12. Dezember 1996

Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag zum Thema „Aktuelle Fragen der Europapolitik, insbesondere Vorschau auf die Tagung des Europäischen Rates in Dublin am 13./14. Dezember 1996"

 

Frau Präsidentin,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

der Europäische Rat in Dublin morgen und übermorgen ist eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Vertiefung der Europäischen Union. Es geht um die weitere intensive Vorbereitung dessen, was wir in unserer Sprache den Maastricht-II-Vertrag nennen. Unser Ziel ist es, die Regierungskonferenz im Juni nächsten Jahres auf dem EU-Gipfel in Amsterdam zu beenden. Das alles ist eine wichtige Voraussetzung zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion.

Darüber hinaus stehen in Dublin eine Reihe weiterer wichtiger aktueller Fragen auf der Tagesordnung. Ich nenne vor allem das Thema Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.

Ich bin ganz sicher, daß von diesem Europäischen Rat allen Unkenrufen zum Trotz ein klares Zeichen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ausgeht, gemeinsam die bestehenden Probleme mit dem notwendigen Mut und der notwendigen Entschiedenheit anzugehen, die noch offenen Fragen bei der Vorbereitung der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion zu lösen und die Vertiefung der Europäischen Union durch die Regierungskonferenz zielstrebig voranzutreiben. Wir haben Grund, die Vorbereitungen und die Vorarbeit der irischen Präsidentschaft dankbar zu erwähnen.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, erlauben Sie mir bei diesem Anlaß zunächst einige grundsätzliche Bemerkungen zur Europapolitik der Bundesregierung. Das Engagement Deutschlands und das Engagement der Bundesregierung für die Fortentwicklung der Europäischen Union, für die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion und die Erweiterung der Europäischen Union stehen außer Frage.

Unser grundlegendes politisches Ziel ist und bleibt es, eine politische und wirtschaftliche Ordnung für unseren Kontinent zu erarbeiten, die allen Menschen in Europa auf Dauer Frieden, Freiheit, Wohlstand und soziale Sicherheit garantiert. Deshalb ist die Bundesregierung - das gilt auch für mich selbst - trotz der derzeit eher kritischen Stimmungslage gegenüber der Europäischen Union fest entschlossen, alles zu tun, um den Einigungsprozeß unumkehrbar zu machen.

Ich will in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen, daß Euroskeptizismus vor solchen Tagungen eigentlich in all den Jahren die Runde machte und daß wir trotzdem und entgegen all diesen Behauptungen in den letzten zwei Jahrzehnten gewaltige Fortschritte gemacht haben: Ich denke an den großen gemeinsamen Markt, an den Maastricht-I-Vertrag und vieles andere mehr. Das Konzept der europäischen Einigung ist und bleibt die einzige wirksame Versicherung gegen Nationalismus, gegen Machtpolitik und gegen Krieg.

Niemand hat dies besser und deutlicher formuliert als François Mitterrand im Januar 1995 vor dem Europäischen Parlament, als er den Abgeordneten zurief: "Der Nationalismus, das ist der Krieg." Diese eindringliche Mahnung ist für die Bundesregierung und, ich denke, für uns alle Richtschnur und Verpflichtung für unsere Europapolitik.

Wir wollen ein stabiles Haus Europa bauen, das allen Stürmen standhalten kann und in dem sich die Menschen geborgen fühlen. Dies ist die ganz konkrete Herausforderung, vor der wir heute stehen. Deshalb müssen wir alles versuchen, um ein bürgernahes, ein demokratisch verankertes europäisches Haus zu bauen - ein Haus, das von handlungsfähigen Institutionen und dem Willen zum gemeinsamen Handeln gestaltet wird.

Meine Damen und Herren, genau dies ist auch das Ziel der jetzt laufenden Regierungskonferenz zur Überprüfung und Fortentwicklung des Maastrichter Vertrages. Ich habe bewußt die Worte "der jetzt laufenden Regierungskonferenz" gewählt, weil der Prozeß der Entwicklung nicht auf zwei Tage fixiert ist, sondern weil - ich sage das noch einmal - diese zwei Tage in Dublin wie überhaupt die Präsidentschaft der irischen Regierung in diesem halben Jahr von dem Geist und von der Überzeugung getragen sind - auch von uns unterstützt -, daß wir jetzt Schritt für Schritt die notwendigen Voraussetzungen für die Schlußentscheidung - wir bleiben bei dem Datum Juni 1997 - schaffen.

All das muß zu einer echten Weiterentwicklung des europäischen Einigungswerks führen und damit auch die politischen, wirtschaftlichen und institutionellen Voraussetzungen für die Erweiterung der Union um neue Mitglieder schaffen.

Die Bundesregierung wird in den Verhandlungen zusammen mit unseren Partnern alles tun, um die Regierungskonferenz zu einem guten Abschluß zu bringen, und zwar - ich betone es noch einmal, weil es auch viele andere Meldungen gibt - zum Ende des Vorsitzes der Niederlande im Juni 1997.

Diesem Ziel dient auch der gemeinsame Brief, den Staatspräsident Chirac und ich an den Vorsitzenden des Europäischen Rates, Ministerpräsident Bruton, gerichtet haben. Dieser Brief ist ein klares Zeichen für das enge Zusammenwirken zwischen Deutschland und Frankreich. Unsere beiden Länder sind und bleiben Motoren der europäischen Einigung, und wir stellen uns gemeinsam dieser Verantwortung.

Ich weiß sehr wohl, meine Damen und Herren - diese Briefe vor einem EU-Gipfel haben ja inzwischen in den letzten zehn Jahren Tradition gewonnen -, daß auch im Kreise unserer Partner und Freunde in Europa gelegentlich Kritik zu diesem Punkt zu hören ist: Warum machen die Franzosen und die Deutschen das? Aber meine Erfahrung sagt mir auch, wenn wir nicht immer wieder in einem deutsch-französischen Akkord initiativ werden, bekommen wir den umgekehrten Vorwurf, daß wir unsere historische Aufgabe nicht wahrnehmen und die nötige Dynamik vermissen lassen. Ich sage Ihnen ganz offen: Vor die Alternative gestellt, für dieses oder für jenes gescholten zu werden, entscheide ich mich gern dafür, daß Franzosen und Deutsche gemeinsam vorangehen auf dem Wege nach Europa.

In Dublin werden wir vor allem auch über die Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit, der Innen- und Justizpolitik sowie über die Stärkung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu sprechen haben.

Schon bei dem Sondertreffen des Europäischen Rates am 5. Oktober in Dublin bestand weitgehende Einigkeit, daß die Regierungskonferenz unter niederländischer Präsidentschaft noch im ersten Halbjahr 1997 abgeschlossen wird, daß wir substantielle Ergebnisse anstreben, die den berechtigten Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger Europas Rechnung tragen.

Die irische Präsidentschaft - ich sagte es - hat sich mit großem Engagement dieser Aufgabe gestellt. Sie hat uns einen ersten - ich betone: einen ersten - Entwurf für einen revidierten Vertrag vorgelegt. Ich begrüße diesen Entwurf als eine vernünftige Grundlage für die weiteren Arbeiten.

Aber das heißt nicht, meine Damen und Herren, daß mit dieser Äußerung bereits die Zustimmung zu allen einzelnen Punkten gegeben ist. Es ist der Entwurf eines Vertrages. Wer die Arbeiten in solchen Bereichen kennt, weiß, daß es sehr nützlich ist, wenn man eine Arbeitsgrundlage erstellt, auf der man dann gemeinsam diskutiert und weiterarbeiten kann.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, beim Europäischen Rat in Dublin werden in unseren Beratungen zur Regierungskonferenz vor allem drei große Themenbereiche im Vordergrund stehen: die innere und die äußere Sicherheit der Europäischen Union sowie die institutionellen Reformen.

Zunächst zum Thema innere Sicherheit. Der Kampf gegen das international organisierte Verbrechen, die Drogenmafia und den Terrorismus ist eine der zentralen Aufgaben, denen wir uns heute stellen müssen. Wir haben inzwischen alle die Erfahrung machen müssen, daß es bei allen Bemühungen auch der nationalen Polizeibehörden - und es gibt gar keinen Grund, deren Arbeit geringzuschätzen; ich schätze sie sehr hoch ein - nicht möglich sein wird, diese Gefahr ohne eine grenzübergreifende schlagkräftige europäische Institution zu bannen.

Die Bürger in Europa erwarten zu Recht, daß wir in diesen Fragen mehr Schlagkraft entwickeln. Der Bedrohung, die von der Kriminalität ausgeht, können wir nicht mehr allein auf nationaler Ebene Herr werden.

Unsere Bürger in Europa wollen die Freizügigkeit genießen, aber eben nicht auf Kosten der eigenen Sicherheit. Mehr Gemeinsamkeit und effizientere Mechanismen im Bereich der Innen- und Rechtspolitik sind daher ganz entscheidend für die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zur Einigung Europas. Deshalb haben Staatspräsident Chirac und ich vorgeschlagen, im Wege der jetzt laufenden Vertragsverhandlungen eine Art gemeinsamen europäischen Rechtsraum aufzubauen, der zugleich mehr Freizügigkeit und mehr Sicherheit für alle Bürger gewährleistet.

Es wäre eine gute Sache, wenn wir uns morgen und übermorgen in Dublin - das ist meine Hoffnung - auf eine grundsätzliche Ausrichtung in dieser Frage verständigen und der Regierungskonferenz eine Reihe von ganz konkreten Aufgaben und Aufträgen zum Aushandeln der Einzelheiten erteilen könnten.

Es geht unter anderem um die Verwirklichung einer gemeinschaftlichen Politik in den Bereichen Außengrenzen, Visa, Asyl, Einwanderung und Zollzusammenarbeit. Es geht um den schrittweisen Ausbau von Europol zu einer wirksamen Polizeibehörde mit - dies will ich unterstreichen - operativen Befugnissen.

Es geht um die Annäherung und Harmonisierung der bestehenden Rechtsvorschriften und der Praktiken bei der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Schwerkriminalität, des Terrorismus und des Drogenhandels.

Es geht um die Verbesserung der Rechtssicherheit der Bürger durch Erleichterung der Amts- und Rechtshilfe. Dieses Thema möchte ich hier noch einmal besonders herausstellen. Es ist für den Bürger ein ziemlich weiter Weg, wenn er beispielsweise aus einem anderen Land Europas Bestätigungen oder Urkunden benötigt. Es ist überfällig, daß wir in dieser Sache endlich Fortschritte machen.

Es geht um die Fortentwicklung und Vereinfachung der bestehenden Verfahren. Zu all diesen Bereichen wollen wir uns im revidierten Vertrag auf klare Zielbestimmungen verständigen und eine Agenda für die Umsetzung konkreter Schritte festlegen.

Ich will noch eine Bemerkung hinzufügen: Ich sehe, daß die Umsetzung dessen, was ich als unseren Wunsch vorgetragen habe, eine dramatische Veränderung in Europa bedeutet, auch hinsichtlich der Denkkategorien. Hier wird wirklich ein Stück Nationalstaat in Richtung Europa geöffnet, und zwar zugunsten der Bürger.

Ich bin mir auch darüber im klaren, daß damit ein ganz wesentlicher Umdenkungsprozeß gefordert ist, und zwar nicht nur in den anderen Ländern Europas, sondern auch bei uns in Deutschland. Bei uns in Deutschland wird sich das alles nur dann entwickeln und ermöglichen lassen, wenn wir in einem vernünftigen Miteinander zwischen Bundesländern und Bund Absprachen treffen.

Um es gleich vorweg zu sagen - denn dieser Einwand wird bald kommen -: Es geht nicht darum, Länderkompetenzen auszuhöhlen, sondern darum, in gemeinsamen Anstrengungen - bis zum Treffen in Amsterdam im Sommer werden wir auch bei uns in Deutschland viele Gespräche darüber zu führen haben - mehr Sicherheit für die Bürger in Deutschland und in Europa zu erreichen.

Es geht zum zweiten um die äußere Sicherheit. Die bisherigen Bestimmungen zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik reichen noch nicht aus, um sicherzustellen, daß Europa wirklich mit einer Stimme sprechen und gemeinsam handeln kann. Wir müssen deshalb im Rahmen der Regierungskonferenz die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die Effizienz, die Kontinuität, die Kohärenz, die Solidarität und das Sichtbarmachen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik durch ein umfassendes Gesamtkonzept zu verbessern.

Aus unserer Sicht gehören unbedingt folgende Elemente dazu: Einrichtung einer gemeinsamen Arbeitseinheit, die bei der Vorbereitung und Umsetzung von Beschlüssen eine zentrale Rolle spielt; effizientere Entscheidungsverfahren und wirksamere Umsetzung der Beschlüsse zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, vor allem durch verstärkten Rückgriff auf Mehrheitsentscheidungen; Berufung einer Persönlichkeit für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zur Unterstützung - ich will das Wort Unterstützung unterstreichen - von Präsidentschaft, Rat und Kommission sowie die Vereinbarung gemeinsamer Strukturen im Sicherheits- und Verteidigungsbereich und die schrittweise Annäherung der WEU an die Europäische Union mit dem Ziel ihrer Integration in die Europäische Union.

Das dritte Feld betrifft die institutionellen Reformen. Vor allem mit Blick auf die anstehende Erweiterung ist es absolut unverzichtbar, die institutionellen Regelungen der Union, die noch aus der Gründerzeit der Sechs stammen, fortzuentwickeln. Lösungen für diesen schwierigen und für alle Mitgliedstaaten sensiblen Fragenkomplex werden wir ganz gewiß erst in der Schlußphase vor der endgültigen Abstimmung in Amsterdam im kommenden Frühsommer erreichen.

Ich will noch einmal darauf hinweisen, worum es geht. Es geht darum, die Entscheidungsfindung im Rat zu verbessern, das heißt die Abstimmungsverfahren müssen vereinfacht werden, die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit soll bis auf konkrete, festzulegende Ausnahmen die Regel werden. Die Stimmengewichtung im Rat ist zu überprüfen. Über Größe und Struktur der Kommission und die Stellung des Kommissionspräsidenten ist ebenso nachzudenken wie über die Verfahren zur Beteiligung des Europäischen Parlaments und über die Einbeziehung der nationalen Parlamente.

Ich will darauf hinweisen, daß Deutschland als größtes Mitgliedsland bei diesen Fragen eine ganz besonders wichtige Position einzunehmen hat. Wir müssen deutlich machen, daß es uns fern liegt, etwa - wie es gelegentlich unterstellt wird - zu beabsichtigen, einen hegemonialen Einfluß auszuüben.

Gerade in diesen ganz schwierigen Fragen wie Größe der Kommission und Beteiligung des Parlaments, auch der nationalen Parlamente, wird es sehr wichtig sein, daß das immer wieder geäußerte Prinzip "Qualität statt Quantität" gilt, daß wir uns auch darum bemühen, besonderes Verständnis für die Interessen und - ich sage es in Anführungszeichen - gelegentlichen Ängste kleinerer Mitgliedsländer zu haben.

Wir wollen keine Entwicklung in Europa mit einer Tendenz, daß die größeren Länder das Sagen hätten und die kleineren als Anhängsel betrachtet würden. Das ist nicht unsere Vorstellung von Föderalismus.

Meine Damen und Herren, ich habe nicht ohne Grund gesagt, Qualität geht vor Quantität. Das, was für Europa die Chance der Zukunft ausmacht, ist die breite historische und kulturelle Tradition. Ich will es einmal so sagen: Es ist das ganze Bukett mit seinen bunten Farben - und nicht eine Einheitsfarbe -, das Europa köstlich und erlebbar macht. Das muß unser Ziel sein und bleiben.

Um es ganz deutlich zu sagen: Wir wollen im Rahmen der Europäischen Union nicht mehr Gewicht bekommen als andere große Mitgliedstaaten. Wir wollen für uns keine besondere Stellung sichern, wir wollen mit Nachdruck für eine angemessene Berücksichtigung der kleineren Mitgliedstaaten eintreten.

Aus meiner Sicht ist eine psychologisch kluge, den historischen Gegebenheiten entsprechende Haltung der Deutschen in der Frage, die ich soeben angesprochen habe, eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Erfolg beim Bau des Hauses Europa.

Es gibt aus unserer Sicht darüber hinaus weitere zentrale Themen, bei denen wir bei der Regierungskonferenz Fortschritte erzielen müssen. Ich nenne als Beispiel die Stärkung des Umweltschutzes, ich nenne vor allem auch die immer wieder von uns angemahnte klare Regelung und strikte Beachtung des Subsidiaritätsprinzips. Dazu haben wir einen mit den Bundesländern abgestimmten Entwurf für ein Subsidiaritätsprotokoll in die Verhandlungen eingebracht.

Auch hier füge ich gern hinzu, daß unsere Vorstellungen von unseren Partnern nicht automatisch übernommen werden, weil sie völlig andere Traditionen haben als wir. In diesem Europa, das sich jetzt zusammenschließt, vor allem in den lateineuropäischen Ländern, besteht eine alte, klassische Nationalstaatstradition mit einer sehr engen, straffen Führungsbindung an die jeweilige Hauptstadt. Das zeigt sich im Kulturellen, das zeigt sich in allen anderen Bereichen.

Alle Beteiligten müssen zum Umdenken fähig sein, wenn wir das Subsidiaritätsprinzip so verstehen und durchsetzen wollen, so daß es den Interessen des Bürgers dient und die einzelnen Völker und Nationen Europas auch im vereinten Europa ihre Identität wiederfinden. Das ist eine der Vorausset- zungen für eine gute Zukunft.

Das Europa, das wir wünschen, muß klare Strukturen, ein möglichst hohes Maß an Transparenz und eine wirklich effektive demokratische Kontrolle durch das Europäische Parlament aufweisen. Wir brauchen - das füge ich hinzu - eine Lösung, die die nationalen Parlamente in Entscheidungsabläufe einbezieht. Bei dieser Frage kommen ganz erhebliche Probleme auf uns zu.

Ich bekenne ganz offen, daß ich bis zu dieser Stunde noch keine abschließende Meinung dazu habe, wie wir dies am besten lösen können. Ich füge allerdings hinzu: Diejenigen in der Europäischen Union, die jetzt gegenüber dem frei gewählten Europäischen Parlament - die Bürger Europas haben dieses Parlament in freier, geheimer und direkter Wahl gewählt - einen Aushöhlungsprozeß in Gang setzen und in einer Sondersituation die nationalen Parlamente gegen das Europaparlament ausspielen wollen, werden jedenfalls von mir keine Unterstützung bekommen; auch dies muß man in diesem Zusammenhang klar sagen.

Ich erwähne auch die Vorschläge zu mehr Flexibilität und verstärkter Zusammenarbeit, die Staatspräsident Chirac und ich bereits im Dezember 1995 vorgelegt haben. Wenn einzelne Partner jetzt nicht bereit oder in der Lage sind, bestimmte Schritte mitzuvollziehen, muß die Möglichkeit bestehen, daß einige der Partnerstaaten unter Wahrung des einheitlichen institutionellen Rahmens vorangehen. Dieser Vorschlag, der zunächst sehr kritisiert wurde, stößt in der Zwischenzeit auf mehr Zustimmung.

Ich möchte hier noch einen Gedanken hinzufügen: Vor allem bei der Innen- und Rechtspolitik halte ich es für möglich, daß wir in dem einen oder anderen Fall schon jetzt zu Entscheidungen kommen, allerdings unter der Voraussetzung, daß diese Entscheidungen nicht kommunitär, sondern intergouvernemental getroffen werden. Ich rate uns, in diesem Fall nicht aus Prinzipiendiskussionen heraus mögliche Fortschritte zu versäumen, weil sie nur intergouvernemental möglich sind. Ich rate uns - zu meiner Freude sind auch unsere französischen Partner durchaus bereit, in diese Richtung zu wirken -, in der einen oder anderen Frage, insbesondere in bezug auf Europol, jetzt durch Verträge zwischen den Regierungen zu Regelungen zu kommen, die sozusagen in einer Fußnote bestimmen, daß nach fünf Jahren eine Überprüfung stattfindet, inwieweit das, was man bisher intergouvernemental gemacht hat, kommunitär fortgesetzt werden kann.

Ich glaube, wenn eine solche Politik in der Sache erfolgreich ist, wird auch die Vergemeinschaftung dieser Entscheidungen leichter möglich sein. Ich dringe vor allem auf einen Anfang jetzt. Ich möchte keine Prinzipiendiskussion, die uns wieder Jahre kostet, wie das leider bei Europol in den letzten Jahren der Fall war.

Meine Damen und Herren, die europäische Integration ist auch der Schlüssel für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa. Wettbewerbsfähigkeit heißt zugleich immer auch: Erhaltung vorhandener und Schaffung neuer Arbeitsplätze. Mit dem Europäischen Binnenmarkt haben wir eine gute Grundlage geschaffen. Das "Europa der 15" ist schon heute einer der wichtigsten Wirtschaftsräume der Welt.

Wir müssen den Binnenmarkt durch die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion ergänzen. Erst mit der einheitlichen Währung wird er seine positiven Wirkungen für Wachstum und Arbeitsplätze voll entfalten können. Wir wollen daher, und zwar ohne Wenn und Aber, die Wirtschafts- und Währungsunion zum vorgesehenen Zeitpunkt verwirklichen, und dies - wie das für uns immer selbstverständlich war - bei strikter Beachtung der festgelegten Konvergenzkriterien. Ich halte zum jetzigen Zeitpunkt alle Spekulationen, welche Länder dabeisein werden oder nicht, für absolut verfrüht. Die Entscheidung hierüber fällt erst im Frühjahr 1998 auf der Basis der dann vorliegenden Ist-Daten für 1997. Das entspricht dem Vertrag. Wir haben guten Grund, uns an den Vertrag zu halten. Natürlich erfordert das Erreichen der Stabilitätskriterien in den meisten Mitgliedsländern noch erhebliche Anstrengungen, auch in Deutschland. Deswegen ist mein Rat an uns alle: Jeder möge vor seiner eigenen Tür kehren und seine Hausaufgaben machen und sich erst dann darüber unterhalten, wie es beim anderen aussieht.

Für die zukünftige Entwicklung des Euros, der europäischen Währung, ist es von großer Bedeutung, daß die Stabilitätskriterien dauerhaft erfüllt werden. Denn die Wirtschafts- und Währungsunion soll - das war immer unser Ziel - eine auf Dauer angelegte Stabilitätsgemeinschaft mit einer harten Währung werden. Dies ist auch das Ziel des von Theo Waigel angeregten Stabilitätspakts, der eine breite Zustimmung gefunden hat. Dieser Pakt sichert die notwendige Haushaltsdisziplin auch nach dem Eintritt in die Wirtschafts- und Währungsunion. Darüber wird heute im Ecofin-Rat in Dublin eingehend gesprochen, je nach den Entwicklungen sicherlich auch morgen und übermorgen.

Ich bin ganz zuversichtlich, daß wir eine Lösung finden werden, die den gemeinsamen Interessen der Menschen in Europa entspricht. Das gemeinsame Interesse ist eine dauerhaft stabile Währung. Daß es bei einer solchen Grundsatzfrage Diskussionen gibt, ist eine pure Selbstverständlichkeit. Allein die Diskussion über die Ausgestaltung der Europäischen Zentralbank, die nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank eine unabhängige Zentralbank sein wird, hat erhebliches Umdenken in vielen europäischen Ländern erfordert. Deswegen ist es wenig sinnvoll, daß wir anderen Ratschläge geben, wie sie sich in diese neue Situation einfinden. Aber nach meiner Kenntnis des gegenwärtigen Diskussionsstandes bin ich ganz sicher, daß wir eine gute Chance haben, zu einer gemeinsamen Regelung zu kommen.

Wir müssen uns in Dublin natürlich vor allem auch über die Fragen von Beschäftigung und Wachstum unterhalten. Dabei sollten wir uns nicht täuschen: Es gibt auch im vereinten Europa keine Patentrezepte. Die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland empfinden wir alle als sehr bedrückend - dies um so mehr, wenn wir in diesen Tagen die neuesten Zahlen im Vergleich zu den Vereinigten Staaten sehen. Natürlich sind die Verhältnisse in den USA mit den Verhältnissen bei uns nicht vergleichbar. Aber manche machen es sich zu einfach, wenn sie meinen, daß die guten amerikanischen Daten nur auf die Schaffung minderwertiger Jobs zurückzuführen seien.

Die neuesten Daten der OECD weisen aus, daß die Amerikaner bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze Erfolge haben. Ich sage dennoch: Es ist zu einfach, diese Daten automatisch auf deutsche oder europäische Verhältnisse zu übertragen. Wir haben in unserem Land - das gleiche gilt für andere europäische Länder - ein völlig anderes Verhältnis etwa zum sozialen Klima. Wir haben auch in Grundsatzfragen der sozialen Solidarität andere Auffassungen. Die Amerikaner leben ihr Leben auf ihre Weise und wir das unsere. Dennoch kann man den Versuch unternehmen, immer wieder zu prüfen, was man von dem anderen lernen kann, wenn er gute Ergebnisse erzielt hat.

Auf der Grundlage eines gemeinsamen Berichts von Rat und Kommission werden wir in Dublin darüber beraten, wie wir die Anstrengungen der nationalen Regierungen, mehr Wachstum und Beschäftigung zu erreichen, durch abgestimmte Maßnahmen unterstützen können. Ich sage noch einmal, es sollte sich niemand täuschen: Es gibt auch im vereinten Europa keine Patentrezepte. Das Beschäftigungsproblem kann nicht durch Erklärungen gelöst werden. Jeder Mitgliedstaat - das ist der Vorschlag auch der Kommission - muß jetzt auf der nationalen Ebene die Voraussetzungen für mehr Wachstum und Beschäftigung schaffen. Dies ist aber nicht Sache der Politik allein, dies ist vor allem auch Sache der Wirtschaft und hier insbesondere Sache der Tarifpartner.

Ich will deutlich machen, daß sich das, was ich eben sagte, auf die Diskussion in Dublin, auf die aktuelle Lage bezog. Ich bin mir aber darüber im klaren - das habe ich gestern schon im Europaausschuß des Bundestages ausgeführt -, daß wir in den folgenden Wochen und Monaten bis zum Abschluß der Regierungskonferenz im Juni kommenden Jahres in Deutschland sehr intensiv über den Vertrag, der dann abgeschlossen wird, zu sprechen haben, auch über die Frage, inwieweit wir dann ein Kapitel zu dem Thema Wachstum und Beschäftigung in den endgültigen Vertrag aufnehmen. Es ist relativ leicht zu sagen: Das machen wir. - Darüber werden wir uns ziemlich schnell einig sein. Es wird aber sehr darauf ankommen, welche inhaltliche Ausgestaltung dieses Thema erfährt.

Ich bin ganz sicher, daß die Niederländer, die besonders intensiv an diesem Thema arbeiten und die im nächsten Halbjahr die Ratspräsidentschaft innehaben werden, weitere Vorschläge vorlegen. Wir sollten uns rechtzeitig miteinander unterhalten - auch das haben wir gestern im Europaausschuß besprochen -, inwieweit wir in diesem Punkt zu einer gemeinsamen Meinung und Lösung kommen. Ich halte nichts davon, bereits zum jetzigen Zeitpunkt die Fanfare der Zustimmung oder die Fanfare der Ablehnung zu blasen. Wir sollten erst die Texte vor uns haben und dann entscheiden.

Dabei wird unter anderem - darüber muß sich jeder, der darüber diskutiert, im klaren sein - die Frage der Verlagerung von Kompetenzen zu sehen sein. Wer über die Verlagerung von Kompetenzen redet, der sollte ehrlicherweise auch sagen, daß das etwas mit Geld zu tun hat. Wenn man sich dessen bewußt ist, kann man die Debatte sehr viel sachlicher und fernab jeder Polemik führen. Dazu möchte ich einladen.

Meine Damen und Herren, die Politik der europäischen Einigung ist die größte Erfolgsgeschichte unseres Kontinents. Ein Rückblick auf die vergangenen 40 Jahre seit den Römischen Verträgen läßt ermessen, welch gewaltige Wegstrecke wir in Europa gemeinsam zurückgelegt haben. Dieses großartige Kapital wollen und werden wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Wir müssen jetzt vielmehr unsere Chancen entschlossen ergreifen, wir müssen jetzt unsere Verantwortung wahrnehmen.

Europa und die Welt - das kann jeder von uns bei seinen Reisen feststellen - zählen auf eine starke Europäische Union. Dies gilt in ganz besonderem Maße im Blick auf die Herausforderungen, die im Osten und im Süden unseres Kontinents auf uns warten. Wir wollen ein Europa aufbauen, das für alle Staaten unseres Kontinents von Nutzen ist und das gemeinsam mit der Atlantischen Allianz für Frieden, Sicherheit und Wohlstand in unserer Region steht.

Meine Damen und Herren, deswegen müssen wir klar aussprechen, daß jedenfalls wir, die Deutschen - ich hoffe, alle anderen auch -, es mit der Erweiterung der Europäischen Union ernst meinen. Ungeachtet aller Probleme, die wir in der bestehenden Union haben, wäre es ein Verrat an den Idealen Europas, wenn wir sagten: Wir können jetzt nichts machen; wir müssen zunächst unsere eigenen Probleme lösen, und erst dann wollen wir uns aufmachen, um anderen in Mittelost- und Südosteuropa die Chance des Beitritts zur Union zu geben.

Ich kann nur wiederholen, was ich oft genug von dieser Stelle gesagt habe: Wir brauchen eine Intensivierung des inneren Ausbaus der Europäischen Union, aber wir brauchen auch ihre Erweiterung. Es darf nicht sein, daß wir über viele Jahrzehnte unseren Nachbarn in Mittelost- und Südosteuropa zugerufen haben: Wir würden euch gerne in unserer Union sehen, wenn nur die weltpolitische Chance dazu gegeben wäre.

Ich will es einmal mehr am Beispiel Polens verdeutlichen: Es ist für uns Deutsche - und ich denke, auch für die Polen - völlig undenkbar, daß Polen nicht Teil der Europäischen Union wird. Es wäre eine schlimme Entwicklung für Europa, für Deutschland und für Polen, wenn die Ostgrenze Deutschlands beziehungsweise die Westgrenze Polens - das ist die Oder-Neiße-Grenze, und bei Nennung dieses Namens spürt jeder, was historisch dabei mitschwingt - eine dauerhafte Grenze im Sinne einer Trennungslinie würde. Wir wünschen uns, daß an der Oder ähnliches möglich ist wie am Rhein, an dem man nach langer Zeit schlimmer historischer Erfahrungen in einer Weise zueinander gefunden hat, wie wir es uns früher besser nie vorstellen konnten.

Wir müssen jetzt die Grundlagen für diese Zukunft legen. Das Europa der Zukunft wollen wir mit Augenmaß, mit Mut und mit einem klar ausgerichteten Kompaß gestalten. Dies wird nur möglich sein, wenn alle Seiten ihre Erfahrungen und Kenntnisse einbringen, um zu einem vernünftigen Miteinander und zu vernünftigen Kompromissen zu kommen. Dazu wollen wir beim Europäischen Rat in Dublin morgen und übermorgen wesentliche Weichenstellungen vornehmen. Ich möchte Sie alle einladen, Ihren Teil dazu beizutragen.

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 103. 16. Dezember 1996.