11. Oktober 1997

Rede anlässlich der Eröffnung der ANUGA 1997 in Köln

 

Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrter Herr Dr. Traumann,
meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete,
meine Damen und Herren,
vor allem: liebe Gäste aus dem Ausland,

 

es ist beinahe schon eine feste Tradition, daß ich zur ANUGA komme. Wenn der Oberbürgermeister und ich diese große Messe eröffnen, brauchen wir eigentlich gar nicht viel zu reden, denn wir stehen deutlich sichtbar für die Erzeugnisse, die hier gezeigt werden. Essen und Trinken - das steht für Freude am Leben. Genau dies ist es, was die ANUGA auch vermittelt.

 

Mein ganz besonderer Gruß gilt den ausländischen Gästen. Ich freue mich über jeden, der unser Land besucht - sei es als Tourist, als Geschäftspartner deutscher Firmen oder als Investor. Das gilt besonders auch für die neuen Länder. Für die Bundesrepublik Deutschland sind Weltoffenheit, Dialogbereitschaft, Handelsaustausch und Partnerschaft eine existentielle Frage. Gerade deshalb freue ich mich, daß heute so viele gekommen sind.

 

Seit ihrem Bestehen hat die ANUGA von Jahr zu Jahr enorm an Anziehungskraft gewonnen. Vor zwei Jahren kamen fast 200000 Besucher aus 150 Ländern hierher. Die Zahl der Aussteller liegt in diesem Jahr bei über 6500; sie kommen aus mehr als 100 Ländern. Ich gratuliere allen, die zu diesem Erfolg beigetragen haben - den Fachverbänden, den Ausstellern und der Messegesellschaft hier in Köln.

 

Meine Damen und Herren, der Schlüssel für den Erfolg auf den Nahrungsmittelmärkten ist Qualität, Sicherheit und Zuverlässigkeit - und damit das Vertrauen der Verbraucher. Das Angebot an Nahrungs- und Genußmitteln war noch nie so reichhaltig und qualitativ hochwertig wie heute. Aber die subjektive Einschätzung vieler Bürgerinnen und Bürger unseres Landes entspricht nicht diesen Tatsachen. Viele meinen, die Qualität der Lebensmittel habe sich verschlechtert. Laut Umfragen sind mehr als 80 Prozent der Verbraucher verunsichert und meinen, die gesundheitliche Gefährdung durch Lebensmittel habe zugenommen. Eine solche Verunsicherung muß uns zu denken geben, denn die objektiven Gegebenheiten sind ganz andere. Der Ernährungsbericht 1996 hat dies erneut eindrucksvoll bestätigt. Deshalb ist es unsere gemeinsame Sache - ich schließe die Politik ausdrücklich mit ein -, die Vorbehalte beim Verbraucher abzubauen. Ein entscheidender Schritt dazu ist das verantwortungsvolle Handeln der Ernährungswirtschaft. So ist es richtig und gut, daß Sie unermüdlich an dem Ziel arbeiten, die Qualitätsstandards ständig weiter zu verbessern.

 

Wahr ist auch - man kann das nicht oft genug sagen -, daß wir in Deutschland ein Lebensmittelrecht haben, das zu den besten in der Welt gehört. Mit der Anpassung an das europäische Gemeinschaftsrecht gelten nun EU-weit gleiche Anforderungen, die laufend fortentwickelt werden. All dies ist Garant für einen freien Warenverkehr und einen hohen Verbraucherschutz im gemeinsamen europäischen Markt.

 

Vertrauen gewinnen wir vor allem durch mehr Informationen. Wenn es zum Beispiel heißt, daß heutzutage jeder zweite Konsument beim Kauf von Fleisch- und Wurstwaren sicher sein will, daß Herkunft und Qualität stimmen, so müssen wir alles tun, um diesem Informationsbedürfnis nachzukommen. Herkunfts- und Kontrollsiegel spielen dabei eine wichtige Rolle. Die Bundesregierung hat sich in Brüssel nachdrücklich und erfolgreich für ein vernünftiges Kontroll- und Herkunftssicherungssystem für Rindfleisch eingesetzt. Das war vor Jahrzehnten noch völlig undenkbar. Dieses Thema wird zur Zeit in den parlamentarischen Gremien beraten und - dessen bin ich sicher - zu einem guten Abschluß gebracht werden.

 

Meine Damen und Herren, Vorbehalte gilt es vor allem dort zu überwinden, wo technische und wissenschaftliche Innovationen im Bereich der Lebensmittelproduktion eingeführt werden. Hierbei denke ich in erster Linie an die Gentechnik, die seit Jahren intensiv und mit großen Emotionen diskutiert wird. Wie bei allen großen Neuerungen müssen wir auch hier die Risiken und Chancen ernsthaft und nüchtern gegeneinander abwägen.

 

Eine Industrie- und Exportnation wie die Bundesrepublik Deutschland kann sich neuen wissenschaftlichen Entwicklungen und Technologien nicht einfach verschließen. Dies ist kein blinder Fortschrittsglaube, sondern ein Ja zu einem verantwortungsvollen Umgang mit neuen wissenschaftlichen und technischen Erkenntnissen. Gerade wir Deutsche wissen aufgrund historischer Erfahrungen, daß nicht alles, was technisch machbar ist, auch ethisch und moralisch erlaubt ist.

 

Die Politik kommt nicht an der Tatsache vorbei, daß gerade die Gentechnik eine Schlüsseltechnologie für das 21. Jahrhundert ist. Weltweit werden in diese Entwicklung große Erwartungen gesetzt. Die Gentechnik eröffnet neue Potentiale in einer Vielzahl von Einsatzbereichen. Das reicht von der Medizin über den Umweltbereich bis hin zur Land- und Ernährungswissenschaft. In der Medizin können mit ihrer Hilfe enorme Fortschritte erzielt werden. Hier besteht weitgehender Konsens über die Vorteile und den Nutzen dieser neuen Technik. In der Land- und Ernährungswirtschaft ist die Akzeptanz der Gentechnik dagegen geringer. Es gibt weitverbreitete Ängste. Deshalb müssen die Verbraucher mehr über die modernen gentechnischen Verfahren wissen. Das gilt ebenso hinsichtlich der Chancen und Risiken für Mensch und Umwelt. Schließlich sollten wir auch auf die große wirtschaftliche Bedeutung der Gentechnik für unser Land hinweisen.

 

Meine Damen und Herren, die Menschen bedienen sich schon seit Jahrtausenden der großen genetischen Potentiale unserer Pflanzen, um ihre Nahrungsgrundlage zu verbessern. Auf diesem Weg ist vor allem in der jüngsten Vergangenheit viel geschehen. Heute ist eine effiziente Nutzung der genetischen Ressourcen wichtiger denn je. Nach Schätzung der Welternährungsorganisation muß die Nahrungsmittelerzeugung in den nächsten 30 Jahren allein in der Dritten Welt um 75 Prozent gesteigert werden, um mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten zu können.

 

Dies kann nur gelingen, wenn die Erträge der weltweit begrenzten Nutzflächen gesteigert werden. Dazu brauchen wir Nutzpflanzen, die besser an die - zum Teil sehr schwierigen - Standortbedingungen in den Entwicklungsländern angepaßt sind. Hierzu kann die sogenannte "grüne Gentechnik" einen wichtigen Beitrag leisten. Mit ihrer Hilfe können Pflanzen gezüchtet werden, die mit weniger Wasser auskommen, die die Nährstoffe besser ausnutzen oder die widerstandsfähiger gegen Pflanzenkrankheiten und Schädlinge sind. Politik und Wirtschaft sind gemeinsam gefordert, gerade hier die notwendige Transparenz zu schaffen. Ein wichtiger Schritt war deshalb das deutsche Gentechnikgesetz und die umfassende EU-weite Kennzeichnungsregelung für gentechnisch veränderte Lebensmittel.

 

Meine Damen und Herren, Essen und Trinken genießen beim Verbraucher einen hohen Stellenwert. Sie bedeuten oft auch Kommunikation und gemütliches Beisammensein mit der Familie und mit Freunden - kurz: Sie sind ein Stück Lebensqualität. Essen und Trinken sind ein wesentlicher Teil unserer Kultur. Deswegen ist das, was in der Lebensmittelindustrie, in der Gastronomie und im Fachhandel jeden Tag geleistet wird, von allergrößter Bedeutung.

 

Die deutsche Ernährungsindustrie ist zu einem der modernsten Industriezweige unseres Landes geworden. Sie gehört auch weltweit zur Spitzengruppe. Allein 1996 wurden in diesem Bereich 8,2 Milliarden D-Mark in die Verbesserung von Industrieanlagen, in Logistik und in Maßnahmen für den Umweltschutz investiert. Hier werden höchste Standards erreicht. Lebensmittel aus Deutschland finden wir in der ganzen Welt; ihre hohe Qualität hat sie überall bekannt gemacht. Darauf können wir stolz sein - auch das möchte ich einmal klar aussprechen.

 

Auch im Weltagrarhandel nimmt Deutschland einen Spitzenplatz ein. 1996 haben wir land- und ernährungswirtschaftliche Güter für fast 40 Milliarden D-Mark exportiert. Davon hängen bei uns viele hochmoderne Arbeitsplätze ab. Mit einem Wort: Die Ernährungsgüterindustrie ist eine der Branchen mit Zukunft. In wenigen Jahren werden wir in Hannover erstmals eine Weltausstellung ausrichten. Ich möchte Sie, das heißt die Ernährungswirtschaft und die Gastronomie, herzlich bitten, sich daran nach Kräften zu beteiligen, damit wir für unser Land gemeinsam eine gute Visitenkarte abgeben. Die EXPO 2000 wird weltweit große Aufmerksamkeit finden. Die Beteiligung internationaler Aussteller und die Zahl der Länder, die daran teilnehmen wollen, war zu einem vergleichbaren Zeitpunkt noch nie so hoch wie dieses Mal.

 

Meine Damen und Herren, ich weiß, daß die wirtschaftliche Entwicklung Ihrer Branche nicht nur Anlaß zur Zufriedenheit gibt. Der Strukturwandel setzt sich fort. Die Zahl der Betriebe ging im vergangenen Jahr weiter zurück - ebenso wie die Zahl der Arbeitsplätze. Wir müssen alles daransetzen, damit vor allem auch die mittelständischen Betriebe nicht auf der Strecke bleiben. Soziale Marktwirtschaft - ich bin überzeugter Anhänger und Schüler von Ludwig Erhard - ist eine glückliche Mischung von Groß-, Klein- und Mittelbetrieben. Wir brauchen den Großbetrieb, aber wir brauchen genauso den Klein- und den Mittelbetrieb. Es ist eine Tatsache, daß sich der Mittelstand etwa bei der Schaffung von Ausbildungsplätzen von niemandem übertreffen läßt. Ich wünsche mir, daß die Beispiele, die ich in vielen kleinen Betrieben sehe, in den Vorstandsetagen mancher deutscher Großbetriebe Schule machen.

 

Es ist eine Tatsache, daß das Gewicht der Ausgaben für Nahrungsmittel in Deutschland zurückgegangen ist. Der durchschnittliche Anteil der Ausgaben für Lebensmittel in einem Vier-Personen-Haushalt betrug 1996 noch knapp 16 Prozent. 20 Jahre zuvor waren es noch fast 22 Prozent. Die Unternehmen stehen in intensiver Konkurrenz zueinander, der strukturelle Anpassungsprozeß setzt sich fort. Die Lebensmittelpreise in Deutschland sind in den vergangenen fünf Jahren nur halb so stark gestiegen wie die übrigen Lebenshaltungskosten. Aus der Sicht des Verbrauchers ist dies positiv. Wer aber an die wirtschaftliche Lage der betroffenen Unternehmen denkt, der muß auch deren Argumente zur Kenntnis nehmen. Einem Unternehmen geht es hier genauso wie einem Organismus in der Natur. Es muß eine nachhaltige Produktion möglich sein: Das heißt, wir brauchen Betriebe, die Zukunft haben und nicht von der Substanz leben.

 

Rund 75 Prozent der Rohstoffe, die unsere Ernährungsindustrie verarbeitet, stammen aus der deutschen Landwirtschaft. Ich danke Ihnen, Herr Dr. Traumann, ausdrücklich dafür, daß Sie hier auch die Bauern angesprochen haben. Die Qualität unserer Landwirtschaft entscheidet zu einem großen Teil über die Qualität der Produkte unserer Ernährungswirtschaft.

 

In Deutschland brauchen wir eine leistungsfähige und gesunde Landwirtschaft. Ich kann die Meinung nicht teilen, daß wir eine ganze Branche - nur weil sie sich im Moment nicht überall rechnet - gleich ganz abschaffen müssen. Jemand, der - wie ich - das Ende des Krieges und die darauf folgende Notzeit noch bewußt miterlebt hat, der weiß, daß eine kluge und in die Zukunft weisende Politik immer auch Krisenzeiten ins Kalkül ziehen muß. Deswegen bin ich nachdrücklich dafür, daß wir alles tun, um die Ernährungsbasis unseres Landes auch für die Zukunft sicherzustellen.

 

Ich weiß, daß dies in unserer Zeit sehr viel schwieriger geworden ist. Ich kenne auch die Probleme auf europäischer Ebene. Soeben wurde hier bereits die "Agenda 2000" angesprochen. Ich weiß, daß wir allein schon von den Betriebsgrößen her von ganz unterschiedlichen Startpositionen ausgehen. Vor einigen Jahren - vor der Deutschen Einheit - hatten meine Kollegin Margaret Thatcher und ich regelmäßig Streit über die Agrarpolitik. Die Briten hatten damals Höfe mit einer Durchschnittsgröße von 170 ha, wir von 17 ha. Allein diese beiden Zahlen sprechen für sich. Ich werbe auch vor Ihnen dafür, daß wir gemeinsam alles tun, um in unserem Land eine leistungsfähige Landwirtschaft zu erhalten. Ich möchte, daß unsere Bauern auch in Zukunft ihre Chance haben. Ihre harte Arbeit ist nicht von Tarifverträgen bestimmt, und sie träumen auch nicht von einer 35-Stunden-Woche. Die Landwirte brauchen wir nicht zuletzt, um unsere Kulturlandschaft zu erhalten. Sie ist auch das Ergebnis harter Arbeit vieler Generationen von Bäuerinnen und Bauern.

 

Meine Damen und Herren, vom 1. bis 3. September 1997 fand in Düsseldorf erstmals eine Einkaufsmesse für Konsumgüter aus den neuen Bundesländern statt. Die Idee für eine solche Veranstaltung wurde in Gesprächen geboren, die ich mit den Spitzenvertretern des Handels geführt habe. Ein wichtiges Ziel dieser Messe war es, daß die 14 großen deutschen Handelsunternehmen ihre Einkäufe aus Ostdeutschland bis 1998 gegenüber dem Stand von 1995 verdoppeln. Der Anteil der ostdeutschen Produkte in ihrem Sortiment soll dann 10 Prozent betragen. Auf diesem Weg sind wir bei der Messe in Düsseldorf einen wesentlichen Schritt weitergekommen. Eine Umfrage bei den ostdeutschen Ausstellern und dem Handel hat gezeigt, daß sich diese Messe für die Beteiligten gelohnt hat. Sie ist ein hoffnungsvolles Zeichen für den Aufschwung Ost und ein wichtiger Beitrag zur Anpassung der Lebensverhältnisse in unserem Vaterland.

 

Einige spezifische Ergebnisse der Konsumgütermesse Ost möchte ich in Erinnerung rufen: Ein Drittel der Einkäufer hat auf der Messe - sieben Jahre nach der Deutschen Einheit - erstmals Kontakt zu ostdeutschen Herstellern aufgenommen! Die ostdeutschen Produkte haben eine hohe Wettbewerbsfähigkeit; über 60 Prozent der Einkäufer haben das Angebot im Nahrungsmittelbereich als sehr gut und gut bezeichnet. 50 Prozent haben zugesagt, daß sie mit Sicherheit mehr Produkte aus den neuen Ländern listen wollen. 10 Prozent der Aussteller sind mit konkreten Abschlüssen nach Hause gegangen.

 

Dies alles ist noch kein Grund zur Euphorie, aber es ist ein wichtiges - auch psychologisches - Signal. Die Konsumgüterindustrie in den neuen Bundesländern ist auf gutem Weg, auf den Märkten Fuß zu fassen. Ich wünsche mir sehr, daß die Impulse aus Düsseldorf auch auf der ANUGA Eingang finden. Es kommt jetzt darauf an, daß die neu angebahnten Geschäftskontakte konkrete Abschlüsse nach sich ziehen.

 

Meine Damen und Herren, die ANUGA 1997 findet in einer Zeit entscheidender Weichenstellungen für Deutschland, für Europa und für die Welt statt. Das 20. Jahrhundert geht zu Ende, ein neues Jahrtausend beginnt. Wir erleben tiefgreifende Veränderungen in unserer eigenen Gesellschaft und die zunehmende Globalisierung der Wirtschaft.

 

Ich möchte dazu wenige Zahlen nennen: Das Welthandelsvolumen ist von knapp 2000 Milliarden US-Dollar im Jahre 1980 auf rund 5300 Milliarden US-Dollar im Jahre 1996 gestiegen. Der Anteil der asiatischen Wachstumsmärkte am Welthandel hat sich in diesem Zeitraum von gut acht Prozent auf 18 Prozent mehr als verdoppelt. Der Anteil Deutschlands blieb bei zehn Prozent relativ konstant. Die Summe der grenzüberschreitenden Direktinvestitionen betrug Mitte der achtziger Jahre weltweit rund 77 Milliarden US-Dollar; 1996 waren es bereits 350 Milliarden US-Dollar. Das Gewicht Deutschlands als Investitionsstandort - das müssen wir endlich begreifen - hat in diesem Zeitraum abgenommen: Mitte der achtziger Jahre flossen noch über dreieinhalb Prozent der grenzüberschreitenden Investitionen nach Deutschland; 1996 waren es weniger als ein Prozent.

 

Dies, meine Damen und Herren, sind ganz nüchterne Zahlen. Die Konkurrenz hat zugenommen, und die Herausforderungen sind härter geworden. Die Gewichte im Welthandel verschieben sich weiter. Andere Länder holen auf, neue Wettbewerber kommen hinzu. Sie können das auch hier, beim Angebot auf der ANUGA, feststellen. Neue Konkurrenten gibt es zum Beispiel in Asien und Lateinamerika. Aber auch vor unserer Haustür, mitten in Europa, treten neue Wettbewerber auf - in Tschechien, in Polen, in Ungarn, in Rußland und in vielen anderen Regionen des früheren sowjetischen Machtbereichs. Diese Länder wollen Demokratie, Rechtsstaat, soziale Stabilität - eine marktwirtschaftliche Ordnung - aufbauen. Dies liegt auch im Interesse Deutschlands. Wir sollten uns freuen, wenn sich diese Länder entwickeln. Aber wenn sie erfolgreich sind, dann werden sie selbstverständlich auch unsere Konkurrenten. Das muß man klar aussprechen.

 

Wir haben alle Chancen, in der veränderten Wettbewerbslage zu bestehen und auch weiterhin mit zu den führenden Industrienationen der Welt zu gehören. Der Standort Deutschland hat viele Aktivposten: Wir haben eine ausgezeichnete Infrastruktur. Das gilt inzwischen auch für die neuen Bundesländer. Ich habe gerade zwei Tage in den neuen Ländern verbracht. Die amerikanischen und französischen Gäste, mit denen ich bei dieser Gelegenheit sprechen konnte, waren fasziniert von der Infrastruktur, die dort in wenigen Jahren entstanden ist. Man muß sich nur einmal in Erinnerung rufen, wie lange man noch vor sieben Jahren warten mußte, um zum Beispiel in Leipzig ein Telefongespräch führen zu können.

 

Wir haben darüber hinaus gut ausgebildete Arbeitnehmer. Das ist ein Schatz unseres Landes. Deswegen ist es so wichtig, daß wir den jungen Menschen die notwendigen Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen. Es ist absurd, wenn heute darüber geklagt wird, daß junge Leute einen Ausbildungsplatz suchen. Bis zum Jahr 2005 wird die Zahl der Auszubildenden noch weiter ansteigen, danach geht sie stark zurück. Dann wird sich noch mancher umschauen, weil er dann händeringend nach Lehrlingen suchen muß. Wir sollten deshalb nicht darüber klagen, daß wir jetzt so viele Lehrlinge haben. Statt dessen sollten wir Freude daran haben, daß junge Menschen etwas lernen wollen. Wir sollten die Lehrlingsausbildung nicht nur unter kurzfristigen ökonomischen Gesichtspunkten sehen, sondern durchaus auch als eine moralische Herausforderung. So können wir beispielsweise von einem jungen Mann, der einen Ausbildungsplatz sucht und nur verschlossene Türen vorfindet, nicht erwarten, daß er sich später als Soldat der Bundeswehr oder als Zivildienstleistender für unseren Staat einsetzt.

 

Schließlich haben wir eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur mit einem leistungsfähigen Mittelstand und nicht zuletzt eine beachtliche wirtschaftliche Stabilität und ein gutes soziales Klima. Es gehört zu den herausragenden Entwicklungen in der Geschichte unserer Bundesrepublik, daß man unter Tarifpartnern einen Stil des Miteinanders gefunden hat, der beispielhaft ist. Das schließt Auseinandersetzung und Krach überhaupt nicht aus. Konsens ist kein Selbstzweck. Es gibt Situationen - das gehört zu meinem Alltag -, in denen man versucht, einen Kompromiß zu erreichen; wenn dies aber nicht möglich ist, dann muß man entscheiden und verantwortlich handeln. Das ist das Wesen der Demokratie. Wir wollen das kostbare Gut eines vernünftigen sozialen Klimas nicht leichtfertig verspielen. Es ist Voraussetzung für eine gute Zukunft.

 

Heute stehen wir mitten in der Reformarbeit für unser Land. Wir haben bereits sehr vieles auf den Weg gebracht. Wer sich über ausbleibende Reformen beklagt, der sollte auch einmal zur Kenntnis nehmen, wieviel bereits geschehen ist. Wir haben den Standort Deutschland deutlich vorangebracht. Natürlich hat es eine Menge Streit gegeben. Ich nenne als Beispiel die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, die wir auf eine neue gesetzliche Grundlage gestellt haben. Da sich die Tarifpartner im Frühjahr des vergangenen Jahres nicht einigen konnten, mußte die Politik handeln. Davon ist eine beachtliche Wirkung ausgegangen: Durch die tariflichen Veränderungen, die auf diese Weise angestoßen wurden, ist es zu einer Entlastung von über zehn Milliarden D-Mark für Unternehmen in Deutschland gekommen. Zudem haben sich die Fehlzeiten in den Betrieben auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren verringert. Wir haben ferner den Abschluß befristeter Arbeitsverträge erleichtert - nicht, um den Sozialstaat abzuschaffen, sondern um die Chancen für mehr Arbeitsplätze zu verbessern. In diesen Zusammenhang gehört auch die Anhebung der Schwelle für den Kündigungsschutz und nicht zuletzt die notwendigen Entscheidungen bei der Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung.

 

Die Wirtschaftsperspektiven zeigen, daß wir auf dem richtigen Weg sind. In diesem Jahr werden wir eine Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts von zweieinhalb Prozent haben; im nächsten Jahr werden wir auf drei Prozent Wirtschaftswachstum kommen. Das sind erfreuliche Entwicklungen. Völlig inakzeptabel aber ist, daß die Zahl der Arbeitslosen bei über vier Millionen liegt. Wir haben in den letzten zwei Jahrzehnten die bittere Erfahrung machen müssen, daß die alte Regel nicht mehr gilt: Wenn das Bruttoinlandsprodukt steigt, dann nimmt heute die Zahl der Arbeitsplätze nicht mehr automatisch in gewohntem Ausmaß zu. Deswegen müssen wir alles tun, um neue Arbeitsplätze durch Wachstum und strukturelle Verbesserungen zu schaffen.

 

Deswegen sind die Reformen, die jetzt anstehen, so existentiell für unser Land. Dazu gehört zum Beispiel die Steuerreform. Wir haben in Deutschland die bizarre Situation, daß unsere Nachbarn in Österreich und Holland Betriebe mit dem Hinweis auf die hohen Steuern bei uns abwerben. Das ist zwar unerträglich, aber ich kann im Grunde nichts dagegen sagen, denn sie haben ja recht. In Prospekten aus dem österreichischen Vorarlberg wird zum Beispiel mit wunderbarer Ferienlandschaft, guten Arbeitsplätzen und niedrigen Steuern um Investoren geworben. Was die benachbarten Niederländer auf diesem Gebiet tun, geht in die gleiche Richtung. Das heißt im Klartext: Wir müssen uns ändern und die notwendigen Entscheidungen treffen.

 

Ich bedauere zutiefst, daß die Steuerreform jetzt nicht zustande gekommen ist. Wir haben bis zuletzt versucht, mit der SPD-Mehrheit im Bundesrat zu einem Kompromiß zu kommen. Aber wir konnten nicht zulassen, daß unser schlüssiges Konzept, das von allen Experten im In- und Ausland gutgeheißen wurde, bis zur Unkenntlichkeit verwässert wurde. Jetzt werden die Wähler bei der Bundestagswahl über die Steuerreform entscheiden. Wir verlieren zwei Jahre, aber die Steuerreform wird kommen. Wir brauchen sie, um Investitionen und damit die Schaffung neuer Arbeitsplätze in Deutschland zu fördern.

 

Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bleibt unsere zentrale innenpolitische Aufgabe. Hier stehen wir gemeinsam in der Verantwortung - Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften. Ich wünsche mir, daß die vielfältigen Verbesserungen, die bereits erreicht worden sind, jetzt genutzt werden, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Schon einmal haben wir bewiesen, daß es möglich ist, eine Vielzahl neuer Arbeitsplätze zu schaffen: Zwischen 1983 und 1992 haben wir in der alten Bundesrepublik mehr als drei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. Warum soll dies in den nächsten Jahren in ähnlicher Dimension - ungeachtet der besonderen Schwierigkeiten in den neuen Ländern - nicht möglich sein?

 

Ich habe es sehr begrüßt, daß der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes in diesen Tagen von sich aus ein klares Signal gegeben hat, daß wir jetzt auch auf dem Arbeitsmarkt ein gutes Stück vorankommen. Es gibt viele, höchst erfreuliche Signale: Die Tarifverträge wurden in diesem Jahr wieder stärker an Wachstum und Beschäftigung ausgerichtet. Zum Beispiel sind in der Chemieindustrie vorbildliche tarifliche Regelungen, die vor Jahren noch undenkbar waren, ausgehandelt worden. Nach der Chemie hat auch die IG Metall in diesen Tagen eine Einigung zur Altersteilzeit erzielt. Das zeigt: Wir können etwas voranbringen, wenn wir nur wollen.

 

Im Deutschen Bundestag haben wir jetzt einen entscheidenden Schritt in der Rentenreform gemacht. Ich kann gar nicht verstehen, warum wir über dieses Thema einen solchen Streit haben. Es gibt objektive Daten, die mit Politik überhaupt nichts zu tun haben. Wir Deutsche haben sie in freier Entscheidung herbeigeführt. Neben den Italienern und Spaniern sind wir in der Europäischen Union das Land mit der niedrigsten Geburtenrate.

 

Gleichzeitig werden die Menschen immer älter. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer liegt in Deutschland heute bei 73, die der Frauen bei 79 Jahren. Der Anteil von 65jährigen und älteren Menschen in unserer Bevölkerung steigt weiter an: Er liegt heute bei 15 Prozent und wird sich bis zum Jahr 2030 auf 26 Prozent nahezu verdoppeln. Zudem verlassen unsere Akademiker die Hochschule vielfach erst mit 29 oder 30 Jahren - also um Jahre später als ihre Kollegen in der Europäischen Union. Das liegt nicht in meiner Kompetenz, aber es ist unsere gemeinsame Sache. Wenn ein junger Akademiker mit 30 Jahren in den Beruf einsteigt und mit 60 Jahren in den Ruhestand geht, dann stehen rund 45 Jahren Ausbildung und Ruhestand nur 30 Jahre Berufstätigkeit gegenüber. Diese Rechnung kann nicht aufgehen.

 

Die große Mehrheit der Deutschen hat längst begriffen, daß wir nicht einfach so weitermachen können wie bisher. Die große Mehrheit der Menschen in unserem Land ist dafür, daß wir Veränderungen vornehmen. Aber gleichzeitig will natürlich keiner selbst betroffen sein. Das ist menschlich, aber es führt nicht weiter. Die Welt schaut darauf, ob und wie wir unsere Hausaufgaben machen. Unsere Nachbarn in Ost und West erwarten - wie es Boris Jelzin einmal formuliert hat -, daß die Deutschen in Europa ihre Funktion wahrnehmen. Sie erwarten, daß wir in der internationalen Liga nicht absteigen, sondern um die Meisterschaft kämpfen. Und genau das müssen wir tun.

 

Meine Damen und Herren, heute sind wir dabei, das Haus Europa zu bauen. Wir haben das Geschenk der Deutschen Einheit mit Zustimmung all unserer Nachbarn in Frieden und Freiheit erhalten. Das ist vorher für viele unvorstellbar gewesen. Ich zitiere immer wieder einen Satz, den ich Anfang der fünfziger Jahre als junger Student von Konrad Adenauer gehört habe: Deutsche Einheit und europäische Einigung - das sind zwei Seiten derselben Medaille. Wir werden den Frieden und die Freiheit im nächsten Jahrhundert nur sichern können, wenn wir das Haus Europa bauen. Wir sind das Land mit den meisten Nachbarn und mit über 80 Millionen Einwohnern auch das bevölkerungsreichste Land in Europa. Nicht zuletzt aufgrund unserer Geschichte steht es uns gut zu Gesicht, bescheiden aufzutreten. Wir sollten alles dafür tun, um ein Bild Deutschlands in die Welt zu tragen, das von Weltoffenheit und Mitmenschlichkeit geprägt ist.

 

Meine Damen und Herren, wir brauchen Europa als wetterfestes Haus mit einem stabilen Dach, in dem alle Völker Europas je nach ihren Bedürfnissen ihre Wohnung finden - mit einem Dauerwohnrecht für unsere amerikanischen Freunde. Wir bauen dieses Haus mit einer Hausordnung, so daß Streit und Auseinandersetzungen, die selbstverständlich bei Sach- und Interessenfragen auftreten, zivilisiert ausgetragen werden können; wir bauen es mit einer Wirtschaftsordnung, die offen ist für den Handel mit anderen Teilen der Welt.

 

Zur Zukunftssicherung Europas gehört auch die europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Der Euro kommt. Wir werden im Mai nächsten Jahres über den Kreis der Teilnehmer entscheiden, die von Beginn an dabei sein werden. Wir wollen, daß die Stabilitätskriterien eingehalten werden, denn wir wollen eine dauerhaft stabile europäische Währung. Dies ist für uns Deutsche nicht irgendein Thema. Die Frage der Stabilität ist für uns von höchster politischer Bedeutung. Deshalb habe ich eine Bitte an unsere ausländischen Gäste: Wenn Sie über die Einstellung der Deutschen zu ihrer Währung reden, dann denken Sie doch auch daran, daß die Deutschen in diesem Jahrhundert zweimal die Zerstörung ihrer Währung erlebt und viele von ihnen alle Ersparnisse verloren haben.

 

Mein Großvater hatte seine geringen Ersparnisse in Kriegsanleihen des Kaisers investiert, in der sicheren Erwartung, daß der Kaiser das Geld wieder zurückzahlen würde. Aber der Krieg wurde verloren, am Ende gab es keinen Kaiser mehr - und auch keine Rückzahlung der Anleihen. Dann kamen die schwierigen Jahre der Weimarer Republik, in der Millionen Menschen durch die Hyperinflation ihr gesamtes Vermögen verloren haben. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches und dem Ende des Zweiten Weltkrieges war nahezu alles zerstört: die Städte und Gemeinden ebenso wie die Fabriken. Ein Drittel der Fläche des deutschen Reiches ging verloren. Hinzu kamen die Teilung des Landes und die Schande, die die Nazis über uns gebracht haben. Das muß man sich vor Augen halten.

 

Es war die Stunde Null in unserem Land, nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im moralischen Sinne. Die D-Mark, 1948 eingeführt und von vielen als ein "Besatzungskind" ohne große Zukunft betrachtet, hat sich neben dem Dollar und dem Yen zu einer der großen Währungen der Welt entwickelt. Es gab sie noch vor der Bundesflagge, vor unserer Nationalhymne und vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Vor diesem Hintergrund bitte ich unsere ausländischen Gäste zu verstehen, daß wir das Thema Stabilität sehr ernst nehmen. Nicht, um andere zu ärgern, sondern weil 50 Jahre D-Mark für Millionen Deutsche die Verkörperung von Stabilität, Frieden und Freiheit sind.

 

Auch bei der Deutschen Einheit hat die D-Mark eine wichtige Rolle gespielt. So erinnere ich mich noch sehr gut an meinen Besuch im März 1990 in Leipzig. Bei meiner Begrüßung dort sah ich ein riesiges Transparent mit dem Text: "Wenn die D-Mark nicht nach Leipzig kommt, dann gehen die Leipziger zur D-Mark."

 

All dies prägt die psychologisch-mentale Situation der Deutschen, wenn wir über den Euro reden. Deswegen kämpfen wir leidenschaftlich für einen stabilen Euro. Daß er kommt, ist wichtig für die Wirtschaft, für die Arbeitsplätze - es ist wichtig für die innere Gestaltung Europas. Es ist eine gute, eine richtige Entscheidung - eine Entscheidung für Frieden, Stabilität und soziale Sicherheit im 21. Jahrhundert. Ich wäre froh, wenn diese Botschaft auch von hier aus weitergetragen würde.

 

Ihnen allen wünsche ich auf der ANUGA 1997 gute Geschäfte, viele Gespräche und neue Partner. Ich wünsche Ihnen gute Erfahrungen in der wunderschönen Stadt Köln und in einem Deutschland, das - bei all seinen Problemen - mitten im Aufbruch ist. Ich erkläre die ANUGA 1997 für eröffnet.

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 93. 25. November 1997.