11. September 1997

Rede anlässlich der Eröffnung der 57. Internationalen Automobil-Ausstellung in Frankfurt am Main

 

Sehr verehrte Frau Oberbürgermeisterin, liebe Frau Roth,
Herr Ministerpräsident Eichel,
lieber Herr Präsident Gottschalk,
Exzellenzen,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

I.

 

einen ganz besonders herzlichen Gruß möchte ich namens der Bundesregierung auch den vielen ausländischen Gästen sagen, die heute und in den kommenden Tagen auf der 57. Internationalen Automobil-Ausstellung hier in Frankfurt sind.

 

Die IAA ist in diesem Jahr ein besonderes Ereignis - sie feiert ihr 100jähriges Bestehen. Es ist ein weiter Weg gewesen von jener ersten Ausstellung im September 1897 bis zur heute weltweit bedeutendsten Automobil-Ausstellung. Wir erleben eine eindrucksvolle Leistungsschau modernster Autotechnik. Dies unterstreichen auch die zahlreichen neuen Modelle und technischen Innovationen, die die rund 1300 Hersteller und Zulieferer aus 41 Ländern hier erstmals der Öffentlichkeit präsentieren.

 

Die 100jährige Entwicklung der IAA spiegelt zugleich die einzigartige Erfolgsgeschichte des Automobils wider. Das Automobil ist nicht irgendein Gegenstand. Mit dem Auto verbinden wir auch sehr viel Emotionales, Lebenswillen und nicht zuletzt Lebensfreude.

 

Das Auto hat einen wesentlichen Anteil am Entstehen der arbeitsteiligen Wirtschaft und damit der modernen Industriegesellschaft. Es ist heute aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Es steht zudem - und das scheint mir immer wieder besonders wichtig zu sein - für individuelle Mobilität, persönliche Freiheit und ein Stück Unabhängigkeit.

 

Wir haben dies einmal mehr vor über sieben Jahren im Zuge der deutschen Wiedervereinigung erlebt. Die Boomphase gerade für die Automobilindustrie in jenen Tagen hat den Wunsch vieler Menschen in den neuen Ländern nach dem eigenen Auto deutlich zum Ausdruck gebracht. Im Nachfrageboom der deutschen Wiedervereinigung und im Aufholprozeß der neuen Länder ist zugleich die enorme Bedeutung des Autos und von Verkehrswegen als Quelle von Wohlstand und Wachstum besonders spürbar geworden.

 

Mit Blick auf die Geschichte und den Stellenwert des Automobils ist das Motto der diesjährigen IAA gut gewählt: "Auto verbindet". Das Motto ist zugleich Wegweiser für anstehende Herausforderungen. Für die Bundesregierung bleibe ich bei einem klaren Ja zum Auto - wie ich es in all den Jahren meiner Amtszeit immer gesagt habe. Die Bundesregierung fühlt sich gerade auch der durch das Auto verkörperten individuellen Mobilität verpflichtet.

 

Das Auto ist und wird auf lange Zeit wichtigstes individuelles Verkehrsmittel bleiben. Dieser Tatsache müssen wir Rechnung tragen. Wir müssen natürlich ebenso die Schattenseiten des Autos berücksichtigen, wie Verkehrsstaus, Lärmbelästigungen und die Luftbelastung mit Schadstoffen. Dabei ist klar: Die umweltpolitischen Notwendigkeiten einerseits und das berechtigte Mobilitätsbedürfnis der Bürger und der Wirtschaft andererseits sind kein unauflöslicher Widerspruch. Im Gegenteil: Wer die Abkehr vom Auto propagiert, fährt in Wahrheit in die Sackgasse. Er schadet dem wirtschaftlichen Wachstum, gefährdet Arbeitsplätze und Wohlstand.

 

Wir dürfen uns nicht von manchen Ideologen in die Falle locken lassen, die das Auto mit beinahe religiöser Inbrunst verteufeln. Gerade auf diesem Feld ist die Heuchelei gewaltig. Ich wundere mich immer wieder über manche Demonstranten, die mit dem Auto zur Demonstration anreisen und nur die letzten 100 Meter zu Fuß gehen. Mit dieser Art der Auseinandersetzung um den Erhalt der Schöpfung bei gleichzeitig steigendem Verkehrsaufkommen kommen wir nicht weiter. Notwendig ist vielmehr, die Pros und Contras sorgfältig abzuwägen und die erforderlichen Schritte entschlossen zu gehen.

 

Wir müssen bei steigenden Mobilitätsbedürfnissen Ökonomie und Ökologie auf Dauer miteinander verbinden. Das heißt: Wir müssen Auto und Verkehr umweltverträglich gestalten. Wir haben die Erfahrung, die Intelligenz und - wie ich hoffe - auch den Willen, dieser Notwendigkeit Rechnung zu tragen. Gerade in einer modernen Industriegesellschaft wie der unseren müssen wir bereit sein, im Blick auf die eigenen Kinder und Enkel diese Verantwortung zu übernehmen.

 

Das heißt: Wir müssen erstens die Verkehrsinfrastruktur ausbauen und besser nutzen. Die Verkehrsinvestitionen sind bereits heute der größte Investitionsposten im Bundeshaushalt. Sie werden weiterhin hohe Priorität behalten - auch wenn wegen der schwierigen Haushaltslage nicht alles unmittelbar umgesetzt werden kann, was wünschenswert wäre. Natürlich müssen neben dem Bund auch die Länder und Gemeinden Verantwortung zeigen. Ich denke zum Beispiel an das Durchsetzen von Umgehungsstraßen vor Ort. Mit einem gleichmäßigen Verkehrsfluß entlasten wir darüber hinaus die Verkehrsinfrastruktur. Deshalb müssen wir verstärkt moderne Informations- und Kommunikationstechnologien einsetzen. Ich nenne in diesem Zusammenhang nur das Stichwort "Telematik".

 

Bei alledem dürfen wir den europäischen Aspekt nicht vergessen. Herr Dr. Gottschalk, Sie haben dies vorhin zu Recht angesprochen. Der Ausbau der Verkehrswege in Europa bleibt ein wichtiges Thema für die Zukunft.

 

Meine Damen und Herren, wir müssen zweitens alles tun, um die Umweltbelastung zu verringern. Das gestiegene Verkehrsaufkommen hat trotz erheblicher Fortschritte bei den Neuwagen dazu geführt, daß der Kraftstoffverbrauch und damit die CO2-Emissionen insgesamt gestiegen sind. Insbesondere mit Blick auf die Herausforderungen des Klimaschutzes müssen wir den Schadstoffausstoß weiter zurückführen und den Energieverbrauch weiter senken. Die Bundesregierung bleibt bei ihrer Grundposition: Anreize haben Vorrang vor Verboten. Die Erfahrungen in der Geschichte der Bundesrepublik haben die Richtigkeit dieses Weges immer wieder bestätigt.

 

Positiv werte ich hier die Selbstverpflichtung der deutschen Automobilindustrie. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2005 in Deutschland den durchschnittlichen Kraftstoffverbrauch deutscher Neuwagen gegenüber 1990 um 25 Prozent zu senken. Herr Dr. Gottschalk, was wir als Bundesregierung tun können und was ich tun kann, um Sie und die deutsche Automobilindustrie auf diesem Weg zu unterstützen, wird geschehen. Ein aktuelles Beispiel ist die emissionsbezogene Umgestaltung der Kfz-Steuer. Sie ist seit dem 1. Juli in Kraft und gibt einen wichtigen Anstoß, um umweltschonender Fahrzeugtechnik am Markt schneller zum Durchbruch zu verhelfen. Dies ist - Herr Ministerpräsident Eichel hat dies zuvor ebenfalls angesprochen - ein Schritt auf dem richtigen Weg.

 

Wir müssen drittens die Verkehrsträger verknüpfen. Machen wir uns keine Illusionen: Kein Verkehrsträger wird den Verkehr der Zukunft allein bewältigen können. Wir müssen deshalb Straße, Schiene, Luft und Wasserstraßen intelligent miteinander verbinden. Künftig ist auch die Magnetschwebebahn Transrapid einzubeziehen. Dieser neue, leistungsfähige Verkehrsträger ist zugleich ein wichtiges Signal für den Forschungsstandort Deutschland.

 

Meine Damen und Herren, wir haben eine gute Chance, im Verkehrsbereich Lösungen der Vernunft zu finden. Wie in vielen Bereichen gilt auch hier: Dialog und Offenheit für Neues sind entscheidend und öffnen Wege in die gute Zukunft. Um im dynamischen Wandel der Welt bestehen zu können, brauchen wir einen regen Austausch von Informationen, Wissen und Ideen. Die heutige Veranstaltung ist ein guter Anlaß, daran zu erinnern.

 

Die 57. Internationale Automobil-Ausstellung ist eine hervorragende Plattform, um Erfahrungen auszutauschen. Für die Besucher bietet sie die Möglichkeit, sich an einem Ort über ein vielfältiges und über die Jahre gewachsenes Angebot zu informieren. Für die Aussteller ist sie eine gute Gelegenheit, einen Überblick über die Leistungskraft der Mitbewerber zu bekommen. Vor allem ist sie auch Meßlatte und Ansporn, das eigene Angebot in Qualität und Preis zu überprüfen und - wo nötig - mit Mut, Zuversicht und Zukunftswillen neue Wege zu beschreiten. Für Automobilhersteller und Zulieferer ist die IAA zugleich vor allem eine Chance, bestehende Beziehungen auszubauen und neue Kontakte aufzubauen.

 

II.

 

Meine Damen und Herren, die 57. IAA findet in einer Zeit entscheidender Weichenstellungen bei uns in Deutschland, in Europa und der ganzen Welt statt. In etwas mehr als zwei Jahren geht dieses Jahrhundert zu Ende. Dies bedeutet eine tiefe Zäsur. Die Entwicklung am Ende dieses Jahrhunderts ist durch tiefgreifende politische Veränderungen und eine zunehmende Globalisierung von Produktion und Wirtschaftsbeziehungen gekennzeichnet. In nahezu allen Bereichen unseres Lebens ist dies deutlich spürbar. Unsere Gesellschaft steht vor zum Teil völlig neuen Herausforderungen. Wir alle müssen uns auf weltweite Veränderungen einstellen, die in den 50er oder 60er Jahren in dieser Weise noch gar nicht denkbar waren.

 

Es gibt zwei Möglichkeiten, den Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen. Wir können uns abschotten und hoffen, daß sie an uns vorbeigehen und uns nicht berühren - eine Einstellung, die eine Torheit wäre. Wir können uns genauso auf die Herausforderungen einstellen - und zwar in aller Nüchternheit und mit dem Mut, daraus entsprechendes Handeln abzuleiten. Dies ist der Weg, der in eine gute Zukunft führt. Dazu gehört, daß wir offen - auch streitig - darüber diskutieren, was sich in den Jahrzehnten des Wiederaufbaus unseres Landes für die Zukunft bewährt hat und was geändert werden muß.

 

Meine Damen und Herren, der weltweite Wettbewerb der Standorte um Investitionen und Arbeitsplätze ist vielfältiger, härter und stärker geworden. Für eine gute Zukunft unseres Landes können wir uns nicht darauf ausruhen, daß wir heute Vizeweltmeister im Export sind. Der Ehrgeiz der Deutschen muß sein, daß wir im Wettbewerb der Völker der Erde - olympisch ausgedrückt - auf dem Siegertreppchen stehen. Dabei kann man darüber streiten, ob wir die Gold-, Silber- oder Bronzemedaille brauchen. Entscheidend ist, daß wir eine Medaille haben.

 

Um weiterhin zu den führenden Industrienationen zu gehören, müssen wir uns heute noch stärker als bisher darauf einstellen, daß sich die Gewichte im Welthandel verschieben. Andere Länder holen zunehmend auf, neue Konkurrenten kommen hinzu. Ich verweise nur auf die dynamischen Volkswirtschaften in Asien. Wir müssen auch darauf schauen, was unsere Wettbewerber machen. Gleichwohl warne ich davor, Erfahrungen anderer Länder blind auf unser eigenes Land übertragen zu wollen.

 

Mit der wachsenden wirtschaftlichen Verflechtung der Standorte und Märkte gehen zunehmend auch Investitionen unserer Unternehmen im Ausland einher. Trotz mancher kritischer Stimmen bekenne ich mich zu dieser Entwicklung. Denn klar ist: Mit ihren ausländischen Standorten tragen unsere Unternehmen den Erfordernissen der Globalisierung Rechnung. Sie sichern damit zugleich Arbeitsplätze im Inland. Im Gegenzug heißt dies für uns natürlich auch, daß wir attraktive Standortbedingungen für Investoren aus dem Ausland anbieten müssen.

 

Wir Deutschen haben überhaupt keinen Anlaß, vor der Zukunft Angst zu haben. Ich verwehre mich energisch gegen das zukunftsschädliche Gerede notorischer Bedenkenträger in unserem Land. Natürlich müssen wir angesichts der neuen Herausforderungen unsere Standortbedingungen überprüfen. Im Ergebnis müssen wir auch - wo nötig - Veränderungen umsetzen. Keine Lösung ist es aber, unseren Standort schlecht- oder gar kaputtzureden.

 

Unser Land hat hervorragende Voraussetzungen: Wir haben eine ausgezeichnete Infrastruktur, gut ausgebildete Arbeitnehmer und eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur mit einem leistungsfähigen Mittelstand. Wir haben nicht zuletzt ein wirtschaftliches und soziales Klima, das unserem Land Stabilität verheißt - trotz mancher Auseinandersetzung um den besseren Weg. Auseinandersetzungen, wie etwa das Ringen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern um einen Tarifvertrag, sind dabei völlig normal. Sie haben nichts damit zu tun, daß wir etwa die Fähigkeit zur Gemeinsamkeit verlieren würden.

 

Meine Damen und Herren, es ist unübersehbar, daß Deutschland wieder auf gutem Wege ist. Die Wirtschaftsperspektiven haben sich verbessert. Die Konjunktur kommt in Schwung. In diesem Jahr erwartet die Bundesregierung - wie die meisten Wirtschaftsexperten - ein reales Wachstum in ganz Deutschland von zweieinhalb Prozent, im nächsten Jahr sogar von bis zu drei Prozent.

 

Allerdings: Der konjunkturelle Aufschwung reicht nicht aus, um die Lage auf dem Arbeitsmarkt durchgreifend zu verbessern. Vier Millionen Arbeitslose in Deutschland sind nicht akzeptabel. Die schwierige Arbeitsmarktsituation muß uns ständige Mahnung sein, daß wir etwas verändern und uns weiter anpassen müssen.

 

Das Bekämpfen der Arbeitslosigkeit bleibt unsere zentrale innenpolitische Aufgabe. Hierfür brauchen wir beides: Wachstum und strukturelle Veränderungen. Hier stehen wir in gemeinsamer Verantwortung und Pflicht zum Handeln. Wir können zudem eine Menge mehr tun, als im Feldgeschrei des Alltags oft dargestellt wird. Ein gutes Signal ist das vor über einem Jahr von der Bundesregierung gemeinsam mit Wirtschaft und Gewerkschaften vereinbarte Ziel, die Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 zu halbieren. Wir sollten nicht länger darüber diskutieren, ob das Ziel erreichbar ist oder nicht. Wir sollten vielmehr das Ziel als Ansporn sehen - und daran unsere Anstrengungen ausrichten.

 

Die Bundesregierung hat in den vergangenen Tagen und Monaten, begleitet von zum Teil vermeidbaren Diskussionen, eine Vielzahl von Reformen durchgesetzt oder auf den Weg gebracht. Wir haben zum Beispiel die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auf eine neue gesetzliche Grundlage gestellt. Diese heftig umstrittene Entscheidung hat sich in der Praxis bereits positiv ausgewirkt: Unternehmen und damit Arbeitsplätze sind insgesamt um Kosten von über zehn Milliarden D-Mark entlastet worden. Außerdem sind die Fehlzeiten in den Betrieben auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren zurückgegangen. Natürlich hat dieser Rückgang mehrere Ursachen, zum Beispiel auch die Angst vor Arbeitslosigkeit. Gleichwohl bleibt insgesamt festzuhalten, daß die Neuregelung bei der Entgeltfortzahlung positive Impulse gegeben hat.

 

Ein Beschäftigungsaufschwung in Deutschland ist möglich. Der Rückblick auf den gemeinsamen Erfolg in der Vergangenheit bestärkt mich in meiner Zuversicht. Zwischen 1983 und 1992 wurden - bezogen auf die alten Länder - schon einmal mehr als drei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. Was vor einigen Jahren möglich war, muß auch heute möglich sein - natürlich unter veränderten Bedingungen. Vor diesem Hintergrund fällt zum Beispiel positiv auf, daß die Tarifverträge in diesem Jahr wieder stärker an Wachstum und Beschäftigung ausgerichtet sind.

 

Signalwirkung für den Standort Deutschland insgesamt hat nicht zuletzt die eindrucksvolle Entwicklung unserer Automobilindustrie. Nach Jahren grundlegender, zum Teil auch schmerzhafter Anpassungen können wir heute feststellen, daß ein klassischer deutscher Industriebereich im Wettbewerb wieder die Nase vorn hat. Die Produktion läuft auf vollen Touren. Der gegenwärtige Aufwärtstrend ist insbesondere von der anhaltend dynamischen Auslandsnachfrage getragen. Bei der Inlandsnachfrage zeichnet sich aber jetzt ebenfalls eine Belebung ab. Erfreulich ist vor allem, daß das Produktionswachstum in der Autobranche wieder mit der Schaffung neuer, zusätzlicher Arbeitsplätze verbunden ist.

 

Die Anstrengungen und tiefgreifenden Veränderungen in der Automobilbranche haben sich offenkundig gelohnt. Der Erfolg der Branche ist wesentlich auch der Erfolg der vielen leistungsstarken mittelständischen Zulieferer. Sie haben in den vergangenen Jahren die Bereitschaft zum Umdenken und Handeln in vorbildlicher Weise mit großer Flexibilität und Innovationskraft vorgelebt.

 

Natürlich ist die Aufwärtsbewegung der Automobilbranche noch kein Grund zu Entwarnung oder gar Euphorie. Sie läßt sich auch nicht auf ganz Deutschland übertragen. Aber: Die positive Entwicklung in dieser deutschen Schlüsselindustrie hat Signalfunktion. Sie verdeutlicht einmal mehr, daß unsere Stärken - Flexibilität, Innovationsfreude und Leistungskraft - der Motor für eine gute Zukunft sind. Dies muß uns allen Ansporn sein, uns auf unsere Stärken zu besinnen und - wo erforderlich - Veränderungen voranzutreiben.

 

Meine Damen und Herren, untrennbar mit dem Arbeitsmarkt ist das ebenso wichtige Zukunftsthema Ausbildung verbunden. Die Automobilindustrie wird in diesem Jahr voraussichtlich drei Prozent mehr Ausbildungsplätze als im Vorjahr zur Verfügung stellen. Dafür möchte ich Ihnen meinen Dank aussprechen. Zugleich möchte ich Sie angesichts der schwierigen Lage am Ausbildungsmarkt um weitere Unterstützung bitten.

 

In knapp drei Wochen beginnt das neue Ausbildungsjahr. Für den Ausgleich am Lehrstellenmarkt sind noch besondere Anstrengungen erforderlich. Ein ausreichendes Lehrstellenangebot ist für mich vor allem auch eine moralische Verpflichtung unserer Gesellschaft gegenüber unserer Jugend. Wir können von den jungen Menschen nicht erwarten, daß sie ihre Pflicht gegenüber ihrem Land tun - zum Beispiel junge Männer bei der Bundeswehr oder im Ersatzdienst -, ihnen aber gleichzeitig einen Ausbildungsplatz verwehren. Eine gute Qualifikation bedeutet die beste Absicherung gegen Arbeitslosigkeit. Und: Die Lehrlinge von heute sichern qualifizierte Arbeitskräfte von morgen.

 

Ein ausreichendes Lehrstellenangebot bleibt zunächst noch eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe. Bis zum Jahr 2005 steigt die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen weiter - auf über 700000. Deshalb mein Appell: Stellen Sie in diesem und auch in den kommenden Jahren weiter zusätzliche Ausbildungsplätze bereit.

 

III.

 

Meine Damen und Herren, für eine gute Zukunft unseres Landes bleibt die Bundesregierung entschlossen auf Reformkurs. Wir halten daran fest, die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren, die Steuer- und Abgabenlast zu senken sowie den Sozialstaat umzubauen. Unser Ziel ist es, die Staatsquote bis zum Jahr 2000 wieder auf das Niveau vor der Wiedervereinigung zurückzuführen - auf 46 Prozent. Eine niedrigere Staatsquote bedeutet mehr Chancen für das Senken der Steuer- und Abgabenlast sowie eine geringere Kreditaufnahme.

 

Wer heute die deutsche Haushaltspolitik beurteilt, muß die Leistungen berücksichtigen, die die deutschen Steuerzahler in den vergangenen Jahren erbracht haben: Seit 1990 fließen jährlich über 100 Milliarden D-Mark aus dem Bundeshaushalt in die neuen Länder. Seit 1990 hat allein der Bund im Zuge der deutschen Wiedervereinigung Erblasten von 350 Milliarden D-Mark übernommen.

 

Seit 1989 haben wir außerdem an die Länder in Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie die Nachfolgestaaten der Sowjetunion Transferzahlungen von insgesamt gut 180 Milliarden D-Mark geleistet. Dies ist für mich gelebte Solidarität und eine Dividende für den Frieden. Natürlich ist es auch für uns angesichts knapper Kassen zunehmend schwieriger, die finanziellen Mittel für die Reformbemühungen dieser Länder zu leisten. Es ist aber besser, als neue Raketen bauen und wieder Milliarden D-Mark in die Rüstung stecken zu müssen.

 

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hält trotz schwieriger politischer Mehrheitsverhältnisse auch weiter an ihren großen Reformprojekten fest. Dies betrifft zum einen das Thema Steuern. Klar ist: Um neue Arbeitsplätze bei uns zu schaffen, müssen wir die Steuerlast zurückführen und die Investitionskraft stärken.

 

Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist, daß die investitions- und beschäftigungsfeindliche Vermögensteuer seit Anfang 1997 nicht mehr erhoben wird. Positiv ist zudem, daß nach langwierigen Diskussionen die Gewerbekapitalsteuer in den alten Ländern jetzt endlich zum 1. Januar 1998 abgeschafft wird. Es bedeutet zugleich, daß sie in den neuen Ländern endgültig nicht mehr eingeführt werden muß.

 

Nächster wichtiger Schritt ist die große Steuerreform. Zur anhaltenden Blockadepolitik der SPD-Mehrheit im Bundesrat möchte ich nur soviel sagen: Die Urheber unserer Verfassung waren kluge und weitsichtige Menschen. Sie haben aus vernünftigen Erwägungen die beiden Kammern - den Bundestag und den Bundesrat - geschaffen. Besondere Situationen entstehen, wenn wir hier - wie heute - politisch unterschiedliche Mehrheiten haben. Dann kommt es um so mehr darauf an, daß wir uns - unabhängig von unserer politischen Zugehörigkeit - unserer gesamtstaatlichen Verantwortung bewußt sind.

 

Die SPD-Mehrheit im Bundesrat hat die Steuerreform letzte Woche zum zweiten Mal abgelehnt. Die Bundesregierung bleibt entschlossen, die Reform durchzusetzen. Wir haben in dieser Woche deshalb sofort ein zweites Vermittlungsverfahren beantragt. Der positive Effekt der Steuerreform für den Standort Deutschland und damit für unsere Zukunft ist unumstritten. Ich setze darauf, daß jetzt die Vernunft siegt und wir einen vernünftigen Kompromiß finden.

 

Allerdings, und das sage ich ebenso aus Überzeugung: Es wird keinen Kompromiß um jeden Preis geben, das heißt auch kein Rütteln an den Grundelementen unserer Steuerreform. Kernziel muß bleiben, die Einkommen- und Körperschaftsteuersätze auf ein international wettbewerbsfähiges Niveau zu senken. Dies ist ein grundlegender Schritt für mehr Investitionen und Arbeitsplätze bei uns.

 

Wir müssen zugleich die Steuerschlupflöcher schließen und Steuervergünstigungen abbauen, um insbesondere der Erosion der Steuerbasis entgegenzuwirken. Der dramatische Rückgang bei den Steuereinnahmen muß uns alle wachrütteln. Beispielsweise betrug das Aufkommen aus veranlagter Einkommensteuer im ersten Halbjahr 1996 5,6 Milliarden D-Mark, im ersten Halbjahr 1997 dagegen nur noch 0,3 Milliarden D-Mark. Die Gründe dafür liegen natürlich auch in der wirtschaftlichen Entwicklung, vor allem aber in dem Nutzen von Steuerschlupflöchern und Steuervergünstigungen.

 

Das heißt: Wir brauchen die Steuerreform als Schlüssel für mehr Wachstum und Beschäftigung. Wir brauchen sie zudem, um unsere öffentlichen Aufgaben weiterhin verantwortungsvoll erfüllen zu können.

 

Mit gleicher Entschlossenheit werden wir den Umbau des Sozialsystems weiter vorantreiben. Dieses Thema ist - wie die Steuerreform - überfällig. Der Umbau unseres Sozialsystems hat nichts damit zu tun, den Sozialstaat in Deutschland abschaffen zu wollen. Aber: Der Sozialstaat muß wieder bezahlbar werden.

 

Wir müssen uns vor allem rechtzeitig auf den demographischen Wandel in unserer Gesellschaft einstellen. In Deutschland leben heute 13 Millionen Menschen, die 65 Jahre und älter sind. Im Jahr 2030 werden es bereits 19 Millionen sein. Hinzu kommt: Deutschland hat eine der niedrigsten Geburtenraten in der Europäischen Union - nur Italien und Spanien liegen noch darunter. Zudem, und dies ist natürlich eine sehr erfreuliche Entwicklung, steigt die Lebenserwartung bei uns.

 

Aus dem sich abzeichnenden demographischen Wandel müssen wir rechtzeitig die notwendigen Konsequenzen ziehen. Besonders betroffen sind davon das Gesundheitswesen und der Generationenvertrag in der Rentenversicherung. Es wäre unverantwortlich, die Lösungen dieser wichtigen Zukunftsfragen zu Lasten der jungen Generation auf morgen zu verschieben.

 

Wir haben deshalb auch die Dritte Stufe der Gesundheitsreform gegen die Opposition im Bundestag durchgesetzt. Zentrale Aufgabe jetzt ist die Rentenreform. Ich bin überzeugt, daß wir ebenso hier eine Lösung - auch im parteiübergreifenden Konsens - finden können, wenn wir die Vernunft walten lassen.

 

IV.

 

Meine Damen und Herren, wir stehen außerdem inmitten eines tiefgreifenden Veränderungsprozesses in Europa. Mit Erstaunen höre ich von verschiedener Seite immer wieder, daß wir heute keine Visionen mehr hätten. Ich frage Sie: Gibt es eine größere Vision als den Bau des Hauses Europa? Wir wollen ein Haus Europa bauen, in dem die europäischen Völker, die dies wollen und können, ihren Platz finden. Wir wollen dies außerdem - und das ist sehr wichtig - mit einem Dauerwohnrecht für unsere amerikanischen Freunde. Kurzum: Wir wollen ein bürgernahes und handlungsfähiges Europa, das auf dem Prinzip Einheit in Vielfalt aufbaut.

 

Nächste große Herausforderung ist die Einführung des Euros. Die gemeinsame europäische Währung ist ein wichtiger Baustein, um den Bau des Hauses Europa zu vollenden. Wir brauchen sie als notwendige Ergänzung zum gemeinsamen Binnenmarkt, für den Standort Europa angesichts globaler Herausforderungen und für ein angemessenes Gewicht Europas im internationalen Währungssystem.

 

Ich bin überzeugt, daß der Euro bei allen Schwierigkeiten fristgemäß kommen wird und die Kriterien eingehalten werden. Gerade vor den ausländischen Gästen unter uns möchte ich noch einmal unterstreichen, warum die Stabilität der gemeinsamen europäischen Währung für uns Deutsche ein zentrales Thema ist: Nächstes Jahr im Juni werden wir in der Frankfurter Paulskirche den 50. Geburtstag der D-Mark feiern. Für die Deutschen ist sie nicht irgendeine Währung. Sie ist ein Symbol für den wirtschaftlichen Aufstieg unseres Landes.

 

Ich bin mir bewußt, welche Bedeutung die Stabilität der neuen Währung hat und daß dabei keine Experimente gemacht werden dürfen. Ich bin mir ebenso bewußt, daß jetzt die Stunde gekommen ist, ja zu Europa zu sagen. Wir müssen an unsere Zukunft im 21. Jahrhundert denken.

 

V.

 

Meine Damen und Herren, die Fortschritte der letzten Jahre geben uns allen Anlaß zu realistischem Optimismus. Es gibt gute Gründe für uns zu hinterfragen, ob dieses oder jenes richtig ist und wo wir etwas ändern müssen. Es gibt aber überhaupt keinen Grund, angesichts der neuen Herausforderungen zu resignieren oder gar zu verzweifeln. Im Gegenteil: Wir haben Chancen, wie sie nie zuvor eine Generation in unserem Land gehabt hat.

 

Die Botschaft heute muß sein, Verantwortung wahrzunehmen - alle gemeinsam, jeder in seinem Bereich. Dazu möchte ich Sie alle einladen. In diesem Sinne erkläre ich die 57. Internationale Automobil-Ausstellung für eröffnet.

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 76. 26. September 1997.