Herr Präsident, meine Damen und Herren,
ich freue mich, daß in der SPD-Fraktion bei meinem bloßen Auftauchen sofort Bewegung zu verzeichnen ist. Denn heute war bislang nicht viel Bewegung bei Ihnen.
Die Generalaussprache zum Etat des Regierungschefs sei die Stunde der Opposition, so wird immer gesagt. Das ist gute parlamentarische Tradition. Wenn ich mich daran erinnere, was ich, was wir alle gehört haben - ich verweise besonders auf das, was die Kollegen Scharping und Fischer gesagt haben -, dann hat, muß ich sagen, Wolfgang Schäuble schon recht: Wir leben offenbar in zwei verschiedenen Ländern. Wenn man Ihre alten Verelendungstheorien hört, dann weiß man nicht, wo sich die Deutschen heute aufhalten. Ich kann Ihre Theorien nicht bestätigen, und ich lebe doch so wie Sie in diesem Land.
In ein paar Punkten habe ich allerdings heute etwas dazulernen können. Ich fand es sehr gut, daß der Sprecher der Grünen, Herr Fischer, den Sozialdemokraten Mut zugesprochen hat, daß er sie aufgefordert hat, an die Zukunft zu glauben. Das war immerhin etwas.
Herr Scharping hat in seiner Rede einen weiten Weg von der Antike über den Heiligen Augustinus bis zu Augstein genommen. Das ist eine Reihe, die ich nicht nachvollziehen kann. Aber eines ist bei diesen Äußerungen deutlich geworden: Weder die Sozialdemokraten - jedenfalls nicht ihre Sprecher - noch der Sprecher der Grünen haben einen Beitrag, der realisierbar ist, zu den Themen, die wir an der Schwelle des 21. Jahrhunderts zu lösen haben, mitgebracht. Sie wollen einfach nicht zugeben, wie dramatisch sich die Welt, in der wir leben, verändert hat, und daß wir - was immer gestern oder vorgestern war - dieser dramatischen Veränderung Rechnung tragen müssen.
Ich glaube nicht, daß Sie mit dieser Politik, die Sie hier gemeinsam vertreten - es ist ja das erklärte Ziel, daß Sie mit Rot-Grün und möglichst mit Unterstützung, laut oder leise, der PDS
(Widerspruch bei der SPD)
- das ist doch nun ganz eindeutig - an die Macht wollen -, den Zukunftsvisionen Rechnung tragen werden.
Wir haben doch den Modellfall vor Augen. Dieses Haus und die Bundesstadt Bonn liegen mitten in Nordrhein-Westfalen. Wenn ich die Nachrichten und Meldungen eines jeden Tages lese, so soll das doch ein Modell für Bonn sein. So ist es doch angepriesen worden. Was ist das jetzt, was in Nordrhein-Westfalen stattfindet? Ein permanenter Vorgang der Reformverweigerung, der Perspektivlosigkeit und des Mißmuts. Das ist der Beitrag, der von dort kommt.
Nordrhein-Westfalen ist immer noch das größte und wichtigste Bundesland. Es kann uns bei allem Respekt vor föderalen Strukturen nicht gleichgültig sein, was in diesem wichtigen Industrieland und vor allem in diesem Zentrum an Rhein und Ruhr vonstatten geht. Es ist doch offenkundig, daß die Arbeitnehmer an Rhein und Ruhr für diese völlig verfehlte Politik die Zeche bezahlen. Ich sage Ihnen: Wir werden alles tun, damit die Menschen in Deutschland begreifen, daß das Modell, das wir in Düsseldorf sehen, völlig ungeeignet ist, die Zukunft Deutschlands zu sichern.
Ich will bei diesem Anlaß gerne die Gelegenheit wahrnehmen, ein Wort zu den Gewerkschaften zu sagen, weil ich meine, daß es wichtig ist, uns darüber auszusprechen. Denn die Gewerkschaften sind ein wichtiger Bestandteil der deutschen Gesellschaft. Wenn ich dies sage, so habe ich im Verhältnis zu den Gewerkschaften nie in der Illusion gelebt, daß ich dort sozusagen erste Wahl bin. Ich habe erleben müssen - auch noch in der Zeit meiner Amtsvorgänger aus der Union -, daß die Gewerkschaften vor Bundestagswahlen große Aufrufe verfaßt haben, uns nicht zu wählen. Ich sage Ihnen ganz einfach: Wenn wir bei der Arbeitsteilung bleiben und sie sagen, wählt uns nicht, die Leute dies aber tun, so ist dies eine gute, geordnete Entwicklung für die Zukunft.
Ich habe viel Respekt vor dem Recht auf Demonstrationen. Das ist ein Grundrecht in einer freiheitlichen Demokratie. Aber wenn man solche Demonstrationen veranstaltet, so finde ich, sollte man wenigstens auch bei den Tatsachen bleiben und sollte einmal, wenn man das Banner der Loyalität und der Solidarität mit den Arbeitnehmern entrollt, zu dem sprechen, was man als eigenen Beitrag dazu leistet. Mit roten Fahnen und Feldgeschrei ist den Arbeitslosen in Deutschland nicht zu helfen. Es ist überhaupt kein Problem auf diese Weise zu lösen.
In unserer Erinnerung ist doch das Bild präsent, wie 1983 ein Teil derer, die da jetzt geredet haben - auch aus Ihrem Lager -, auf Straßen und Plätze zogen und gegen die Stationierung der Mittelstreckenwaffen protestiert haben. Wenn wir damals Ihrer Politik gefolgt wären, hätte es die deutsche Einheit nie gegeben, Abrüstung nie gegeben, hätten wir die - in der damaligen Zeit unvorstellbare - weltweite Friedenspolitik nicht auf den Weg bringen können.
Ich respektiere das, was die Gewerkschaften sagen. Wir müssen es natürlich auch ertragen, wenn sie gegen uns oder gegen mich demonstrieren. Aber das ist nicht mein Thema. Ich wünsche mir nur eines: daß die Gewerkschaftsführungen - es gibt hier sehr nachdenkliche und gute Stimmen, auch heute noch, trotz aller Demonstrationen - mit uns, die wir in manchen Punkten anderer Meinung sind, auch in Zukunft bereit sind, zu sprechen, zu diskutieren und zu Ergebnissen zu kommen.
Wir brauchen auf diesem Weg in das 21. Jahrhundert starke Gewerkschaften und starke, auch aktionsfähige Unternehmerverbände. Das gehört auch dazu. Dazu gehört, Herr Kollege, daß die Gewerkschaften und die Unternehmer fähig sind, Veränderungen bei den Flächentarifen vorzunehmen. Dazu gehört aber nach meiner Überzeugung nicht, Flächentarife abzuschaffen. Auch das ist ein Unterschied, den ich hier deutlich ausgesprochen haben möchte.
Mit anderen Worten, meine Damen und Herren: Ich werde auch in Zukunft das Gespräch mit den Gewerkschaften suchen. Das entspricht unserer Tradition und unserer Vorstellung. So wird es auch bleiben.
Die Repräsentanten der Gewerkschaften wie auch Sie im Hause haben in Wahrheit doch erkannt - das zeigt die Debatte heute -, daß bei allem Protest, der kommt und inszeniert wird, der teilweise auch verständlich ist, die große Mehrheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger längst erkannt hat, daß um der Sicherung der Zukunft willen Veränderungen - und das heißt auch einschneidende Maßnahmen - notwendig sind. Wolfgang Schäuble hat ja die neuesten Umfragedaten bekanntgegeben.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, Noelle-Neumann!)
- Die Umfragedaten gefallen Ihnen nicht, aber sie sind doch da. Im übrigen werden wir irgendwann bei Wahlen abmessen können, inwieweit Sie sich mit den Daten auseinandersetzen. Jedenfalls sind es erheblich über 60 Prozent der Bevölkerung - das entspricht auch der Erfahrung, die jeder von uns draußen im Land macht -, die bei aller Kritik sagen, daß etwas in diese Richtung geschehen muß.
Im übrigen brauchen Sie keine Umfragen. Wenn Sie durch das Land gehen und sehen, an wie vielen Orten jetzt - in den allermeisten Fällen mit Billigung der Gewerkschaften - Betriebstarife abgeschlossen werden, wie es möglich ist, sich über Dinge zu einigen, bei denen es vor drei Jahren völlig undenkbar war, sie auch nur zu diskutieren, dann wissen Sie, daß das eine vernünftige Entwicklung ist. Deswegen bin ich dafür, daß wir auf diesem Weg weiter vorangehen, auch wenn das Feldgeschrei noch so groß ist.
Auch das ist doch wahr: Die allermeisten Ihrer Ministerpräsidenten in den Bundesländern haben längst begriffen, daß es gar nicht darum geht, den Sozialstaat zu demontieren - hören Sie doch mit diesen altmodischen Sprüchen auf -, sondern daß es darum geht, den Sozialstaat zu sichern und zukunftssicher zu machen. Die meisten von denen, die ich eben angesprochen habe, hätten ja das Thema auch längst aufgegriffen, wenn sie nicht aus ihrem Parteiverständnis heraus vorerst daran gehindert worden wären oder sich gehindert gesehen hätten, dieses Thema jetzt aufzunehmen.
Am Freitag dieser Woche, irgendwann gegen 15 Uhr, wird hier abgestimmt. Dann werden Sie sehen, daß eine klare Mehrheit die richtige Entscheidung trifft und eine ganze Reihe von Kollegen aus den Bundesländern, die Sozialdemokraten sind, sagen: So, jetzt haben wir genug gezeigt, daß wir einig sind, auch wenn der Weg falsch ist; jetzt gehen wir den richtigen Weg und führen vernünftige Gespräche.
Eigentlich, meine Damen und Herren, ist das auch gar keine Frage des parteipolitischen Streits. Jeder, der sich die Welt genau betrachtet, wird mir zustimmen, wenn ich sage: Die dramatischen Veränderungen in der Weltwirtschaft erfordern Konsequenzen in einer Volkswirtschaft wie der deutschen. Geld und Technologien, Informationen und Waren überwinden Grenzen mit einer Leichtigkeit und Geschwindigkeit wie nie zuvor.
Zwischen 1964 und 1994 steigerten die Industrieländer die Produktion jährlich um neun Prozent, die Ausfuhr weltweit um zwölf Prozent und grenzüberschreitende Bankkredite um 23 Prozent. Die ausländischen Direktinvestitionen der Industrieländer erhöhten sich seit Mitte der 80er Jahre mit Raten von bis zu 30 Prozent pro Jahr.
Die Gewichte haben sich verschoben. Der Anteil der asiatischen Länder - ohne Japan - am Welthandel lag damals bei acht Prozent, jetzt liegt er bei rund 20 Prozent. Er hat sich mehr als verdoppelt. Und jetzt kommt die Zahl, die uns doch eigentlich beunruhigen muß: Der deutsche Anteil ist im gleichen Zeitraum von gut zehn Prozent auf rund neun Prozent geschrumpft. Das heißt, wir haben mit dem Wachstum anderer nicht mithalten können, sondern es ging zurück.
(Hans-Peter Kemper [SPD]: Wer regiert denn?)
- Das ist ja nun wirklich absurd. Wir haben doch Tarifautonomie. Ich sage es ja auch gar nicht anklagend. An diesen Entwicklungen haben nahezu alle in irgendeiner Form mitgewirkt.
Schauen Sie sich doch einmal den Unterschied bei den Lohnkosten an! Die Arbeitsstunde eines Facharbeiters im Druckereibereich, entsprechend den jeweiligen Tarifen, kostet bei uns in Deutschland 51 D-Mark, in England 25 D-Mark, in Ungarn 9 D-Mark. Die vergleichbare Zahl in Prag ist ähnlich. Das hat doch Konsequenzen, darüber muß man doch reden. Es hat doch nichts mit Sozialabbau zu tun, wenn wir sagen, wir müssen besser werden; denn jeder von uns weiß, daß wir die Löhne nicht absenken können. Jeder von uns weiß auch, daß die anderen ihre niedrigen Löhne nicht halten werden. Aber wir müssen auf diesem Feld mehr tun.
In meiner Nachbarschaft, in Baden, schlägt die Sonntagsnachtschicht in einer Druckerei mit 700 D-Mark zu Buche. Wenige Kilometer entfernt, im Elsaß, sind es 350 D-Mark. Sie müssen also nicht nach Asien gehen. Sie können in derselben Region bleiben, wo die Menschen die gleiche Mundart sprechen, und auch da haben wir diese Unterschiede.
Wir haben erhebliche Veränderungen im Altersaufbau unserer Bevölkerung. Das ist unübersehbar. Das hat doch Folgen für Arbeitsmarkt und Sozialsysteme. Das ist keine Frage des Sozialabbaus. Gegenwärtig sind rund 15 Prozent unserer Bevölkerung über 65 Jahre. In über 30 Jahren wird der Anteil auf 27 bis 30 Prozent angestiegen sein. Es ist doch nicht zu leugnen, daß das bei den Beitragszahlern bis hin zu den Rentenbeziehern elementare Auswirkungen haben muß.
Wenn ich diese Punkte nenne, dann ist auch wahr, daß alle unsere Nachbarn daraus Konsequenzen ziehen. Ich brauche jetzt gar nicht die Sozialsysteme im einzelnen zu vergleichen, aber in etwa sind doch die Niederlande, Schweden, Frankreich oder andere in bezug auf bestimmte Positionen mit uns vergleichbar. In all diesen Ländern ist man auf dem Weg zur Lösung dieser Fragen unterwegs, egal ob der Ministerpräsident oder der Staatspräsident dieser oder jener Partei angehört. Wenn wir also darüber reden und Vorschläge machen - und wenn Sie keine Vorschläge machen -, dann müssen Sie doch wenigstens den Vorwurf ertragen, daß Sie sich aus der Verantwortung verabschiedet haben.
Das ist nicht nur eine Frage der deutschen Innenpolitik. Deutschland ist mehr als jedes andere Land, zumindest in Europa, darauf angewiesen - weil wir geopolitisch und geographisch in Europa die Mitte darstellen -, daß die Nachbarn zu uns Vertrauen haben, und zwar in vielfältiger Hinsicht. Vertrauen hat auch etwas zu tun mit wirtschaftlicher Stabilität. Ich mag das Wort nicht, wonach die deutsche Volkswirtschaft Traktor der Entwicklung für andere Länder ist. Aber es ist doch unübersehbar - ich werde es nachher am Beispiel Tschechien deutlich machen -, wie sehr unsere Beziehungen miteinander verwoben sind. Wir sind mit einer Einwohnerzahl von 80 Millionen, ob es uns gefällt oder nicht, von besonderer Bedeutung in Europa. Wir sind ein stark exportorientiertes Land, und wir haben - das ist doch ganz unbestreitbar - große Chancen, wenn wir nur bereit sind, sie zu nutzen, und wenn wir uns jetzt dieser Aufgabe stellen.
Sehen Sie, Herr Scharping, ich habe mir nur eine einzige Zahl mitgeschrieben, weil sie so unglaublich war. Ich habe mich jetzt einmal genau vergewissert, wie die Lage ist. Ich meine den Vergleich mit dem mexikanischen Industriearbeiter. Nun bin ich kein Spezialist auf diesem Gebiet und daher auf die Hilfe anderer angewiesen. Nach den Daten im Handbuch der OECD hatte ein deutscher Industriearbeiter, der verheiratet ist und zwei Kinder hat, 1994 einen Nettojahresverdienst von 41000 D-Mark. Ein entsprechender mexikanischer Industriearbeiter hatte im selben Jahr einen Nettojahresverdienst von 5500 D-Mark; das ist ein Siebtel.
Das hat meine klugen Mitarbeiter nicht ruhen lassen. Es gibt nämlich sehr viel bessere Beispiele. Sie haben dann dort angerufen, wo einer Ihrer politischen Freunde regelmäßig Einsichten und Unterstützung bekommt, nämlich in Wolfsburg. Es gibt eine Automobilfabrik in Wolfsburg, und eine Automobilfabrik gleichen Namens gibt es auch in Mexiko. Im vergleichbaren Fall - Industriefacharbeiter, verheiratet, zwei Kinder - beträgt der Nettolohn in Mexiko - das ist für mexikanische Verhältnisse ein Superlohn - knapp 9000 D-Mark und in Wolfsburg 50000 D-Mark.
(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Brutto oder netto?)
- Ja, das habe ich ja schon gesagt; das weiß inzwischen auch Herr Scharping
Vom Sprecher der PDS haben wir soeben seine steuerpolitischen "Visionen" gehört. Die Steuervorstellungen, die er eben hier entwickelt hat, bedeuten, daß der Industriefacharbeiter in Wolfsburg mit 50000 D-Mark schon zu den Spitzenverdienern gehört. Aber dies nur nebenbei; wir brauchen nicht länger dabei zu verweilen.
Mit einem Wort, Herr Scharping: Lassen Sie uns doch nicht mit solchen Argumenten arbeiten! Ein mexikanischer Industriefacharbeiter weiß ganz eindeutig, daß sein Kollege in Wolfsburg mehr verdient; der Arbeiter in Wolfsburg will auch nicht mit seinem Kollegen in Mexiko tauschen.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: | |
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scharping? | |
Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Bitte schön. | |
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte, Herr Scharping. | |
Rudolf Scharping (SPD): | |
Herr Bundeskanzler, könnten Sie zur Kenntnis nehmen, daß ich alle diese Vergleiche überhaupt nicht bestreite und daß es dennoch nach derselben, von Ihnen so gern zitierten Statistik der OECD eine Wahrheit bleibt - darauf habe ich Bezug genommen -, daß in Deutschland der Staat prozentual dem verheirateten Industriearbeiter mehr nimmt als der mexikanische Staat? | |
Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: | |
Herr Kollege Scharping, darf ich mir einfach nur den freundschaftlichen Rat erlauben, daß Sie die Frage noch einmal überdenken. Ich glaube nicht, daß es einen Sinn macht, diese Debatte weiterzuführen. Sie sind nicht irgend jemand in diesem Haus; Sie sind der Vorsitzende der größten Oppositionsfraktion. Deswegen will ich es bei diesem Satz bewenden lassen. | |
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: | |
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Scharping? | |
Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: | |
Nein, Herr Präsident. Ich möchte diese Diskussion jetzt nicht führen. Ich stehe dem Kollegen Scharping nach der Debatte aber gern zur Verfügung. |
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Koalition und die Bundesregierung haben im 50-Punkte-Programm für Wachstum und Beschäftigung eine Grundlage gelegt, um die Zukunftsprobleme zu lösen. Wir haben zu keinem Zeitpunkt die Behauptung aufgestellt, daß das, was wir vorschlagen, letztendlich alleinseligmachend ist. Wir sind immer gerne bereit, neue Ideen nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern sie auch zusammenzubringen.
Ich hoffe, daß nach der Abstimmung am Ende dieser Woche ein vernünftiges Gespräch auch mit den Bundesländern im Bundesrat - und über diesen Weg sicherlich auch mit der Sozialdemokratischen Partei - möglich sein wird. Ich will das noch einmal ganz konkret sagen.
Wenn wir über Standortbestimmung reden, müssen wir davon sprechen, wo wir heute stehen. Die neuen Wachstumszahlen sind erfreulich. Sie bestätigen, daß die Konjunktur im zweiten Jahresteil anzieht. Es ist wahr, daß sich die Voraussetzungen in vielen Feldern verbessert haben. Wir haben praktisch Preisstabilität. Das ist im Blick auf die soziale Situation der Menschen einer der wichtigsten Beiträge zur sozialen Stabilität. Die Zinsen sind auf einem historischen Tiefstand.
Wir haben - ich habe die Gewerkschaften in diesem Zusammenhang nicht ohne Grund gelobt - in diesem Jahr Tarifabschlüsse zu verzeichnen, die mehr an der Konkurrenzsituation und der Beschäftigungslage orientiert sind als vieles andere.
Die D-Mark-Aufwertung vom Frühjahr 1995 ist mittlerweile deutlich zurückgegangen, was für die Exportlage Deutschlands von größter Bedeutung ist. Wir haben einen erfreulichen, weiterhin soliden Aufwärtstrend im Welthandel. Das ist gut für unseren Export.
Aber all dies kann uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß das zentrale Problem bleibt: Das ist die bedrückend hohe Arbeitslosigkeit, die nicht akzeptabel ist. Deswegen muß diese Frage im Mittelpunkt all unserer Überlegungen stehen.
Wir wissen auch, daß ein Wiederanziehen der Konjunktur nicht ausreicht - hier hat sich etwas geändert -, um Arbeitslosigkeit abzubauen, daß für mehr Wachstum und Beschäftigung vielmehr zusätzliche strukturelle Impulse notwendig sind. Das ist eine Anstrengung, der sich alle unterziehen müssen: die Arbeitgeber, die Gewerkschaften genauso wie die Politik. Wenn ich sage Politik, dann heißt das nach unserer Verfassungsordnung Bund, Länder und Gemeinden.
Wir haben - das ist keine Erfindung der Bundesregierung, sondern eine gemeinsame Entschließung der Führung der Gewerkschaften, der Führung der Repräsentanten der deutschen Industrie und der Bundesregierung - uns das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2000 die Zahl der Arbeitslosen zu halbieren. Das ist ein enorm ehrgeiziges Ziel. Aber wenn wir nicht den Ehrgeiz haben, dieses Ziel zu erreichen, haben wir vor dieser großen Aufgabe schon abgedankt. Das ist inakzeptabel.
Im übrigen erinnere ich angesichts der vielerorts verbreiteten Miesmacherei daran, daß wir zwischen 1983 und 1989 rund drei Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen haben; zugegebenermaßen in einer anderen Lage, aber auch damals hieß es: Das schafft ihr nie. Ich habe eine sehr konkrete Erinnerung: Nach dem Wechsel hier in Bonn hatten wir Landtagswahlen in Hessen. Das Argument einer Verelendung ist damals in Hessen von den Sozialdemokraten immer wieder vorgetragen worden.
Die folgerichtige Antwort für uns lautet, das Land fit zu machen für das nächste Jahrhundert. Wir brauchen dafür ein ganzheitliches Denken, und wir müssen die entsprechenden Maßnahmen in allen Bereichen vorantreiben. Wir werden das versuchen, und dort, wo wir Ihre Unterstützung brauchen und Ihre Verantwortung besonders gefragt ist - im Bundesrat -, bitte ich ausdrücklich darum - was auch immer jetzt gesagt wird -, dieses neu zu bedenken. Wolfgang Schäuble hatte recht, als er davon sprach, daß der, der jetzt auf Zeit spielt, den sich jetzt abzeichnenden Aufschwung schädigt und Investitionen und neue Arbeitsplätze verhindert.
Man kann es nicht oft genug sagen: Der OECD-Bericht müßte jeden - er wurde gerade zitiert, aber weil er so interessant ist, zitiere ich ihn noch einmal - überzeugen. Die OECD schreibt den Deutschen ins Stammbuch:
Das neue Programm der Bundesregierung stellt einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung dar, es muß aber voll umgesetzt und
- jetzt kommt der Satz -
wahrscheinlich auch noch verstärkt werden, wenn die deutsche Wirtschaft das gesamte Potential einer hochqualifizierten und motivierten Bevölkerung ausschöpfen soll.
Natürlich wissen Sie bei allem Streit um Einzelheiten so gut wie ich, daß die OECD recht hat. Sie wissen so gut wie ich, daß das, was jetzt erforderlich ist, nicht heißen kann, daß wir sparen um des Sparens willen, sondern um den Weg in die Zukunft zu finden.
Mehr Arbeitsplätze und eine gute Zukunft werden wir nur gewinnen, wenn nicht, wie bisher, jede zweite hier erwirtschaftete Mark vom Staat verteilt wird. So einfach und so klar ist das. Deswegen muß unser Ziel bleiben, daß wir, wie wir es uns vorgenommen haben, bis zum Jahre 2000, wiederum mit Blick auf die Staatsquote, wenigstens auf die Größenordnung kommen, die wir im Jahr der Wiedervereinigung mit 46 Prozent erreicht hatten.
(Ministerpräsident Oskar Lafontaine [Saarland]: Und dann wird der Aufschwung beschlossen?)
- Ich habe nicht gesagt, daß dann der Aufschwung beschlossen ist. Das sind alles Schritte auf diesem Weg. Natürlich werden wir im Jahre 2000 ein Stück weiter auf dem Weg Aufbau Ost sein, aber wir werden auch dann noch erleben, daß es Bereiche gibt, in denen es länger dauert. Aber das ist eigentlich kein Grund zum Jammern. Ich bin glücklich, daß wir diese Notwendigkeit haben.
Wir müssen - dafür können wir eine Menge gemeinsam tun - einfach die Erkenntnis ziehen, daß neue Arbeitsplätze in größerer Zahl nicht von den Großbetrieben geschaffen werden können, die als multinationale Unternehmen einen Teil ihrer Sicherung im internationalen Bereich sehen müssen. Dazu gehören Unternehmen, die in Asien, in der Volksrepublik China oder sonstwo investieren, um insgesamt stabil zu bleiben. Das ist kein Gegensatz.
Zusätzliche Arbeitsplätze müssen im mittelständischen Bereich geschaffen werden. Deswegen ist es kein Schlag gegen die soziale Stabilität, wenn wir sagen, daß man das Kündigungsrecht umgestalten muß, damit in diesen Bereichen neue Arbeitsplätze entstehen.
Die deutschen Sozialdemokraten waren doch über eine lange Zeit hindurch eine Partei, die sich in einer besonderen Weise und mit großer Sympathie um das Handwerk kümmerte. Sprechen Sie doch in irgendeiner Handwerkerversammlung einfach einmal mit den Leuten, die vier, fünf Mitarbeiter haben und die in vielen Bereichen mehr Aufträge annehmen könnten, deren Problem im Regelfall nicht die Auftragslage, sondern die Zwischenfinanzierung ist. Hören Sie, was Ihnen diese Leute zu diesem Thema sagen.
Dies ist kein Anschlag auf die soziale Stabilität, sondern ein Akt der Vernunft. Das Handwerk hat uns in einer Umfrage vorgelegt, daß rund 80000 Handwerksbetriebe bereit seien, sofort bis zu drei Mitarbeiter einzustellen, wenn bestehende Schwellenwerte angehoben würden. Das wären doch 240000 zusätzliche Arbeitsplätze. Welchen Grund haben Sie eigentlich, die Ansichten, Bonität und Überzeugung eines Handwerksmeisters, der drei Leute hat und eine solche Erklärung abgibt, zu bezweifeln? Wer gibt Ihnen dieses Recht?
Natürlich gehört zu einer solchen Entwicklung auch eine grundlegende Steuerreform. Daß bei einer Steuerreform, bei der so viele Interessen im Spiel sind, viel geredet wird, auch manches Unnötige, steht außer Frage.
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wen meinen Sie denn?)
- Beispielsweise Sie, wenn Sie es unbedingt wissen wollen. Ich glaube nicht, gnädige Frau, daß Sie einen Nachholbedarf in dieser Richtung haben. Ich meine schon, auch Sie und andere können sich betroffen fühlen. Ich schließe mich da mit ein; damit habe ich kein Problem.
Überlegen Sie doch einmal, um was es geht! Wir haben beschlossen - das müßte eigentlich wiederum Ihre Unterstützung finden -, daß sich jetzt eine Arbeitskommission der Bundesregierung mit Sachverständigen zusammensetzt und bis Ende dieses Jahres - kürzer geht es nun wirklich nicht - einen Vorschlag erarbeitet. Dann betreibt die Bundesregierung die öffentliche Diskussion mit Anhörungen und all dem, was dazugehört. Wir müssen Gespräche - Steuerreform ist doch gar nicht anders denkbar - mit den Bundesländern, mit den kommunalen Spitzenverbänden, mit den Fachbereichen und vielen anderen mehr führen. Da ist doch die große Stunde für die SPD gekommen, über die Bundesländer, über die Bundestagsfraktion daran teilzunehmen. Dann lassen Sie uns doch miteinander streiten, was der bessere Weg ist.
Mein Ziel ist - ich sage es noch einmal -, alles zu tun, daß diese Gesetzgebung bis Ende 1997 abgeschlossen ist. Das heißt für mich: ein Gesetz, das die Unterschrift des Bundespräsidenten trägt, also amtlich verkündet ist. Wir wollen eine neue Kultur der Unternehmensgründung forcieren. Jeder, der in Deutschland investiert und sich etwas vornimmt - etwa ein neues Unternehmen zu gründen -, muß wissen, was auf ihn zukommt. Übrigens ist es auch nützlich, wenn dies der Wähler vor der nächsten Bundestagswahl weiß. Das ist ein Vorschlag. Ich verstehe gar nicht, warum es da eine solche Aufregung gibt. Lassen Sie uns doch dann um den besten Weg miteinander ringen!
Genau das gleiche gilt für das Thema "Umbau des Sozialstaats". Die meisten hier im Saal wissen doch - nach dem, was wir von Herrn Gysi gehört haben, weiß er es vielleicht nicht -, daß der Sozialstaat nur so gut sein kann wie sein wirtschaftliches Fundament. Das heißt, wir brauchen möglichst viele Mitarbeiter in den Unternehmen - das sind letztlich auch Steuerzahler. Wenn sich die Rahmenbedingungen entsprechend verändern, hat das doch Konsequenzen. Ich habe mit großem Interesse den Beschluß der Hamburger SPD vor ein paar Tagen gehört; er ist, wie ich finde, leider nicht genug publiziert worden. Auch da war plötzlich eine ähnliche Formulierung, wonach sich Arbeit mehr lohnen müsse als Nichtarbeit. Wenn ich das gesagt habe, war das immer gleich "Sozialdemontage". Was gab es für ein Feldgeschrei im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung! Das ist doch ein praktisches Beispiel dafür, daß es eben nicht um Abbau, sondern um Umbau in unserem Gemeinwesen geht.
Unstreitig ist eigentlich auch, daß wir die Lohnzusatzkosten vermindern wollen. Auch da haben wir uns ganz konkrete Ziele gesetzt. Jetzt stilisieren Sie ein Thema - Wolfgang Schäuble sprach schon davon - schlechthin zum Anschlag auf den Sozialstaat hoch. Es geht um die 100prozentige Lohnfortzahlung. Wolfgang Schäuble hat recht, es gibt sie in keinem anderen Land, alle haben Relativierungen vorgenommen. Außerdem ist es wahr, daß durch Verzicht auf einen Urlaubstag bei fünf Krankheitstagen Lohneinbußen vermieden werden können. Wir müssen zur Kenntnis nehmen: Als das Lohnfortzahlungsgesetz von 1959 nach schweren Auseinandersetzungen endlich zustande kam - ich bekenne mich dazu -, betrug der Jahresurlaub drei Wochen. Jetzt beträgt der Jahresurlaub sechs Wochen. Das ist doch ein elementarer Unterschied auch im Sinne der Verbesserung der Lage der Arbeitnehmer. Das kann man doch nicht so einfach abtun.
Es ist auch unbestreitbar - Sie können das doch nicht leugnen -, daß sich im Blick auf die Alterssicherung die Dinge elementar verändert haben. Als Otto von Bismarck die Rentenversicherung einführte und das Rentenalter auf 65 Jahre festgelegt wurde, lag die durchschnittliche Lebenserwartung des Mannes bei 45 Jahren. Jetzt beträgt sie 75 Jahre.
Wenn sich unter Vorsitz von Norbert Blüm eine Kommission von erstklassigen Fachleuten an das Werk macht und das Thema "soziale Sicherungssysteme" auf den Prüfstand stellt, dann werden wir im neuen Jahr - ich hoffe, das wird bis Januar, Februar sein - über dieses Thema eine Vorlage haben und mit Ihnen sowie allen Interessierten darüber diskutieren. Ich setze hier auch darauf, daß die Gewerkschaften ein Wort dazu äußern.
Aber wenn wir darüber sprechen, müssen wir doch alle von den Realitäten ausgehen. Die Realität ist eben, daß es eine enorme Veränderung unseres Landes gibt. Wenn in einer deutschen Großstadt rund 50 Prozent der Wohnungsinhaber Singles sind, hat das enorme Wirkungen auf Lebensgewohnheiten und Lebensentscheidungen. Wenn die Zahl der über 80jährigen in wenigen Jahren auf fast vier Millionen steigt, hat das Wirkungen auf das Gesundheitssystem und auf vieles andere. Wenn das alles richtig ist - Sie können das doch nicht bestreiten -, heißt das, daß wir jetzt entscheiden müssen.
Lassen Sie uns doch darüber streiten und darum kämpfen, wer den besseren Weg hat. Ich vermute, bei gutem Willen auf allen Seiten werden wir eine Menge Dinge sogar gemeinsam tun können. Es gibt andere Fragen, bei denen Sie sagen - da mache ich Ihnen keinen Vorwurf -, sie seien so unbequem und so unpopulär, deshalb sollte die Regierung das lieber selber machen. Auch das gehört zum Bild einer Demokratie.
(Widerspruch bei der SPD)
- Aber jetzt tun Sie doch nicht so heuchlerisch, als wäre es nicht so. Wenn wir auf den Oppositionsbänken sitzen würden, wären wir vielleicht in einer ähnlichen Lage. Lassen Sie uns also vor der Bevölkerung ehrlich darüber reden, und tun Sie nicht so, als sei es nicht so.
Mit einem Wort: Wir werden ganz entschieden diesen Reformkurs fortsetzen. Dann werden wir ja sehen, welches Urteil die Bürger dazu abgeben werden. Ich möchte nur ganz nüchtern und einfach sagen: Wer da glaubt über ein Hinausschieben oder gar ein Verhindern von Entscheidungen politisches Profil gewinnen zu können, der wird sich täuschen. Die große Mehrheit im Lande ist zwar gegen alle diese Maßnahmen im einzelnen; aber in der Summe wissen die Menschen, daß es so nicht weitergehen kann, und sie werden uns als einzelne Parteien dazu befragen.
Ein klassisches Beispiel für diese Fragestellung ist - ich sage dies, weil ich darauf angesprochen wurde - das Thema Lehrstellen. Ich bin schon sehr erstaunt, Herr Scharping, was Sie dazu gesagt haben. Mein Eindruck ist, daß Sie sich nie mit diesem Thema beschäftigt haben, sonst hätten Sie solche Äußerungen nicht machen können.
Um was geht es denn? Es geht darum, daß wir mit dem dualen System ganz unbestreitbar das beste Ausbildungssystem in der Welt haben, daß dieses System nur funktionieren kann - da hat der Vorsitzende der FDP mit seinen Äußerungen völlig recht -, wenn auch die Wirtschaft es trägt. Es kann keine Zweiteilung geben: Man ist für das duale System, und, wenn es darum geht, Lehrstellen zur Verfügung zu stellen, ruft man nach dem Staat.
Natürlich können wir nicht gänzlich auf den Staat verzichten. Wie wollen Sie dieses Problem im dualen System lösen, wenn wir in weiten Teilen der neuen Länder eine entsprechende betriebliche Infrastruktur noch gar nicht haben? Übrigens: Um so gewaltiger ist beispielsweise die Leistung im Handwerk in den neuen Ländern. Hier ist eine große Zahl neuer Ausbildungsplätze geschaffen worden.
Es ist ebenfalls wahr, daß es auch zu früheren Zeiten - übrigens in Zeiten der Vollbeschäftigung - bei der Lehrstellenfrage enorme regionale Unterschiede gab. In meiner Heimatstadt war es über viele Jahre hin selbstverständlich, daß sich der Großbetrieb, der dort angesiedelt ist, im Bayerischen Wald um Nachwuchs bemüht hat und daß man damals auch mit staatlicher Hilfe Zwischenlösungen gefunden hat. Ich finde, das ist überhaupt kein Problem, wenn es vernünftig geschieht und nicht zu einer Dauereinrichtung wird.
Jetzt geht es doch darum, jungen Menschen eine Ausbildungschance zu geben. Denn ich hielte es für ein zutiefst moralisches Versagen - diesen Satz nehme ich gerne auf -, wenn ein Land von der wirtschaftlichen Statur Deutschlands seinen jungen Leuten nicht genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen könnte. Deswegen haben wir wieder große Anstrengungen unternommen - ich auch. Es ist in Ordnung, daß Sie mißgünstig beobachten, wie diese Anstrengungen eine breite Zustimmung in der Bevölkerung finden.
(Widerspruch bei der SPD)
- Ich mache es trotzdem so; ich brauche Sie dabei nicht zu fragen. Sie hätten es genauso machen können.
Wir werden auch in diesem Jahr diese Herausforderung meistern. Die, die hier einfache Patentrezepte angeboten haben, sollen mir erst einmal erläutern, wie man zu einer Regelung kommen kann, mit der man nicht gleichzeitig das Prinzip der Wahlfreiheit einschränkt.
Laden Sie doch einmal Herrn Jagoda in ihre Fraktion ein und lassen Sie sich von ihm die Lage erläutern: Ein Teil der jungen Leute meldet sich beispielsweise bei drei verschiedenen Arbeitsstellen, nimmt eine Arbeitsstelle an und denkt im Traum nicht daran, die anderen abzusagen. Deswegen ist die Terminnot jedes Jahr die gleiche. Ich bin völlig offen für Verbesserungsvorschläge, wenn diese nicht die Freiheit der Wahl einschränken. Das ist für mich ein wichtiges Prinzip.
Ein weiterer Punkt ist, daß wir zum Teil von Bildern ausgehen, die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben. In ein paar Tagen wird in Niedersachsen gewählt. Dort werden bei der Kommunalwahl die Jugendlichen mit 16 Jahren, ein klassisches Lehrlingsalter, zum erstenmal wählen. Es handelt sich also um junge wahlberechtigte Bürger. Aber in der Frage, ob ihnen an einem Berufsschultag mittags um zwölf noch zugemutet werden kann, in ihren Betrieb zurückzukehren, tut man so, als seien sie noch Kleinkinder. Das ist absurd; die Bilder stimmen doch gar nicht mehr in der Gesellschaft.
Für mich - das muß ich einmal sagen, weil die Schuld immer auf andere geschoben wird - war die unangenehmste Erfahrung, die ich dieses Jahr in meinen Gesprächen gemacht habe, daß inzwischen alle Sachverständigen der Meinung sind, rund zehn Prozent der Abgänger dieses Schulsystems seien auf Grund ihres Ausbildungsstandes nicht mehr in der Lage, einen Lehrvertrag zu erfüllen. Wolfgang Schäuble hat es schon gesagt, und ich will es wiederholen: Es handelt sich hier um normale Schulabgänger.
Man muß sich die Frage stellen: Ist dies das Ergebnis von 30 Jahren Schulreform in Deutschland? Man muß dazu bemerken, daß dies keine Angelegenheit des Bundes ist. Wenn wir 490 Millionen D-Mark aus dem Bundesetat ausgeben - eine wirklich versicherungsfremde Leistung; das will ich bei dieser Gelegenheit noch einmal nachtragen -, dann können wir doch erwarten, daß sich die Kultusministerkonferenz dieses Themas auch einmal annimmt.
Ich habe diesen Sachverhalt wirklich freundlich formuliert; ich klage auch niemanden an. Es wäre töricht zu sagen, zwischen A- und B-Ländern gebe es wesentliche Unterschiede; das will ich auch gar nicht untersuchen. Wir müssen vielmehr gemeinsam etwas tun und dürfen uns nicht mit irgendwelchen Parolen anöden.
Ein Wort zum Thema Außenpolitik: Dies gehört auch zur Debatte über den Standort Deutschland. Sie erwarten dazu vom Bundeskanzler zu Recht ein paar Bemerkungen. Wir können froh sein, daß es seit den letzten Jahren - das gilt auch für dieses Jahr - weltpolitische Entwicklungen gibt, durch die wir viele Ängste aus früheren Zeiten nicht mehr zu haben brauchen. Es ist wahr, daß wir noch eine Menge Probleme haben. Aber insgesamt ist die weltpolitische Entwicklung, soweit sie vor allem Europa betrifft, sehr viel günstiger als früher.
In unmittelbarer Nachbarschaft haben wir die Probleme im früheren Jugoslawien. Wir werden weiter unseren Beitrag leisten, um den Dayton-Friedensprozeß erfolgreich fortzuführen. In der weiteren Nachbarschaft - aber in bezug auf die Geschichte unseres Volkes doch ganz nah - haben wir die Probleme im Nahen Osten, in der Region um Israel. Wir können nur hoffen, daß sich dort die Vernunft auf beiden Seiten durchsetzt. Eines haben wir aber ganz gewiß: Wir haben eine bessere Chance auf Frieden als noch vor wenigen Jahren.
Das gilt nicht zuletzt für unseren wichtigsten Nachbarn im Osten, nämlich Rußland. Ich habe in den vergangenen Tagen die Gelegenheit zu einem recht wichtigen Gespräch mit Präsident Jelzin gehabt. Ich will hier als erstes sagen - da spreche ich sicher auch in Ihrer aller Namen -: Wir wünschen Boris Jelzin angesichts seiner Erkrankung und seiner schwierigen Operation, daß er möglichst bald wieder gesund zu seinen Amtsgeschäften zurückkehren kann.
Er ist als Präsident Rußlands hinsichtlich der Machtfülle dieses Amtes im Weltmaßstab in einer einzigartigen Lage. Deswegen ist es besonders wichtig, daß dieses Amt mit Besonnenheit, mit Weitblick und auch mit der inneren Kraft im Hinblick auf die weiterhin dringend notwendigen Reformen auf dem Weg zu mehr Rechtsstaat, zu mehr Demokratie sowie zu wirtschaftlicher und sozialer Stabilität geführt wird.
Für mich ist wichtig, daß in diesem Gespräch deutlich wurde, daß Präsident Jelzin ganz entschieden bereit ist, nach seiner Rückkehr ins Amt die notwendigen Gespräche wiederaufzunehmen und bestimmte Themen dringlicher zu behandeln, zum Beispiel die NATO-Erweiterung und die deutsch-russische Situation im Bereich der Rückgabe von Kulturgütern, um nur wenige Beispiele zu nennen.
Ich bin auch sehr froh, daß ich nach meiner Rückkehr in den telefonischen Gesprächen mit Präsident Clinton, mit Präsident Chirac und mit Premierminister Major Übereinstimmung darüber erzielen konnte, daß wir die wichtige Frage der NATO-Erweiterung jetzt auf gar keinen Fall in irgendeinem Gremium behandeln, damit in Moskau nicht der Eindruck entsteht, hier würden Faits accomplis geschaffen.
Wir sind entschieden der Meinung, daß wir diese Gespräche im neuen Jahr aufnehmen sollten, daß in der Zwischenzeit die NATO-Gremien selbst über die innere Entwicklung und Ausgestaltung der NATO sprechen sollten - die NATO des Jahres 1997 ist nicht mehr die NATO des Jahres 1987; hier müssen Veränderungen vorgenommen werden -, daß wir für eine NATO-Erweiterung mit denkbaren Kandidaten in Ost- und Südosteuropa sprechen, aber daß wir das Ganze so anlegen, daß erstens niemand, auch nicht Rußland, in dieser Frage ein Vetorecht gegenüber einem anderen Land hat, daß wir aber zweitens keine neuen Gräben aufreißen, sondern in einem vernünftigen Miteinander auch das Sicherheitsbedürfnis Rußlands, um ein Beispiel zu nennen, aber genauso das der Ukraine - das sage ich nach meinem Besuch nicht ohne Grund - mit aufnehmen.
Ich bin ziemlich sicher, daß es eine Chance gibt, vor allem dann - was ich sehr hoffe -, wenn dieses Thema nicht in den amerikanischen Wahlkampf gerät; denn das wäre mit Sicherheit keine förderliche Entwicklung.
Wir haben natürlich auch über Tschetschenien gesprochen. Der Präsident hat mir noch einmal versichert, daß er das, was dort jetzt ausgehandelt wird, von wenigen mehr marginalen Dingen abgesehen, unterstützt und daß er die entsprechenden Anweisungen gegeben hat. Ich hoffe sehr, daß diese Zwischenstation zu einem wirklichen Erfolg wird, daß das Schießen und das kriegerische Geschehen aufhören und damit auch die Leiden der Bevölkerung beendet werden.
Ich will mit einem Satz sagen: In der Frage der Rückführung von Kulturgütern wird sich, glaube ich, eine Regelung finden lassen. Dies ist ein sehr emotionales Thema nicht zuletzt im Parlament. Wir stoßen hier wieder auf die Folgen des Zweiten Weltkrieges und der Nazi-Untaten. Ich bin sicher, wir kommen hier zu Regelungen. Ich will aber gleich hinzufügen: Ich könnte mir auch vorstellen, daß wir in dem einen oder anderen Fall auch zu neuen Wegen kommen. Ich kann nicht verstehen, warum es nicht möglich sein sollte, etwas, was letztlich Kulturgut der Menschheit ist, für einige Jahre dort und dann für einige Jahre in Deutschland in einem Museum zu präsentieren. Ich glaube schon, daß wir mit einer solchen Denkweise nicht nur das Miteinander zwischen den Völkern fördern können, sondern vielleicht auch die Weltverantwortung für Kulturgüter überhaupt in eine neue Dimension bringen könnten.
Ich bin mehrfach auf das Thema Tschechien angesprochen worden. Die erste Feststellung, die ich hier treffen will: Es bleibt bei dem, was ich im Mai für die Bundesregierung gesagt habe. Wir wollen in diesem Jahr die Vereinbarung abschließen. Ich habe nie etwas anderes gesagt. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln. Ich weiß auch, daß dieses ein ungewöhnlich schwieriges Feld ist, weil es uns mit einem Abschnitt der Geschichte unseres Volkes und der Geschichte unserer Nachbarn konfrontiert, der mit Emotionen und bitteren Erfahrungen aufgeladen ist. Es leben noch viele aus der Generation, für die die Schreckensereignisse von Lidice noch präsent sind. Es leben aber auch genauso viele aus der Generation, die den Sonntag in Aussig nicht vergessen haben und all das, was dort geschehen ist. Nun können wir die Weltgeschichte nicht zurückdrehen. Wir können auch nicht als Deutsche, die wir Urheber dieser ganzen Entwicklung waren - es waren Deutsche, die die Tschechoslowakei überfallen haben, es war die Politik Hitlers -, Aufrechnung betreiben. Das bringt uns überhaupt nichts.
Aber wir können und, ich denke, müssen mit Geduld immer wieder miteinander sprechen und den Versuch unternehmen, auch für die Position des anderen zu werben, nicht für radikale Positionen. Wer das Staatsoberhaupt in dieser unflätigen Weise beschimpft, ist so zu behandeln und zu sehen, wie es hier auch zu Recht gesagt worden ist. Das ist eine absolut unmögliche Weise, mit solchen Begriffen gegenüber dem Staatsoberhaupt aufzutreten. Das ist ein Rückfall in eine politische Barbarei, die wir nicht ertragen wollen.
Aber sehen Sie, meine Damen und Herren, ich habe von Geduld gesprochen. Der Entwurf ist ein gutes Stück weiter vorangekommen. Aber ich stehe nicht an zu sagen, der Entwurf sei fertig. Darüber wird man doch noch reden können. Ich erinnere mich bei manchen der jetzt hier Anwesenden - ich will jetzt keine Namen nennen - an meine Erfahrungen im Jahr 1990. Ich habe 1990 nie einen Hehl daraus gemacht, daß es für uns notwendig war, nachdem der Vorbehalt eines denkbaren Friedensvertrages im Zuge der deutschen Einheit weggefallen war, die Oder-Neiße-Grenze in dem entsprechenden Vertrag anzuerkennen. Ich erinnere mich noch daran, wie es im Dezember 1989 und in den folgenden Wochen und Monaten war, wie eine internationale Druckkulisse aufgebaut wurde. In dem gerade erschienenen Buch von François Mitterrand über Deutschland können Sie darüber sehr interessante Einzelheiten nachlesen. Damals habe ich gesagt, ich halte es für einen schweren Fehler, wenn wir die Verbindung zwischen diesen beiden großen historischen Ereignissen nicht finden.
Zu den großen Leistungen dieser Zeit gehört für mich die Abstimmung vom 21. Juni 1990. Damals wurden im Deutschen Bundestag bei nur 18 Gegenstimmen 486 Stimmen für diesen Vertrag abgegeben. Die, die da abgestimmt haben - ich war ja dabei wie auch die meisten der hier Anwesenden - haben das ja nicht leichtfertig getan. Wir haben sehr wohl zur Kenntnis genommen und gewußt, was dies für Millionen Menschen bedeutet, daß ein Drittel des Reichsgebietes, nicht eines angemaßten Reichsgebietes, damals endgültig abgetrennt wurde. Wir wußten aber auch, daß die Verschiebung Polens nach Westen durch Stalin Ähnliches für weit über eine Million polnische Bürger bedeutet hat. Das ganze Elend dieses Jahrhunderts ist doch in dieser Entscheidung wieder angeklungen. Trotzdem haben wir diese Entscheidung getroffen. Weil sie auch vom Zeitpunkt her klug getroffen wurde, war es eine Entscheidung, die zum inneren Frieden beigetragen hat.
Ich möchte erreichen, um es ganz klar und einfach zu sagen, daß das, was wir jetzt noch zu besprechen haben und was zum Abschluß kommen muß - ich sage es noch einmal -, am Ende von einem Ereignis gekrönt wird, wie wir es hier schon einmal erlebt haben. Wir haben erlebt, und wer dabei war, wird die innere Bewegung beim Redner und bei vielen, die hier saßen, nicht vergessen, wie der polnische Außenminister Bartoszewski zum Verhältnis zwischen Deutschen und Polen sprach. Eine ähnliche Rede wünsche ich mir in Deutschland oder in Prag, besser aber noch zuerst in Deutschland - eine Rede, die diese Frage nicht nur im Ansatz anspricht, sondern ganz offen in die Debatte einbringt und den Weg in die Zukunft weist.
Ich bin froh, daß ein Abkommen über den Jugendaustausch unterzeichnet wurde. In diesem Zusammenhang möchte ich aber, weil viele darüber reden und schreiben, auch einmal darauf hinweisen, daß die Beziehungen in der Realität überhaupt nicht schlecht sind. Einige Zahlen belegen dies: Der deutsch-tschechische Handel hat sich seit 1990 verdoppelt. Die Bundesrepublik Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Tschechischen Republik; der Anteil macht fast ein Drittel aus. Umgekehrt ist die Tschechische Republik nach Polen unter den mittel- und osteuropäischen Ländern der wichtigste Handelspartner für Deutschland. Tschechien ist neben Ungarn und Polen der bevorzugte Industriestandort für neue Investitionen deutscher Unternehmen in Mittel- und Osteuropa.
Ich könnte, weil hier meistens ein antibayerischer, törichter Klang mitschwingt, darauf eingehen, was es allein in der bayerischen Grenzregion an wirtschaftlicher Zusammenarbeit gibt. Dort ist man weit davon entfernt, neue Gräben aufzureißen. Dort entstehen in einer wirklich respektablen und bewundernswerten Weise - dies gilt übrigens auch für Sachsen - grenzüberschreitende Handelsbeziehungen.
Ich habe die Staats- und Regierungschefs dieser Länder - darunter auch Tschechien - während der deutschen Präsidentschaft der Europäischen Union als Vorsitzender zum Gipfel nach Essen eingeladen. In meiner Begrüßungsansprache in Essen habe ich damals den tschechischen Kollegen besonders angesprochen. Jeder von uns spürt - ich hoffe, auch in diesem Augenblick -, daß wir eine neue Beziehung, eine neue Nachbarschaft erreicht haben. Viele Kapitel haben wir - im übrigen auch unter allen meinen Amtsvorgängern; das möchte ich bei dieser Gelegenheit gerne einmal sagen - im Laufe der letzten Jahrzehnte versucht wiederaufzuarbeiten und vernünftiger zu gestalten. Das Wort Wiedergutmachung wäre nicht ganz zutreffend, weil menschliches Elend dieser Art nicht einfach wiedergutgemacht werden kann. Noch besser wäre es, wenn irgendwann einmal jemand an meiner Stelle, dann vielleicht in Berlin, stehen würde und schon von guter Nachbarschaft und Freundschaft sprechen könnte. Diesem gemeinsamen Ziel muß unsere Arbeit dienen.
Erlauben Sie mir zum Schluß noch zwei kurze Bemerkungen. Ich habe das Thema "Abkommen von Dayton" schon anklingen lassen. Zehn Monate nach dem Abschluß des Abkommens sehen wir, wie schwierig die Aufgabe ist, sehr viel schwieriger, als manche gedacht hatten. Sein Gelingen ist aber eine entscheidende Voraussetzung für eine dauerhaft friedliche Zukunft der ganzen Region.
Die massive Präsenz internationaler Friedenstruppen hat den Waffenstillstand erreicht, die verfeindeten Kräfte zurückgedrängt. Deswegen ist es gut und richtig, daß wir hier und heute unseren Respekt und unseren Dank an die Soldaten der internationalen Friedenstruppe richten. Sie haben einen wichtigen Friedensdienst geleistet.
Meine Damen und Herren, ich freue mich, daß ich in diesen Dank in einer ganz besonderen Weise deutsche Soldaten einbeziehen kann. Wir alle können uns über die anerkennenden Bezeugungen über die Leistungen und das Auftreten der deutschen Soldaten dort freuen, die ich in den letzten Wochen vernommen habe. Ich denke, wir sollten ganz besonders den deutschen Soldaten danken.
Ohne daß es heute zur Entscheidung ansteht - ich würde es auch für falsch halten, wenn wir jetzt versuchten, Entscheidungen zu treffen -, ist erkennbar, daß dieser schwierige Friedensprozeß nach dem Abschluß der IFOR-Mission abgesichert werden muß. Ich lasse einmal den Umfang und die Größenordnung weg, will aber für mich und natürlich die ganze Bundesregierung sagen, daß ich mir nicht denken kann, daß sich die Deutschen aus dieser Verantwortung zurückziehen werden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir am Heiligen Abend in diesem Jahr über den Frieden sprechen und möglicherweise vorher im Fernsehen Bilder sehen, die das genaue Gegenteil zeigen.
Neben den unmittelbar Betroffenen sind auch wir - vielleicht mehr als alle anderen Länder - berührt, weil wir in Deutschland über 400000 Flüchtlinge aus dieser Region aufgenommen haben. Da gelegentlich gesagt wird, wir würden zu wenig für die internationale Solidarität tun, will ich darauf hinweisen: Bei uns gibt es mehr Bürgerkriegsflüchtlinge aus dieser Region als in jedem anderen Land in Europa.
Wir geben immerhin 15 Milliarden D-Mark für die Aufnahme von Flüchtlingen und für Hilfsleistungen aus. Ich sage Ihnen ganz offen: Dies ist für mich - Sie verstehen das bitte richtig - ärgerlich, weil es sehr viel klüger wäre, diese Leute - natürlich unter gesicherten Verhältnissen - nach Hause zu bringen, nicht um dieses Geld einzusparen, sondern es für Werke des Friedens, für Neubauten, das Zurverfügungstellen von Material und neue Industrieanlagen einzusetzen. Das wäre viel sinnvoller, als Menschen hier zurückzuhalten.
Die Rückkehr von Vertriebenen und Flüchtlingen in ihre Heimatorte ist existentiell für den Wiederaufbau. Natürlich gilt auch, daß dort eine friedliche Entwicklung Voraussetzung ist. Wir können niemanden dort hinschicken, wenn er um sein Leben und seine Existenz fürchten muß.
Meine Damen und Herren, wenn wir die Lage Deutschlands, sein Ansehen, seine Stellung in der Welt heute betrachten, dann können wir gemeinsam sagen: Wir sind in einer Situation wie nie zuvor in diesem Jahrhundert. Wir haben sehr gute, herzliche und freundschaftliche Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, Frankreich, Großbritannien und Rußland. Wann hat es das je so in der deutschen Geschichte gegeben?
Das enthält für mich auch die Verpflichtung, daß wir selbst das Notwendige tun, um das Vertrauen - das mit der Statur unserer Republik zusammenhängt - unserer ausländischen Freunde und Partner in Zukunft zu rechtfertigen. Das ist eine besondere Verantwortung. Ich will für die Bundesregierung - sicherlich auch für die Koalition - sagen, daß wir uns dieser Verantwortung stellen. Ich möchte Sie alle herzlich einladen, wenn irgend möglich, sich daran zu beteiligen.
Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 71. 13. September 1996.