11. Oktober 1990

Wir stehen vor einem gewaltigen Kraftakt

 

Interview mit Dieter Schröder, veröffentlicht in der „Süddeutschen Zeitung"

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG: Herr Bundeskanzler, in der Öffentlichkeit ist die erste Euphorie geschwunden. Wie ist es bei Ihnen. Haben Sie noch eine euphorische Stimmung, und was bedeutet jetzt Gesamtdeutschland im Alltag für Sie?

KOHL: Wir haben gesagt, wir freuen uns auf Deutschland, und diese Freude ist bei der breiten Mehrheit der Bevölkerung ganz unverändert da. Ich erfahre das täglich aus Briefen, in persönlichen Begegnungen und Gesprächen. Es ist doch normal, dass nach 40 Jahren der Trennung, nach der Erfüllung eines langgehegten Traums Freude herrscht. Zum ersten Male in der modernen Geschichte hat ein geteiltes Volk das Glück, seine Einheit wiederzuerlangen mit der Zustimmung aller Nachbarn, ohne Krieg und ohne blutige Revolution - das ist doch einfach phantastisch.

SZ: Was ist für Sie die wichtigste, die vordringliche Aufgabe?

KOHL: Ich glaube nicht, dass es nur eine vordringliche Aufgabe gibt. Wir müssen vieles bedenken, und das gleichzeitig. Ich sage das jetzt ohne Rangfolge: Wir müssen angesichts der weltweit gestiegenen Erwartungen von außen klarmachen, dass dies ein Land ist, in dem Frieden und Freiheit herrschen, und dass wir dem Frieden und der Freiheit in der Welt dienen wollen. Zudem dürfen wir als eines der wohlhabendsten Länder der Welt nicht vergessen, dass andere viel größere Probleme haben, dass es ihnen viel schlechter geht - ich denke an die Dritte Welt, an Lateinamerika, Asien und Afrika. Unsere Nachbarn in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, in Polen, in der CSFR, in Ungarn schauen hierher und fragen: Sind die Deutschen bereit, auch uns zu helfen?

Wenn wir vom Frieden reden, müssen wir auch vom Frieden mit der Natur reden, und zwar weltweit. [...] Und dann gibt es neben all dem natürlich noch die weiterhin bedeutenden Fragen der Abrüstung.

SZ: Und wie steht es mit den gewaltigen Ökonomischen und sozialen Problemen, die mit der Vereinigung auf uns zukommen?

KOHL: [...] Der Umbau einer sozialistischen Kommandowirtschaft zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung, die Umstrukturierung der Betriebe, die Umschulungen, Qualifizierungen, die Hilfe für die berufstätigen Frauen - alles das erfordert einen gewaltigen Kraftakt. Nicht zu vergessen das gigantische ökologische Problem, angefangen von den Kernkraftwerken, die geschlossen werden müssen, bis hin zum katastrophalen Zustand von Seen oder von Flüssen wie der Elbe und der Oder. Hinzu kommen die Investitionen bei der Post und der Telekommunikation, der Ausbau von Straßen, insbesondere des Fernstraßensystems, als Voraussetzungen für die Ankurbelung der Wirtschaft. Das muss alles gleichzeitig in Angriff genommen werden.

SZ: Gibt es denn nur materielle Sorgen?

KOHL: Nein. Fast noch schwieriger ist es, sich in die Verletzung der Seelen und der Herzen der Menschen in Jahrzehnten der Diktatur richtig einzufühlen. Wir müssen aufeinander zugehen. Wir müssen uns aber auch vergegenwärtigen, was es bedeutet, dass es über 2,3 Millionen SED-Mitglieder und hunderttausend Stasi-Mitarbeiter gab. Deswegen kommt es sehr darauf an, dass wir mit einem hohen Maß an Sensibilität einander begegnen.

SZ: Sie mögen die Begriffe „hüben" und „drüben" nicht.

KOHL: Wir wollen sie aus dem Wortschatz streichen. An ihre Stelle muss das „Wir" treten. Gemeinsam haben wir eine große Wegstrecke zurückzulegen: Die Menschen in den fünf neuen Bundesländern müssen verstehen, dass der Wohlstand der Bundesrepublik der Ertrag von über 40 Jahren harter Arbeit ist. Andererseits gilt es zu begreifen, dass die Menschen in der ehemaligen DDR nicht auf der Sonnenseite gelebt haben.

SZ: Das klingt so allgemein.

KOHL: Lassen Sie es mich verdeutlichen an einem Beispiel aus der älteren Generation: an zwei Männern des Jahrgangs 1920, die mit 19 Jahren in den Krieg zogen, die beide überlebten und zu Beginn der fünfziger Jahre aus russischer Gefangenschaft heimkamen. Bis dahin hatten sie ein gemeinsames deutsches Schicksal. Von da an teilen sich die Wege. Der eine stieg aus dem Zug in Frankfurt an der Oder und der andere in Frankfurt am Main. Der eine hat dann bei den Farbwerken Hoechst und der andere in Frankfurt an der Oder in einem „volkseigenen" Betrieb gearbeitet. In diesem Jahr sind beide 70 Jahre alt geworden und vergleichen ihre Rentenbescheide. Da kann man erkennen, wie weit wir uns auseinanderentwickelt haben. Das hat natürlich Folgen nicht nur für die wirtschaftlichen Lebensbedingungen der Betroffenen, sondern auch für ihr Selbstverständnis. Der eine kommt in den Genuss der Erträge einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung, der andere ist 40 Jahre um den Ertrag seiner Arbeit betrogen worden.

SZ: Mit dem Einzug von Abgeordneten aus der Volkskammer in den Deutschen Bundestag ist die Frage aktuell geworden, wie wir mit dem Stasi-Syndrom fertig werden können, das unsere Gesellschaft mit den Spannungen der DDR belastet. Haben Sie ein Rezept?

KOHL: Ich glaube nicht, dass es da ein Rezept gibt. Wir dürfen nicht zulassen - und das scheint mir das Wichtigste zu sein -, dass das SED-Regime nach seinem Zusammenbruch sozusagen postum die Atmosphäre unseres Landes vergiftet. Das erste Wort gebührt selbstverständlich den Menschen aus der bisherigen DDR. Es gilt, nach streng rechtsstaatlichen Prinzipien zu verfahren. Wenn der Sachverhalt ergibt, dass ein Verdacht auf Straftaten vorliegt, dann muss der Verdächtige vor Gericht gestellt werden. Wir dürfen aber auf gar keinen Fall eine Hexenjagd eröffnen, sondern müssen uns die Fähigkeit zur Versöhnung bewahren.

SZ: Können wir das wirklich den Bürgern der ehemaligen DDR überlassen? Wie wir die Stimmung kennen, ist dort eher eine Bereitschaft zur Hexenjagd vorhanden. Wir werden also dem Problem nicht aus dem Wegegehen können.

KOHL: Nein, darum geht es mir auch nicht. Die politische Führung muss die Emotionen erkennen und berücksichtigen, aber sie muss sich dennoch streng an die Verfassungsordnung halten. Ich fühle mich verpflichtet, auch das auszusprechen, was nicht populär ist. Und ein Aufruf zur Versöhnung ist nicht immer populär.

SZ: Wenn Sie jetzt von Versöhnung sprechen, kann der Eindruck entstehen, Sie bieten das den falschen Leuten an.

KOHL: Nein, ich habe ja ganz klar gesagt, wer schuldig geworden ist im Sinne des Strafrechts, der muss nach den Maßgaben des Rechtsstaats vor den Richter gestellt werden.

SZ: Aber müssen wir nicht Untersuchungen einleiten, um uns nicht auf zufällige Erkenntnisse verlassen zu müssen?

KOHL: Das halte ich nicht für so problematisch. Wenn rechtsstaatliche Verhältnisse überall bestehen, dann werden die entsprechenden Erkenntnisse auch nicht ausbleiben. Dann wird sich erweisen, wer vor Gericht kommen muss und wer nicht. Natürlich können wir das nicht hundertprozentig regeln. Aber es darf nicht nach dem Motto gehen, die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.

SZ: Herr Bundeskanzler, auch Sie sagen, für die Vereinigung müssen wir Opfer bringen, aber Sie wehren sich gegen Steuererhöhungen. In welcher Form können, sollen, müssen die Opfer gebracht werden?

KOHL: Die genaue Dimension dessen, was die deutsche Einheit kostet, wird noch ermittelt. Es gibt allerdings auch finanzielle Leistungen, die über die Wiederherstellung der deutschen Einheit hinaus zu erbringen sind. Denken Sie nur an den Abzug der sowjetischen Truppen, der eine gewaltige Kostenbelastung mit sich bringt. Ich bin dafür, das in aller Sorgfalt anzugehen.

SZ: Können Sie es sich leisten, in Sachen Hauptstadt Berlin weiter zu schweigen?

KOHL: Berlin ist seit dem 3. Oktober Hauptstadt Deutschlands - so steht es im Einigungsvertrag. Die darüber hinausgehende Diskussion verstehe ich zwar, aber ich halte den Zeitpunkt schlicht und einfach für verfehlt. Wir haben gegenwärtig andere Probleme zu bewältigen. Die Frage nach dem Sitz von Parlament und Regierung steht für mich auf der Prioritätenliste nicht obenan - mögen sich die Berliner äußern, die Bonner diskutieren, ich werde dazu nicht Stellung nehmen. [...]

Wir haben in den Einigungsvertrag geschrieben, dass die gesetzgebenden Körperschaften des Bundes über den Sitz von Regierung und Parlament entscheiden. Sie sollen sich nicht unter Zeitdruck setzen lassen. Nein, ich lasse mich durch den einen oder anderen Redner in dieser Frage überhaupt nicht beeindrucken.

SZ: Neuerdings ist auch bei der FDP wieder von Grundgesetzänderungen die Rede.

KOHL:[...] Die Menschen wollen doch diese Republik und keine andere. Nicht wenige, die jetzt schon Verfassungsänderungen anstreben, wollen tiefe Eingriffe, um die Achse der Republik zu verschieben. Ich werde mich leidenschaftlich dagegen wenden, die Grunderkenntnisse des Parlamentarischen Rats in den Wind zu schlagen. Dieses Grundgesetz ist die beste Verfassung, die wir je hatten. Ich bin mit einzelnen Änderungen einverstanden, wenn diese sich in den Kontext der Gesamtverfassung einfügen.

SZ: An welchen Stellen halten Sie substantielle Verfassungsänderungen für unumgänglich?

KOHL: Ich denke an einen Punkt, der in der öffentlichen Diskussion bisher kaum eine Rolle spielt: Wir stehen in einem geschichtlich entscheidenden Jahrfünft, das im Sommer 1989 begann und im Sommer 1994 mit der Wahl zum Europäischen Parlament zu Ende geht. Die staatliche Einheit Deutschlands ist mittlerweile vollendet, jetzt bleibt der Auftrag der Präambel unseres Grundgesetzes zu erfüllen, das vereinte Europa zu schaffen. Die Frage lautet: Sehen wir den 31. Dezember 1992, also die Vollendung des großen europäischen Binnenmarkts, als die Endstation an? Oder wollen wir in Fortentwicklung der Römischen Verträge die politische Union? Nun gibt es zwei Denkschulen im EG-Europa. Die einen sagen: Wir nehmen möglichst schnell viele weitere Mitglieder auf, von Malta bis Norwegen, und damit wäre der Gedanke der politischen Einigung praktisch aufgegeben. Andere wie Francois Mitterrand und ich sagen, wir können zwar noch den einen oder anderen Beitritt verkraften, wir brauchen außerdem ein neues System der Assoziierung von Nicht-EG-Ländern, aber wir wollen die politische Einigung. Das heißt, dass wir bis Ende 1993 in Europa den Durchbruch zur politischen Union geschafft haben müssen. Wenn das europäische Parlament, das 1994 gewählt wird, mehr Kompetenzen, mehr Rechte erhalten soll, dann müssen wir vorher die Grundlagen gelegt haben. Und damit bin ich automatisch beim Thema Änderung des Grundgesetzes in Bezug auf Europa.

SZ: Das vereinigte Deutschland erhält ein sehr viel stärkeres Gewicht als es die Bundesrepublik bisher hatte. Der Nachteil besteht darin, dass enorme Erwartungen auf uns gerichtet sind. Ein Beispiel ist unsere Unterstützung am Golf. Werden Sie die notwendigen Verfassungsänderungen in diesem Punkt vorantreiben?

KOHL: Hier stehen wir unter Zeitdruck. Außerhalb der deutschen Staatsgrenzen können wir niemanden mehr mit dem Hinweis überzeugen, dass uns von der Verfassung die Hände gebunden sind. Es ist für die moralische Statur unseres Landes abträglich, wenn wir einerseits Weltmeister im Export sind und uns andererseits der internationalen Verantwortung entziehen. Ohnedies neigen viele bei uns zunehmend in Fragen der Außenpolitik zum Provinzialismus. Sie glauben, das, was bei uns geschehe, sei der Nabel der Welt, was sich draußen ereigne, interessiere nicht. Wir sind aber Teil der einen Welt, und deswegen schaut man in New York, in London, in Neu-Delhi darauf, ob die Deutschen ihrer Verantwortung gerecht werden.

SZ: Aber trägt es nicht gerade zur Beunruhigung bei, wenn wir das tun, was die anderen zu erwarten scheinen?

KOHL: Das größere Deutschland ist mit rund 80 Millionen Menschen neben den Japanern und den Amerikanern eine der stärksten Wirtschaftsmächte der Welt. Die neuen fünf Bundesländer werden nach einer Übergangszeit zur Stärkung beitragen. So wird die Bundesrepublik durch die Wiedervereinigung natürlich stärker, und das erweckt viele Ängste. Da gibt es berechtigte Ängste und unberechtigte. Viel Wirtschaftsneid entsteht.

SZ: An welche berechtigten Ängste denken Sie?

KOHL: Es lässt sich überhaupt nicht leugnen, dass die Deutschen die Verantwortung tragen für den Zweiten Weltkrieg, für die Barbarei der Nazis, für Auschwitz und Treblinka, für den Holocaust. Die entscheidende Frage lautet: Kann man sich auf Friedensliebe und Verantwortungsbewusstsein der Deutschen ein für allemal verlassen? Die überzeugendste Antwort geben wir durch unser praktisches Verhalten in der Politik. Unser Engagement für die europäische Integration widerlegt eindeutig alle Befürchtungen vor einem Wiedererstarken des Nationalismus bei uns. Wir geben schließlich Souveränitätsrechte auf zugunsten der politischen Einigung Europas. Das ist das Gegenteil von Hegemoniestreben. Im übrigen gibt es auch viel guten Willen gegenüber den Deutschen. Alle Bundesregierungen haben in diesem Sinne gewirkt, alle meine Amtsvorgänger haben sich bemüht, Misstrauen in der Welt gegen uns abzubauen.

SZ: Zum Zusammenwachsen Europas wird konkret einiges von uns erwartet, zum Beispiel was die Währungsunion betrifft. Dazu haben sich Theo Waigel und Karl Otto Pohl sehr zurückhaltend geäußert.

KOHL: Ich glaube nicht, dass das eine prinzipielle Frage ist, sondern es ist eine Frage der Inhalte und der Sorgfalt der Vorbereitung. Wer die politische Einigung in Europa will - ich will sie -, der muss ja sagen zur Wirtschafts- und Währungsunion. Die Frage ist, was sind die Voraussetzungen. Darin unterscheiden wir uns überhaupt nicht, weder von Herrn Pohl noch von Herrn Waigel. Eine Conditio sine qua non ist die Unabhängigkeit einer europäischen Notenbank. So hängt auch die Stabilität unserer D-Mark entscheidend davon ab, dass wir eine unabhängige Zentralbank haben. Dieses System hat sich bewährt. Die herausragende Bedeutung stabilen Geldes sehen heute auch alle meine Partner in der EG. Zentrale Voraussetzung für Stabilität sind nicht zuletzt solide Staatsfinanzen. Diese Fragen werden zu den wichtigen Themen in den kommenden Gesprächen und der bevorstehenden Regierungskonferenz gehören. Jetzt kommt es daher auf weitere Fortschritte bei der entsprechenden Konvergenz der Wirtschaftspolitiken an.

SZ: Im Zusammenhang mit den flankierenden außenpolitischen Maßnahmen für die Einigung Deutschlands: Welche Kontakte mit anderen Regierungschefs planen Sie?

KOHL: Das Wichtigste in nächster Zeit ist die feierliche Unterzeichnung des umfassenden Vertrags mit der Sowjetunion. Das ist für mich die Erreichung eines wichtigen Ziels.

SZ: Wo wird das stattfinden, hier oder in Moskau?

KOHL: Das wird noch in diesem Jahr stattfinden, sicherlich in Bonn. Für mich ist es eine große Befriedigung, dass wir diesen Vertrag zustande bringen, über den wir zum ersten Mal umfassend im Juni des vergangenen Jahres gesprochen haben, als Gorbatschow hier war. Da kamen wir beide zu dem Ergebnis, wir hätten doch die Pflicht, die Lehren aus dem Krieg und den Nachkriegsjahren umzusetzen zugunsten der nachfolgenden Generation, anzuknüpfen an die großen friedlichen Kapitel deutsch-russischer Beziehungen. Damals konnten wir die dramatische Entwicklung in Mittel-, Ost- und Südosteuropa nicht voraussehen. Wir haben uns vorgenommen, einen Vertrag abzuschließen, in dem für die politische Zusammenarbeit - dazu gehören auch sicherheitspolitische Fragen -, für die ökologische, wirtschaftliche, wissenschaftliche, technologische, kulturelle Zusammenarbeit ein Rahmen geschaffen wird. Die Einigung über Deutschland, die wir bei unseren Gesprächen im Kaukasus erzielt haben, muss man also vor dem Hintergrund sehen, dass wir fest entschlossen sind die deutsch-sowjetische Zusammenarbeit auf eine völlig neue Basis zu stellen. Nun ist der Vertrag ganz schnell ausgehandelt worden.

Ich mache kein Hehl daraus, dass ich mir gewünscht hätte, einen entsprechenden deutsch-polnischen Vertrag zeitgleich abzuschließen. Deshalb werde ich gemeinsam mit Ministerpräsident Mazowiecki, den ich noch in diesem Jahr sehe, darauf drängen, möglichst rasch auch zu einem umfassenden deutsch-polnischen Vertrag zu kommen, denn ich halte es für psychologisch wichtig, dass kein zu großer zeitlicher Abstand zwischen dem deutsch-sowjetischen und dem deutsch-polnischen Vertrag entsteht.

SZ: Woran hakt es noch, wer bremst?

KOHL: In Polen hatte man sich zu lange auf die vertragliche Fixierung der Grenze konzentriert. Die deutsche Haltung dazu ist klar und eindeutig. Das Thema sollte aber auch in einem breiteren Sinne behandelt werden, nämlich in der Perspektive regionaler Zusammenarbeit: Wir haben eine beinahe 500 Kilometer lange Grenze zwischen Polen und Deutschland. Wer das Schreckliche nicht vergessen will, das in deutschem Namen an Polen geschah, muss an dieser Grenze, an Oder und Neiße, den Versuch unternehmen, das Trennende zu überwinden. Die Grenze muss eine Brücke werden. [...]

SZ: Kann das Verhältnis zu Polen mit einer Aufschiebung des wieder eingeführten Visumzwangs verbessert werden?

KOHL: Das müssen wir sehr sorgfältig miteinander besprechen. Es besteht im Moment die Tendenz zu einer gewaltigen Völkerwanderung von Osten nach Westen. Jeder, das gilt für alle Europäer, muss klug bedenken, was das für Konsequenzen hat.

SZ: In Osteuropa erwartet man von uns eine gewaltige finanzielle Hilfe. Würde das Teil eines Vertrags mit Polen sein?

KOHL: Ich glaube nicht, dass wir einen „Geld-Vertrag" mit Polen schließen. Auch der große Vertrag mit der Sowjetunion ist kein Vertrag mit einem materiellen Inhalt. Es geht vielmehr darum, den vertraglichen Rahmen für eine deutsch-polnische Interessengemeinschaft zu setzen, zu der selbstverständlich auch umfassende wirtschaftliche Zusammenarbeit - und zwar zum beiderseitigen Vorteil - gehört.

Quelle: Süddeutsche Zeitung, 11. Oktober 1990.