen als „Marillen" bezeichnen. Wenn nun aber bestimmt wird, dass die daraus hergestellte Marmelade nur noch „Aprikosenmarmelade" heißen darf, dann wird das in Süddeutschland und in Österreich als Versuch einer sprachlichen Nivellierung empfunden werden. Ich will hier übrigens doch einmal feststellen, dass -jedenfalls für meinen Geschmack - die österreichische Marillenmarmelade unübertroffen ist. Aber das Thema ist natürlich durchaus ernst. Ich vermag in dem Kampf um die Bezeichnung von Aprikosenmarmelade nun wirklich keinen Sinn zu erkennen.

Bei einem dritten Beispiel für Regelungen, bei denen die zugrundeliegenden Interessen einzelner EG-Mitgliedsstaaten für jedermann erkennbar sind geht es um die Anforderungen an die Wasserqualität von Seebädern. Es liegt auf der Hand, dass hier die Nordseeanrainer besser abschneiden als die Mittelmeeranrainer. Folglich können es also zum Beispiel nicht die Italiener gewesen sein, die diese Regelung durchgesetzt haben. Wer es gewesen ist, überlasse ich Ihrer Vorstellungskraft.

Kurzum: Hier haben sich ganz unabhängig vom Maastrichter Vertrag Entwicklungen eingeschlichen, die wir stoppen und rückgängig machen müssen. Aus solchen Fehlern müssen wir lernen und die notwendigen praktischen Konsequenzen für den politischen Alltag ziehen. Die Erklärung des Europäischen Rats von Birmingham zeigt, dass wir hier auf dem richtigen Weg sind. In wenigen Wochen werden wir in Edinburgh für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips verbindliche und möglichst konkrete Richtlinien festlegen. Dies gilt auch für die Überprüfung bestehender Regelungen.

IV.

Bei der Debatte über die praktische Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips wird - so richtig und wichtig dies ist - vor allem auf die Frage nach der Verteilung von Kompetenzen zwischen der Union und ihren Mitgliedsstaaten abgestellt. Ebenso entscheidend ist aber auch, dass unsere freiheitlichen Demokratien vom Engagement und der Eigenverantwortung der Bürger leben. Ihre Teilhabe am politischen Geschehen setzt voraus, dass Entscheidungen grundsätzlich auf der Ebene getroffen werden, die ihnen am nächsten steht.

Die Europäische Union muss den Rahmen für eine künftige europäische Bürgergesellschaft bieten - was Sie im Englischen „civil society" nennen. Sie achtet - so bestimmt es der Vertrag von Maastricht - die in der Konvention des Europarats zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten kodifizierten Grundrechte jedes einzelnen. Durch die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik trägt sie dazu bei, diese Grundrechte gegen Gefahren von außen zu schützen. Zugleich ist sie offen für jene Europäer, die nach Teilhabe an der europäischen Bürgergesellschaft streben.

Diese Vorstellungen mögen für viele heute wie eine Illusion klingen. Doch ich bin kein Illusionist. Wer schon so lange wie ich Parteivorsitzender ist - ich bin es jetzt im zwanzigsten Jahr -, kann es sich nicht leisten, in einem Wolkenkuckucksheim zu leben: Er würde auf dem nächsten Parteitag gestürzt werden.

Eben bin ich am Ort der letzten Ruhe von Winston Churchill vorbeigefahren. War dieser große Staatsmann ein Illusionist, als er 1946 in Zürich seine berühmte Rede hielt? Wie würden Sie jemanden nennen, der mehr als jeder andere Staatsmann seiner Zeit für Europas Freiheit und gegen die Nazi-Herrschaft gekämpft hat und der sich ein Jahr, nachdem ihn das dankbare britische Volk abgewählt hatte, zu der Oberzeugung bekannte, dass der „erste Schritt zur Neubildung der europäischen Familie [...] eine Partnerschaft Frankreichs und Deutschlands sein " müsse.

Ist es nicht in Wahrheit so, dass sich die einst belächelten Visionäre - Männer wie Churchill, Schuman oder Adenauer - als die wahren Realisten unserer Zeit erwiesen haben? In den vergangenen Jahren sind Träume Wirklichkeit geworden. Ich bin ein Realist - und deshalb bleibe ich Optimist.

Ich komme aus der Pfalz, einer an Frankreich grenzenden Region Deutschlands. Die Städte in meiner Heimat wurden in den Brüderkriegen der vergangenen 200, 250 Jahre in jeder Generation wenigstens einmal zerstört. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass in einem der Schulbücher, die in meiner Grundschulzeit benutzt wurden, noch ein Kapitel über den „Erbfeind" Frankreich stand. Meine Altersgenossen in Frankreich haben damals das gleiche gelernt - mit umgekehrten Vorzeichen.

Für die Generation meiner Kinder hat die deutsch-französische Grenze heute praktisch keine Bedeutung mehr, und in sechs Wochen, am 1. Januar 1993, wird es dort keinerlei Personenkontrollen mehr geben. Diese jungen Menschen können sich gar nicht mehr vorstellen, wie das früher einmal gewesen ist. Für sie liegen diese schlimmen Zeiten so weit zurück wie für mich als Schulkind die Perserkriege.

Vor ein paar Wochen saß ich an einem Sommertag auf der Karlsbrücke in Prag. Diese Brücke war völlig in der Hand junger Leute aus einer Reihe europäischer Länder. Es waren junge Italiener, Deutsche, Briten, Russen und viele andere dort. In diesem Augenblick empfand ich, dass die jungen Europäer, die Generation von morgen, in ihrem Lebensgefühl der europäischen Politik schon weit voraus sind. Während wir uns noch mit komplizierten Dossiers befassen, praktizieren sie bereits ein Stück europäischer Zukunft. Diese Zukunft ist in greifbare Nähe gerückt - und wir werden das Ziel erreichen, wenn wir es nur wollen.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 125 (25. November 1992).