12. Februar 1984

Rede auf der Öffentlichen Schlusskundgebung anlässlich der 26. Bundestagung des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU in Wuppertal

 

Das erste, was ich sagen möchte, ist ein herzliches Wort des Dankes an meine Freunde im Evangelischen Arbeitskreis der CDU/CSU, die in diesen Jahrzehnten - in diesem Jahr begehen wir noch ein wichtiges Erinnerungsdatum an Hermann Ehlers - eine großartige Arbeit für unsere Sache geleistet haben.

Der Evangelische Arbeitskreis hat in schwierigen Zeiten unserer Partei vor allem einen wichtigen Dienst geleistet: Er hat immer wieder darauf hingewiesen, dass es wichtig ist, die Herausforderung des Tages zu begreifen, dass aber Politik, die hinführt zur Staatskunst, immer auch eine prinzipielle Begründung haben muss, dass sie standhalten muss den Anfragen nicht zuletzt aus der jungen Generation nach der Grundordnung, nach den Wertmaßstäben, an denen sich Politik ausrichtet. Für diesen Beitrag danke ich unseren Freunden im Evangelischen Arbeitskreis, und ich möchte Sie ermutigen: Helfen Sie mit, jeder an seinem Platz, dass die Frage nach der Wertordnung, nach den Prinzipien, nach dem geistig-moralischen Koordinatensystem unserer Politik immer wieder gestellt wird und deutlich wird.

Ich darf mich bei dieser Gelegenheit bei meinem Freund Roman Herzog bedanken, der nach seiner Wahl zum Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts sein Amt als Vorsitzender niederlegen musste. Ich danke ihm für vielfältigen Rat und gute Mitarbeit in den vergangenen Jahren. Meinem Freund Albrecht Martin gratuliere ich zu seiner Wahl zum Vorsitzenden des Arbeitskreises und sage ihm und all denen, die mit ihm gewählt wurden, gute Zusammenarbeit zu. Wir brauchen Ihre Hilfe und Unterstützung, wir brauchen Ihr nachdenkliches Wort, und darum bitte ich Sie!

Sie haben sich in diesen Tagen hier vor allem auf die Bekenntnissynode der Evangelischen Kirche in Deutschland, ihre Barmer Erklärung besonnen, jenes mutige Zeichen der Bekennenden Kirche im Jahre 1934. Dieser Anruf für die Menschlichkeit und für die Menschenrechte wurde zu einer der geistigen Grundlagen des Widerstandes gegen die Nazidiktatur. Und zehn Jahre nach der Banner Erklärung fand ja in der Tat der Männer und Frauen des 20. Juli dieser Widerstand seinen großen und zugleich tragischen Höhepunkt. Ich erwähne dies, weil wir ja in wenigen Wochen, am 20.Juli 1984, zurückblicken auf 40Jahre 20.Juli 1944 und weil das Vermächtnis des Widerstandes gegen Hitler, nicht zuletzt das Vermächtnis des Widerstandes aus den christlichen Kirchen gegen Hitler, zum moralischen Fundament des Neubeginns, zur Begründung der Bundesrepublik Deutschland gehört.

Friede und Freiheit sind seit Gründung unseres Staates selbstverständliches Ziel aller Politik, gerade auch für uns in CDU und CSU. Als CDU und CSU nach 1945 von Männern und Frauen gegründet wurden, die aus den Internierungs- und Konzentrationslagern des Zweiten Weltkrieges zurückkamen, von jenen Frauen, die mit ihren Kindern aus den Kellern unserer zerbombten Städte hervor krochen und sagten: Nie wieder! - da war eine der wesentlichsten und entscheidenden gemeinsamen Grundlagen die Erfahrung des Widerstandes gegen die Diktatur. Dies ist ein geschichtlicher Auftrag, der heute noch genauso gilt wie vor 40Jahren. Ihnen allen möchte ich zurufen: Sprechen wir häufiger über diese geschichtliche Erfahrung gerade auch mit der jungen Generation!

Der erste in Berlin im Juni 1945 gewählte Vorsitzende des Reichsverbands der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands - wenn Sie so wollen, mein erster Vorgänger als Parteivorsitzender -, Andreas Hermes, ist im Januar 1945 von dem Blutgericht Roland Freislers zum Tod verurteilt worden. Sechs Monate danach war er der erste CDU-Vorsitzende. Das ist die Tradition, aus der unsere Partei nicht zuletzt und vor allem erwachsen ist! Er und viele andere Gründer der Union haben ihr Leben gegen die Diktatur gewagt, sie haben sich eingesetzt für Menschenwürde und Freiheit, für das Recht und gegen den Krieg, und diese Wurzel des Widerstandes gegen die Diktatur, das ist eine der entscheidenden Grundlagen der Union in Deutschland.

Der 50. Jahrestag der Barmer Bekenntnissynode erinnert uns aber nicht nur an den Widerstand gegen Hitler, in ihren Grundaussagen entfaltet die Barmer Erklärung auch heute eine große Wirkungskraft. Sie erinnert uns vor allem an die Öffentliche Verantwortung des Christen oder, wie es in der zweiten These der Erklärung heißt, an „Gottes kräftigen Anspruch auf unser ganzes Leben". Gerade für uns, eine Partei, die sich schon in ihrem Namen auf das „C" beruft, stellt sich die Frage nach den moralischen Leitlinien unseres politischen Handelns, nach unseren Grundwerten immer wieder.

Wir wissen um diesen hohen Anspruch. Und wir wissen auch um mancherlei Sünde und Schuld, wo wir diesem hohen Anspruch als Partei oder als einzelne nicht gerecht geworden sind. Wenn ich die Zeichen der Zeit richtig erkenne, ist bei aller materiellen Wohlfahrt in unserem Volk die seelische Not größer geworden und damit auch der Anruf an Politik, dass sie einen transzendenten Bezug haben muss. Wer politische Aufgaben übernimmt, wer im Spannungsfeld, in der Versuchung und in der Herausforderung der Macht steht, muss sein Tun immer wieder darauf prüfen, ob er vor seinem Gewissen und vor Gott bestehen kann. Eine allein durch Pragmatik geprägte Politik kann diesem Druck nicht standhalten, den der Zeitgeist, den Gruppeninteressen und den eine rein materialistische Betrachtung des Lebens ausüben. Max Horkheimer, ein ganz gewiss in dieser Frage unverdächtiger Zeuge, hat es einmal so ausgedrückt: „Politik ohne Bezug zur Transzendenz wird zum Geschäft."

Gerade in diesen schwieriger gewordenen Zeiten, in den für unser Zusammenleben entscheidenden Fragen, sind wir auf einen Grundbestand gemeinsamer Werte und moralischer Maßstäbe angewiesen. Wir in der Union bekennen uns zu den Grundwerten Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit, zur unveräußerlichen Würde des Menschen, zu den Menschenrechten. Diese Wertordnung hat tiefe Wurzeln im christlichen Glauben. Als Christen ist uns bewusst, dass wir das Ziel der Geschichte nicht kennen, dass wir aus eigener Kraft der Welt einen Sinn nicht geben können und dass wir im Ringen um den richtigen Weg Irrtum und Schuld ausgesetzt sind. Diese Einsicht in unsere Grenzen, so haben wir es im Grundsatzprogramm der CDU niedergeschrieben, bewahrt uns vor der Gefahr, Politik zu ideologisieren, bewahrt uns vor der Enttäuschung und Resignation, die menschlicher Selbstüberschätzung folgt. Aus dieser Einsicht wissen wir um die Grenzen, die staatlichem Handeln und die auch der Politik gesetzt sind.

Deswegen wenden wir uns seit langem und mit gutem Grund gegen eine ausufernde Staatstätigkeit ebenso wie gegen die Tendenz einer totalen Politisierung aller Lebensbereiche. Wir vertrauen auf die schöpferische Kraft des Menschen, auf seine moralische Bindungsfähigkeit und seine Fähigkeit, durch eigene Leistung, durch eigenes Wollen, durch eigenen Willen das Leben zu meistern! Wir lehnen staatliche Bevormundung ab, weil wir überzeugt sind, dass wir mündige Bürger unserer freien Gesellschaft sind. In der gemeinsamen Erklärung zum 50.Jahrestag der Barmer Erklärung haben die Evangelische Kirche in Deutschland und der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR dies eindrucksvoll formuliert: „Auch im Raum des Politischen leben wir mit allen Menschen im Herrschaftsbereich Jesu Christi und werden wiederum als Christen keineswegs aus Bekenntnis und Gehorsam gegenüber unserem Herrn entlassen. Dieses Bekenntnis und dieser Gehorsam müssen aber im Feld der politischen Verantwortung die Gestalt politischer Meinungs- und Willensbildung nach Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens annehmen."

So mahnt uns Barmen zum Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gebot und gleichzeitig zur Sachkunde und Sachgerechtigkeit. Wer das Gute will, muss auch die notwendigen sachgerechten Schritte tun. Dafür brauchen wir nicht nur die Einsicht in die Probleme und die Bereitschaft, auf sie gestaltend einzuwirken, sondern auch die Zuversicht, dass wir diesen Problemen gewachsen sind. Wer das Leben nur unter den Zwängen und Bedrohungen der gegenwärtigen Weltsituation sehen will, wird zu leicht Ohnmacht empfinden und resignieren. Glaubenslose Skepsis und verzagter Pessimismus vermitteln heutzutage nicht wenigen das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Angst.

Es wäre ein ungewöhnlicher Vorgang in unserem Volk, wenn zwei Kriege, zwei verlorene Kriege, wenn Millionen Tote in diesen zwei Kriegen bei uns nicht tiefe Spuren in einer jeden Familie hinterlassen hätten und wenn wir in Fragen von Krieg und Frieden nicht besonders sensibel wären. Nur - Angst ist im privaten Leben ein schlechter Ratgeber. Und Angst ist im Leben eines Volkes ein schlechter Ratgeber. Wir wollen aus der Geschichte lernen, und wir haben aus der Geschichte gelernt. Aber jene, die durch unser Land gehen und ein Geschäft mit der Angst machen, sind keine Ratgeber für die Zukunft unseres Vaterlandes. Und jene, die als falsche Propheten auf mancherlei Kathedern, auch auf mancherlei Kanzeln stehen und ihren späten Spenglerismus, ihren späten Kulturpessimismus über unsere Zeitgenossen ausgießen, verdienen zwar persönlich sehr gut dabei, aber sie leisten keinen wesentlichen Beitrag zur Zukunft unseres Landes!

Nur wer in diesen schwierigen Zeiten fähig ist, sein „dennoch" zu sagen und die Herausforderung anzunehmen - ob er dies als Christ tut oder wie mein Landsmann und Mitbürger Max Bloch im „Prinzip Hoffnung" als Marxist -, nur wer diese Maxime zur Grundlage seiner Weltbetrachtung macht, wird die Kraft haben, sich mit den Problemen unserer Zeit gestaltend auseinanderzusetzen. Martin Luther hat uns dazu ein Gleichnis hinterlassen, von dem wir uns heute mehr denn je angesprochen fühlen. Christliche Zuversicht steht gegen die aus Glaubensverlust entstandene Lebensangst in unserer Zeit. Sie muss stehen gegen Weltflucht, die von Zwangslagen und Entscheidungsnöten nichts mehr wissen möchte. Der Auftrag, die Zukunft zu gestalten, kann von uns erfüllt werden, wenn wir uns ihm mutig stellen und wenn wir Hoffnung aus unserem christlichen Glauben schöpfen. Ich finde, darüber sollten wir ohne jeden propagandistischen Hintergedanken auch Öffentlich und mit jungen Leuten wieder mehr sprechen. Politisches Tätigsein und der Glaube gehören zusammen. Aktives Gestalten und Glauben und Beten können den Weg eines Volkes in die Zukunft bereiten.

Die Aufgaben sind klar: Den Frieden in Freiheit sichern, Arbeit und sozialen Frieden im eigenen Land schaffen und, wenn möglich, überall dort, wo dies gefordert ist, soziale Gerechtigkeit gewährleisten. Das ist das Ziel, das wir uns in diesen Zeiten setzen müssen. Die Absage an Gewaltpolitik im Inneren wie nach außen, Friedensliebe und das Bekenntnis zur Freiheit und Demokratie, das ist sozusagen das Grundgesetz unserer Union seit Beginn, und das will auch das Grundgesetz unserer Bundesrepublik Deutschland. Wir leben mit der freiheitlichsten Verfassung in der Geschichte der Deutschen! Millionen unserer Landsleute drüben in der DDR, in Brandenburg, in Ost-Berlin, in Leipzig, in Weimar und in Dresden, gäben viel dafür, wenn sie die Chance hätten, in einem freien Land zu leben und ihr Glück suchen zu können.

Das erste Ziel, das erste Werk unserer Außenpolitik nach dem Krieg war die Überwindung von Feindschaft und Hass zwischen den Völkern, wie es Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung 1949 erklärt hat: Friede und Aussöhnung mit den Feinden und Kriegsgegnern von gestern. Die Demokratien des Westens wurden unsere Partner und Freunde. Zum Volk Israel schlugen wir über den Abgrund millionenfacher Schuld und des unsagbaren Leidens im Holocaust eine Brücke des Friedens. Ich weiß wie jeder hier im Saal, der zur Nachdenklichkeit fähig ist, um die Last der Geschichte und um die Verantwortung, die daraus erwächst. Mit Israel, seinen Lebens- und Freiheitsinteressen bleiben wir besonders verbunden. Aus historischer Verantwortung treten wir für gesicherte Grenzen und friedlichen Ausgleich in dieser ganzen Region zwischen Israelis und Arabern, ein.

Friede und Aussöhnung wollen wir auch mit den Völkern Mittel- und Osteuropas. Gerade uns und das polnische Volk haben lange Zeit hohe Barrieren getrennt. Sie waren entstanden durch schreckliche Verbrechen und böse Vergeltung. Es ist Schlimmes im deutschen Namen an Polen geschehen und in der Revanche Schlimmes im polnischen Namen an Deutschen. Um unserer Kinder willen, um der kommenden Generationen willen wollen wir einen neuen Anfang. Hass und Rache dürfen nicht das letzte Wort sein! Es geht nicht darum, Unrecht zu verwischen und zu vergessen, es geht um Vergebung und um die Bereitschaft, miteinander Werke des Friedens zu tun.

Hier will ich dankbar die beispielhafte Leistung der Kirchen würdigen, die mit ihrer Friedensbotschaft die Herzen der Menschen bewegt, sie geöffnet haben. So fanden sich Deutsche und Polen auf dem Weg, der sie einander wieder näherbrachte. Gerade in diesen letzten Jahren gibt es dafür eindrucksvolle Zeugnisse. Ich denke an die eindrucksvollen Zeichen praktischer Solidarität, die viele in der Bundesrepublik Deutschland, in Kirchen, Pfarrgemeinden, Jugendgruppen, Universitätsgruppen und vielen anderen gegenüber den von Sorge bedrückten polnischen Nachbarn bewiesen haben. In den zwei Jahren seit Verhängung des Kriegsrechts unter Jaruzelski wurden auf privater Ebene, in privaten Gruppen, in Kirchen und anderen Bereichen rund 300 Millionen Mark gesammelt zur direkten Hilfe für unsere polnischen Nachbarn. Das ist ein großartiges Zeichen der Versöhnung und des Miteinander.

Unsere polnischen Nachbarn haben schmerzlich erfahren, dass es jenseits der Freiheit keinen Frieden gibt, der diesen Namen wirklich verdient. Für uns ist von großem moralischem Gewicht, was die katholischen Bischöfe Polens vor zwei Jahren ihren Mitbürgern und allen in der Welt, die hören konnten, zuriefen: „Die Berufung auf Freiheit ist das Recht jedes Menschen und jeder Nation. Sie ist eine Aufgabe, jedem Menschen und jeder Nation gestellt. Wir sehen die Freiheit und den Frieden, der mit ihr verbunden ist, als Frucht des bewussten und durchdachten Handelns." Wir alle können uns nur wünschen, dass jeder in Deutschland, im freien Teil unseres Vaterlandes, diesen Satz begreifen möge.

Beides zu bewahren, den Frieden und die Freiheit, ist der deutschen Politik aufgegeben. Es stimmt, ohne Frieden kann die Freiheit nicht bestehen. Richtig ist aber auch, ohne Freiheit kann der Friede nicht dauern. Freiheit ist für uns die Bedingung des Friedens, sie kann nicht sein Preis sein. Wer auf die Verteidigung von Freiheit und Menschenrechten verzichtet, liefert sich Gewalt und Willkür aus. Gerade als Christen aber, aus unserer Verantwortung für den Nächsten, dürfen wir Gewaltherrschaft nicht Vorschub leisten. Wo die Grundwerte Freiheit und Gerechtigkeit missachtet, wo Menschenrechte verletzt werden, da ist immer auch der Friede in Gefahr. Dieser innere Zusammenhang bildet die ethische Grundlage unserer Politik für Frieden und Freiheit.

Nicht Freude an Raketen und militärischer Stärke, sondern sorgsam bedachte Gründe politischer Ethik waren es, die unsere Standfestigkeit gegenüber sowjetischem Übermachtstreben im vergangenen Jahr bestimmt haben. Niemand von uns ist raketensüchtig. Aber wir sind nach den geschichtlichen Erfahrungen auch des Jahres 1938 und des Münchener Abkommens nicht bereit, uns vor einer Drohung zu beugen und Friede und Freiheit aufs Spiel zu setzen!

Ich habe großen Respekt und hohe Achtung vor der Friedensdiskussion, der wirklichen Friedensdiskussion, in den Kirchen in beiden Teilen Deutschlands, wo auch die Sorgen und die Nöte junger Leute ihren Ausdruck gefunden haben. Aber ich wiederhole das, was ich seit meiner Wahl zum Kanzler immer wieder gesagt habe: Der Dienst in unserer Bundeswehr ist ein Friedensdienst. Unsere Söhne leisten diesen Friedensdienst gemeinsam mit den Söhnen unserer amerikanischen, unserer englischen, unserer niederländischen Freunde, damit Friede und Freiheit unseres Landes auch in Zukunft gewahrt bleiben. Wer vor Kasernentoren demonstriert - und das Recht auf Demonstration ist ein Grundrecht unserer Demokratie -, der sollte niemals vergessen, dass er eben nur deshalb als freier Bürger in einem freien Land demonstrieren kann, weil die Soldaten in der Kaserne diese Freiheit gewährleisten.

Ich füge hinzu, ich habe großen Respekt vor Gewissensentscheidungen. Wenn da ein junger Mann aus seiner persönlichen Überzeugung, aus seinem Gewissen heraus den Waffendienst ablehnt und Ersatzdienst leistet, verdient das unseren Respekt. Es war ja die geschichtliche Erfahrung der Deutschen, die uns als einziges Land in der Welt dazu veranlasst hat, das Recht auf Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe in unsere Verfassung hineinzuschreiben. Das ist ein wichtiger Zuwachs an politischer Kultur in unserem Lande. Aber gemeint war die Gewissensentscheidung, gemeint war nicht der Aufruf gegen diesen Staat. In Wahrnehmung ihres Wächteramts haben die Kirchen dazu gemahnt, im Ringen um den äußeren Frieden den inneren Frieden nicht in Gefahr zu bringen. Christen sind dazu aufgerufen, sich als Zeugen der Versöhnungsbotschaft zu bewähren. Gerade dann, wenn jemand eine politische Entscheidung für sich nicht akzeptiert, muss er auch im Widerspruch gegen diese Entscheidung die Form wahren, die christlichen Friedenswillen glaubhaft bezeugt.

Unser Dank gilt den Kirchen für dieses klare Wort, das politische Gegensätze auf den von unserer Verfassung gewiesenen Weg hinweist und das deutlich macht, dass es eben keinen Widerstand gegen demokratisch getroffene Mehrheitsentscheidungen gibt, ja dass es eine Beleidigung des Widerstands der Männer und Frauen gegen Hitler ist, wenn dieser Begriff heute in unserer Demokratie derart verfälscht wird. Wir waren und bleiben entschlossen, alle diese Diskussionen, auch ganz kontroverse Diskussionen, offen zu führen, in der Achtung vor dem Nächsten, vor seiner persönlichen Gewissensentscheidung, vor seinem friedlichen Engagement. Als Christen wissen wir um die Widersprüchlichkeit der Natur des Menschen. Aber die Bergpredigt ist eben keine Aufforderung, die Wirklichkeit zu verleugnen, sondern sie verpflichtet uns zu ethisch verantwortlichem Handeln. Politik muss stets beides bedenken, vor allem der Politiker seine Ziele und den Weg, den er wählt, sein Tun und die Folgen seines Handelns.

Wir werden das Unmögliche ganz gewiss nicht schaffen, Frieden und Wohlstand zu Bedingungen des Westens, Sicherheit aber zu Bedingungen des Ostens. In dieser friedlosen Zeit müssen wir bereit sein, zur Verteidigung von Frieden und Freiheit, wenn dies nötig ist, auch Opfer zu bringen. Deshalb haben wir im vergangenen Herbst nach vielen Diskussionen unsere Pflicht getan und den Stationierungsbeschluss gefasst. Das war eine bittere Pflicht. Aber ich denke, daraus ist uns auch eine neue moralische Autorität erwachsen, in Ost und West - auch gegenüber unseren amerikanischen Freunden - immer wieder auf neue und ernsthafte Initiativen für Abrüstung und Rüstungskontrolle zu dringen.

Ich hoffe sehr, dass es, wenn nun die notwendigen Entscheidungen im Bereich der Personalien in Moskau getroffen sind, möglichst rasch zu einer Fortsetzung der Gespräche kommt. Wir haben allen Grund zu einem vernünftigen Optimismus, dass die beiden Weltmächte aufeinander zugehen. Wir werden unseren Beitrag leisten, dass die Wege geebnet werden. Es bleibt unser Ziel, Frieden und Freiheit des Landes zu erhalten und Frieden zu schaffen mit immer weniger Waffen. Dies alles setzt konstruktive Verhandlungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung voraus. Ich sehe viele Signale, dass die Chance dafür besteht. Wir wollen sie nutzen. Dies alles hat große Bedeutung für uns in Deutschland, in unserem geteilten Vaterland.

Wir werden als Bundesregierung und ich als Bundeskanzler alles daran setzen, damit wir die Gespräche mit der DDR in einer breit und langfristig angelegten Zusammenarbeit im Rahmen des Möglichen und ohne Aufgabe irgendeines Prinzips fortsetzen und, wo möglich, intensivieren. Die Bundesrepublik Deutschland und die DDR werden ihrer Verantwortung für den Frieden in Europa und gegenüber den Menschen in beiden Teilen unseres Vaterlandes nur gerecht, wenn sie aufeinander zugehen und, wenn es möglich ist, mehr Menschlichkeit in Deutschland zu schaffen.

Unser Ja zur Einheit der Nation in der Präambel unseres Grundgesetzes ist die Grundlage deutscher Politik, ist die Ausgangsposition jeglicher deutscher Politik. Ich weiß, dass da viel Resignation gepredigt wird. Und ich weiß auch, dass die Frage der Einheit der deutschen Nation nicht auf der Tagesordnung der Weltpolitik von heute steht, dass wir auf Gewalt als Mittel der Politik verzichtet haben, dass unser Ziel nur mit friedlichen Mitteln, nur mit Zustimmung unserer Nachbarn, zu erreichen ist. Aber was sind im Lauf der Geschichte eines Volkes eine oder zwei Generationen? Wir haben nicht das Recht, zu resignieren in unserer Generation. Aber wer ja zur Einheit der Nation sagt, der muss auch ja sagen dazu, dass die Menschen in Deutschland zueinander kommen, dass wir uns nicht auseinanderleben, dass wir Bescheid wissen, wie es drüben aussieht, in Leipzig und in Dresden, und dass nicht nur jene rüberfahren, die dort Angehörige haben, sondern dass es wieder für uns alle selbstverständlich wird. Das ist nicht nur eine Frage der Politiker, das ist eine Frage beispielsweise auch von Hunderttausenden von Eltern, die in Elternbeiräten der Gymnasien darauf hinwirken sollten, dass unsere Kinder, bevor sie nach Rom oder nach Paris fahren - was ich ihnen von Herzen gönne -, auch einmal Leipzig und die Wartburg in Eisenach und Dresden und Weimar erleben!

Mein Ja zu einer solchen Politik ist ohne jede Illusion. Ich verkenne nicht, dass die DDR ganz andere Ziele im Auge hat als wir. Sie will das sozialistische Deutschland. Und da, wie auch die Führung der SED in Wahrheit weiß, die Realität des „realen Sozialismus" die Menschen drüben nicht anspricht, möchte sie die deutsche Geschichte okkupieren, um daraus nationale Ansprüche herzuleiten. Das wurde beim Luther-Jubiläum im vergangenen Jahr deutlich, das wurde vor zwei Jahren beim Goethe-Jubiläum deutlich, das wurde vor drei Jahren beim Clausewitz-Jubiläum deutlich. Ich sage Ihnen voraus, im Jahre 1985 wird es beim Bach-Jubiläum ähnlich werden.

Was hier vonstatten geht, erfordert unsere Aufmerksamkeit. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Wenn dort der Versuch gemacht wird, die deutsche Geschichte zu okkupieren, sozusagen vom mittelalterlichen Kaisertum bis hin zum Zentralkomitee der SED, dann muss man sehen, dass hier eine ganz neue Form der Herausforderung durch kommunistische Ideologien ins Land kommt. Das kann man nicht beantworten mit dem Hinweis auf bessere Autotypen und anspruchsvolleren Konsum. Hier geht es um eine sehr grundsätzliche Herausforderung unserer Politik. Wir haben beim Luther-Jubiläum aber auch erlebt, dass sich der Reformator eben nicht als Vorläufer der sozialistischen Gesellschaft eignet. Martin Luther ist ohne seinen Glauben an Gott und er ist ohne seine Kirche nicht zu denken. Wir können heute dankbar feststellen, dass die Erinnerung an Martin Luther im vergangenen Jahr die Deutschen in Ost und West näher zusammengeführt hat und dass hoffnungsvolle Zeichen in diesen Begegnungen gesetzt wurden.

Die Einheit unseres deutschen Vaterlandes lässt sich nur als Friedenswerk in einer größeren europäischen Gemeinschaft denken. Gerade wir, die Deutschen, brauchen mehr als andere Freunde in der Welt, und wir brauchen sie vor allem in Europa. Wir Deutsche brauchen Europa in besonderem Maße. Wir müssen dafür sorgen, dass die Idee der europäischen Einigung wieder neuen Glanz gewinnt, dass sie den Menschen wieder Herzenssache wird.

Für Europa steht in diesen Monaten mehr auf dem Spiel als die Lösung komplizierter Tagesfragen, Etatprobleme, Agrarprobleme in der Gemeinschaft. Ich bin nicht bereit, mich mit dem derzeitigen Zustand abzufinden. Europa muss mehr sein als eine Freihandelszone. Der Aufbruch im freien Teil Europas, und das kann ja angesichts der Weltlage nur ein Teil Europas sein, ist eine Chance für die politische Einigung Europas. Nur ein geeintes Europa kann auf Dauer unsere Freiheit und unsere demokratische Ordnung gewährleisten im Konzert der Welt. Der Rückgriff auf den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts bietet keine Chance, weder in Paris, noch in Bonn, noch in London, noch in Rom, noch in Den Haag. Das müssen wir begreifen.

Wir haben in Sachen Europa keinen Grund zur Resignation. Das Werk der europäischen Einigung ist mühsam und es ist beschwerlich. Ich erlebe das ja nun wirklich selbst beinahe körperlich. Aber zur Politik gehören eben auch die Einsicht in das Wesen der Geschichte und die Bereitschaft zur Demut vor der Geschichte. Was in dreihundert Jahren nationalstaatlichen Denkens gewachsen ist, das kann man in dreißig Jahren nicht hinwegfegen. Das Bekenntnis zur Freiheit und Demokratie ist für uns keine Frage der Geographie oder der politischen Opportunität. Menschenrechte sind überall zu schützen, und auch hier ist das Wort Europas, etwa zum Nahen Osten, endlich gefragt.

Der Christ sieht seinen Nächsten nicht allein im Haus nebenan, nicht nur in seiner Stadt oder in seinem eigenen Land. Für den Christen ist der Nächste auch jener, der in Lateinamerika, in Asien und Afrika in kaum vorstellbarer Not lebt. Dazu gehört besonders die junge Generation, die dort in einer Lebensumwelt des Elends aufwächst. Im letzten Jahr waren es wieder über zehn Millionen Kinder, die an Hunger und Not gestorben sind, weil sie die einfachsten Lebensvoraussetzungen nicht hatten. Diese Entwicklung in der sogenannten Dritten Welt ist ein Schlüsselproblem für die Zukunft der Menschheit und damit auch für die Zukunft unseres Volkes. Zur Lösung dieser Probleme unseren Beitrag zu leisten, muss trotz mancher Not im eigenen Land zu den Hauptaufgaben deutscher Politik, auch deutscher Friedenspolitik, zählen. Die Solidarität mit den Armen im Lande wie draußen in der Welt geht jeden an. Wir wissen, was wir den Kirchen, den Stiftungen, den freien Trägern und vielen Einzelinitiativen zu verdanken haben. Ich nenne hier ganz besonders auch das Engagement vieler junger Leute, ein Engagement, das in der Öffentlichkeit viel zu wenig gewürdigt wird.

Die innenpolitische Hauptaufgabe unserer Zeit ist es, die Wirtschaft wieder zu beleben, die Massenarbeitslosigkeit zu stoppen und abzubauen und für einen gerechten sozialen Ausgleich zu sorgen. Wirtschaftlicher Erfolg ist für den einzelnen wie für ein Volk wahrlich nicht alles. Aber ohne eine erfolgreiche Wirtschaft können wir die größte soziale Ungerechtigkeit, die es gibt, nämlich die Arbeitslosigkeit, nicht wirksam bekämpfen und abbauen. Dazu gehört eben eine blühende Wirtschaft. Nur wenn die Wirtschaft floriert, wenn die Betriebe Gewinn erzielen, können sie Steuern zahlen und kann der Staat seine sozialen Aufgaben erfüllen.

In dieser Phase der Wiederbelebung unserer Wirtschaft geht es auch um eine Bewährungsprobe der Sozialen Marktwirtschaft. Es muss alles getan werden, um der Wirtschaft vernünftige Rahmenbedingungen zu schaffen. Heute, noch nicht einmal ein Jahr nach der Bundestagswahl am 6. März, ist allgemein anerkannt, dass die Gesamtbilanz unserer Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik positiv ist. Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass aus der wirtschaftlichen Erholung jetzt ein Aufschwung auf breiter Front werden kann. Sie merken, ich sage: „werden kann", weil zu diesem Aufschwung der Wille aller Beteiligten gehört, dass es diesen Aufschwung wirklich gibt. Voraussetzung dafür ist, dass wir den Kurs der Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft konsequent durchhalten. Die von mir geführte Bundesregierung wird ihren Führungsauftrag erfüllen und ihr Konzept durchsetzen. Es gibt, wie ein Blick in die Welt zeigt, keine bessere Alternative zur Sozialen Marktwirtschaft. Sie allein hat sich unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft als richtig und erfolgreich erwiesen. Sie ist eine soziale Friedensordnung für freie Menschen in einem freien Land. Die Soziale Marktwirtschaft fordert den Bürger, aber sie verfügt nicht über ihn. Sie fördert seine Chancen und belohnt seine Leistung, aber sie sorgt auch für gerechten und sozialen Ausgleich bei den großen Lebensrisiken.

Gerade angesichts der hohen Arbeitslosigkeit müssen wir die Soziale Marktwirtschaft als Grundlage unseres wirtschaftlichen Tuns in dieser Bewährung erneut durchsetzen. Trotz erheblicher Anfangserfolge ist der entscheidende Schritt, etwa der große Durchbruch auf dem Arbeitsmarkt, noch nicht erreicht. Was in Jahren gewachsen ist an regionaler und sektoraler Arbeitslosigkeit kann über Nacht nicht überwunden werden. Noch bangen viele Mitbürger um ihren Arbeitsplatz, machen sich Sorgen um die Zukunft. Arbeitslosigkeit bedeutet immer auch einen Verlust an Chancen für erfülltes Dasein und privates Glück. Deswegen ist das der Punkt 1 auf der Tagesordnung der deutschen Innenpolitik.

Wir müssen alle Anstrengungen machen, um die Wirtschaft wieder zu beleben. Unsere Gesellschaft braucht Fortschritt und Innovation. Sie braucht Spitzenleistungen in Wissenschaft und Technik. Für uns als rohstoffarmes Land geht es ganz entscheidend darum, dass wir uns auf den wirtschaftlichen Wachstumsfeldern mit fortgeschrittenen Technologien behaupten und durchsetzen können. Damit ist eine der großen Herausforderungen unserer Gesellschaft angesprochen, die gerade von den Marxisten immer wieder geleugnet wird.

Wir stehen an einer Wegscheide. Wir müssen erkennen, dass jedes Stück mehr an Gleichheit ein Stück Verlust an Freiheit ist. Das ist die Grundentscheidung, vor der wir heute stehen: Ob wir noch mehr Gleichheit unter Verlust von Freiheit akzeptieren oder nicht. Und da ist ein Zweites angesprochen: Ob wir wieder fähig sind, ja zu sagen zu notwendigen Leistungseliten in unserer Gesellschaft. Es ist eine Grundvoraussetzung für die Zukunft, dass wir Leistung wieder belohnen und nicht wie bisher bestrafen und dass Leistungen in der Gesellschaft wieder beispielhaft werden für die junge Generation. Das gilt natürlich - ich sage es in den Tagen der Winterolympiade - für das Beispiel von Spitzensportlern. Das gilt aber ebenso für wissenschaftliche Spitzenleistungen, für Spitzenleistungen in anderen Bereichen der Gesellschaft, auch und gerade für wirtschaftliche Leistungen, für Unternehmungsgeist, Risikobereitschaft und Innovationsfähigkeit. In den Vereinigten Staaten von Amerika sind in der Dekade von 1973 bis 1983, also in diesen letzten zehn Jahren, rund fünfzehn Millionen neue, zusätzliche Arbeitsplätze, und zwar überwiegend in kleinen und mittleren Unternehmen, geschaffen worden. Das ist genau das Beispiel, an dem wir Maß zu nehmen haben. Wir brauchen eine Existenzneugründungswelle, die aus den kleinen und mittelständischen Schichten unseres Volkes kommt. Dort liegt die Dynamik unserer Gesellschaft.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es selbstverständlich auch in unserem Lande und in unserer Wirtschaft und gerade auch in der jungen Generation, die wirtschaftlich tätig ist, viele Mitbürger gibt, die sich das zutrauen. Aber wir müssen das Notwendige tun, dass dieses Zutrauen auch seine Chance bekommt. Der Staat muss hier vernünftige Rahmenbedingungen schaffen. Deshalb wird das Bundeskabinett am Mittwoch in acht Tagen das erste große Paket zum Thema Entbürokratisierung verabschieden. Es geht dabei um ein bürgerfreundlicheres und weniger bürokratisch ausgeformtes Baurecht, es geht um wichtige Bereiche des Gewerberechts, und wir werden in einigen Wochen dann auch im Bereich des Arbeitsrechts eine ganze Reihe von wichtigen Entscheidungen zu treffen haben.

Wir müssen mehr Freiraum für jene schaffen, die bereit sind, als wagende und wägende Unternehmer, ob im Groß- oder im Kleinbetrieb, den Durchbruch nach vom zu suchen. Zu den Leistungsträgern unserer Gesellschaft gehören aber auch die Selbständigen, die leitenden Angestellten und die erfreulicherweise wachsende Zahl der qualifizierten Facharbeiter. Es ist wichtig, dass wir ihre Leistungsbereitschaft ermutigen und anerkennen. Die Solidarität mit den Schwachen in unserer Gesellschaft können wir auf die Dauer nur dann sicherstellen, wenn diejenigen, die sich selbst helfen können, dies auch tatsächlich tun.

Wir wollen keinen Wohlfahrtsstaat, der jeden betreut und alle bevormundet. Wir haben uns einen modernen Sozialstaat geschaffen, der seinen Aufgaben aber nur dann gerecht werden kann, wenn die Bürger verstehen, dass Leistung nicht nur persönliche Herausforderung, sondern auch solidarische Pflicht ist. Wir werden, um es noch einmal zu sagen, in den ersten Monaten dieses Jahres als Bundesregierung und als Koalitionsfraktionen des Deutschen Bundestages und Gruppe der CDU/CSU-geführten Länder im Deutschen Bundesrat unseren Beitrag leisten, damit die Wirtschaft, der Unternehmer wie der Betriebsrat, vernünftige, berechenbare und verlässliche Rahmenbedingungen für ihre wirtschaftlichen Entscheidungen bekommen.

Unser Grundsatz muss sein, dass derjenige in unserer Gesellschaft, der leistungswillig ist, fleißiger ist, der mehr riskiert, mehr schafft, der mehr Verantwortung übernimmt, einen moralisch begründeten Anspruch auf höheres Entgelt, auf höheren Lohn, auf höheres Einkommen hat. Und Neid darf kein Mittel der Politik werden. Zu diesem Feld gehört auch das Thema, das in den nächsten Monaten diskutiert wird, die Reform der Einkommen- und Lohnsteuer. Wir wollen, dass sich alle Gruppen an dieser Diskussion offen beteiligen. Aber, das füge ich hinzu, dabei müssen vor allem auch die Ungerechtigkeiten gegenüber den Familien, gegenüber den Ehepaaren mit Kindern beseitigt werden. Es gilt der Satz aus meiner Regierungserklärung: Wer Kinder hat, soll weniger Steuern bezahlen als der, der keine hat. Dazu gehört für mich als zentrales Thema, immer natürlich unter dem Finanzvorbehalt, dass wir es uns leisten können, die Stärkung der Rolle und Funktion der Hausfrau und Mutter. Ich finde, es ist eine schlimme Sache, dass in unserer Gesellschaft nahezu jede Dienstleistung finanziell anerkannt und abgegolten wird, aber der wichtigste Dienst in unserer Gesellschaft, die Mutterschaft, einfach auf die Seite geschoben wird.

Es gibt keine Alternative zur Industriegesellschaft. Aber es gibt Alternativen in der Industriegesellschaft. Und ich denke, deswegen lohnt es sich, politische und soziale Phantasie aufzubieten, um den Fortschritt nach menschlichem Maß zu gestalten. Wir müssen die technischen und materiellen Möglichkeiten unserer Zivilisation in den Dienst der Werte unserer Kultur stellen.

Der rasante, oft unbehaglich-undurchschaubare Fortschritt in Wissenschaft und Technik eröffnet uns Chancen, die wir nutzen können. Aber die Verantwortung, die hier auf uns lastet, die Frage nach der Grenze des Machbaren, kann ein Christ niemals leichtfertig übergehen. Wir haben ständig die Chance, neue Möglichkeiten zu erschließen, Leben zu erleichtern und Leiden zu mindern. Aber neben der Freiheit der Forschung steht die ethische Verantwortung für die Anwendung des technischen Fortschritts. Wir wissen, dass die bloße Machbarkeit nicht zur Droge werden darf, die ethische Verantwortung außer Kraft setzt. Der Mensch als Geschöpf Gottes muss das Maß aller Dinge bleiben. Ich denke aber, dass der technische Wandel nicht nur Probleme, etwa beim Verlust bestimmter Arbeitsplätze durch Automatisierung mit sich bringt, er bringt auch Chancen. Ein verengtes Verständnis von Arbeit wird diesen Perspektiven nicht gerecht. Es gibt Arbeit eben nicht nur als Erwerbstätigkeit im Berufsleben, sondern auch in der Familie oder im Dienst für andere, in der Selbst- und in der Nächstenhilfe.

Es ist - und auch darüber sollten wir mehr sprechen - eben nur die halbe Wahrheit, wenn unser Land als Ellenbogengesellschaft charakterisiert wird. Es gibt unendlich viel privates Engagement und Hilfsbereitschaft. Wir wollen dem ehrenamtlichen Einsatz so vieler Bürger mehr Respekt und Anerkennung zollen! Wenn unsere Wirtschaft gegenwärtig nicht für alle einen herkömmlichen Arbeitsplatz bereithalten kann, so muss doch unsere Gesellschaft fähig sein, möglichst vielen eine sinnvolle Tätigkeit anzubieten. Es gilt, die Möglichkeiten zu nutzen, um Arbeitszeiten und Arbeitsplätze flexibler zu gestalten. Die Bundesregierung hat durch den Abbau entsprechender Hemmnisse die Voraussetzung geschaffen, dass die Tarifpartner jetzt bei ihren Verhandlungen solche Modelle übernehmen können.

Aber es geht auch um die weitere Ausgestaltung des weiten Felds der ehrenamtlichen Tätigkeit. Ich denke an die Betreuung älterer Mitmenschen, an Tätigkeiten im Umweltschutz, in der Landschaftspflege und in anderen Aufgabengebieten, die nicht notwendigerweise in staatlicher Regie stattfinden müssen. Ich denke, es ist hohe Zeit, dass wir den Staat wieder auf seine eigentliche Aufgabe zurückführen, dass wir privater Initiative und persönlicher Verantwortung mehr Raum geben.

Wir als christliche Demokraten haben hier schon vor über dreißig Jahren ganz prinzipiell unsere Position begründet mit der Idee der Subsidiarität. Sie verlangt Vorfahrt für die jeweils kleinere Einheit. Subsidiarität bedeutet aber auch, dass der Staat dann die kleineren Einheiten in die Lage versetzt, ihre Aufgaben zu erfüllen. Wir wollen unsere Bürger ermutigen, nicht nur zu fragen: Wer hilft mir, sondern auch sich selbst die Frage zu stellen: Wem helfe ich? Unsere Gesellschaft beweist wirkliche gelebte Humanität, wenn viele einen Dienst am Nächsten leisten, wenn viele für andere da sind und nicht nur jeder für sich selbst. Ich will es klar sagen: Wir wollen nicht die ausufernde Betreuung eines anonymen Wohlfahrtsstaates, sondern die mitmenschliche Solidarität eines lebendigen Gemeinwesens. Zum sozialen Netz des Staates, das materielle Notlagen überbrücken hilft, muss ein Netz von mitmenschlichem Miteinander treten. Es ist nicht die finanzielle Absicherung, die heute vielen fehlt. Viele suchen Geborgenheit, Zuwendung und Mitmenschlichkeit - Werte, die man eben nicht kaufen kann, aber ohne die niemand von uns leben kann. Wir wollen eine rücksichtsvollere Gesellschaft, die über den materiellen Interessen die Bedürfnisse jenseits von Angebot und Nachfrage nicht vergisst. Und Fortschritt, so verstanden, ist weit mehr als eben nur eine Vermehrung materieller Güter.

Wir müssen lernen, ein neues Gleichgewicht zu finden zwischen Mensch und Wirtschaft, Mensch und Natur, aber auch im Blick auf die junge Generation zwischen Gegenwart und Zukunft. Jungen Menschen darf der Weg zur beruflichen Erfüllung nicht verbaut werden. Hier stellen uns gerade die geburtenstarken Jahrgänge vor große Probleme. Wir haben ein großartiges Beispiel 1983 erlebt: Ohne Gesetze, ohne Verordnungen, ohne staatlichen Zwang haben viele Tausende von Handwerksmeistern, Unternehmern, Betriebsräten, Leute in den freien Berufen - im weitesten Sinne des Wortes die Gesellschaft - ihr Ja gesagt zu dieser Sonderaktion zur Schaffung von Ausbildungsplätzen.

Wir haben im letzten Jahr rund 700 000 Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt. Das ist der absolute Rekord in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Ich sehe darin ein großartiges Zeichen von gelebtem Patriotismus. Und wie wichtig dieses Ergebnis ist, können Sie daran erkennen, dass das ganze Jahr 1983 erfüllt war von dem Geschrei der sogenannten Ausbildungslüge, und es ist still geworden, weil das Erreichte eben alle Erwartungen übertroffen hat. Dafür bin ich allen dankbar, die mitgeholfen haben. Meine Bitte ist: Helfen Sie alle mit, damit die zwei geburtenstarken Jahrgänge, die 1984 und 1985 auf den Ausbildungsmärkten erscheinen, ihre Chance bekommen!

Wir sollten uns dabei von einer ganz grundsätzlichen Überlegung leiten lassen: Wir können nicht erwarten, dass der 15- oder 16jährige, der die Schule verlässt und den ersten Schritt aus der Welt des Kindes, der Schule, in die Welt des Erwachsenen und der Ausbildung geht, dass der ja sagt zu seinem Staat und mit 19jahren seine Pflicht bei der Bundeswehr tut, wenn er diesen Staat und diese Gesellschaft als eine Gesellschaft mit verschlossenen Türen empfindet. Es muss sein Staat sein! Es muss seine Gesellschaft sein! Er muss einen Sinn darin erkennen. Hier haben wir die eigentlichen Probleme, ich sage es gerade auch in einer Universitätsstadt, mit der Entwicklung der großen Absolventenzahlen an deutschen Hochschulen, mit der uns drohenden Akademikerarbeitslosigkeit noch vor uns. Es rächen sich hier die Sünden aus vielen Jahren. Über ein Jahrzehnt lang hat man jungen Leuten eingeredet, wirklichen Lebenserfolg, Glück oder gar eine eigene Position in der Kulturlandschaft unseres Landes vermittele eben nur der Stempel einer deutschen Universität. Die Art und Weise, wie die nichtakademischen Berufe in den letzten Jahren als nicht gleichwertig dargestellt wurden, hat viel zu dieser Verirrung und zu dieser Entwicklung beigetragen. Wir sollten uns darüber im klaren sein, dass die Probleme der Arbeitslosigkeit junger Akademiker mit zu den schwierigsten gehören und dass das nicht mit Transparenten und Parolen abzumachen ist. Wir müssen diesen jungen Leuten ehrlich sagen, dass es zu keiner Zeit und schon gar nicht in einer freien Gesellschaft einen Anspruch auf einen bestimmten Beruf gab, sondern dass man um diesen Beruf sich bewerben muss, dass man sich einsetzen muss, dass man selbst etwas dazu beitragen muss.

Wir brauchen ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen den wohl erworbenen Besitzständen in der Gesellschaft und den Zukunftschancen der jungen Generation. Niemand von uns hat das Recht, über die Zukunft zu verfügen, als sei sie unser gegenwärtiger Besitz. Bei der Staats Verschuldung wie bei dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen haben wir begonnen, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Aber es stehen uns schwerwiegende Entscheidungen bevor, und ich bitte Sie ganz einfach, bei all dem, was jetzt zu tun ist, den Blick auf die junge Generation zu haben, die es einfach verdient, dass wir uns um sie kümmern. Sie verkörpert die Zukunft unseres Landes.

Konrad Adenauer hat einmal gesagt: „Politik verlangt Klarheit in der Erkenntnis der Ziele. Sie muss realistisch sein, das heißt die Möglichkeiten erkennen. Sie muss mutig sein, um die auf ihrem Weg sich zeigenden Hindernisse zu überwinden. Vor allem aber verlangt politische Arbeit Ruhe, Geduld und Stetigkeit. Wenn diese Voraussetzungen vorliegen", so sagt Adenauer, „können wir mit Erfolg rechnen." Ich denke, daran hat sich nichts geändert. Es gibt Zeiten, da steht einem der Wind ins Gesicht. Und als Bundeskanzler hat man Zeiten, da muss man gelegentlich Entscheidungen treffen, die in der verfassten Öffentlichen Meinung auf Kritik stoßen. Ich kann das ertragen. Es hat mich niemand gezwungen, mich um das Amt des Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland zu bewerben. Aber, und das möchte ich doch hinzufügen, niemand von uns konnte erwarten, am Tag meiner Wahl zum Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, am 1. Oktober 1982, dass das, was wir als Wende bezeichnet haben, über Nacht vonstatten geht. Es ist zu vieles in diesen Jahren, und nicht nur bei den anderen, auch bei uns, im Sinne des umgehenden Zeitgeistes in die falsche Richtung gelaufen.

Jetzt geht es darum, zur Mitte zurückzufinden. Wenn ich ein Problem für die Deutschen heute erkenne, ist das die Frage, ob wir nach den Pendelschlägen der Geschichte wieder zur Mitte unseres Landes zurückfinden. Denn von den Extremen, ob von rechts oder links, ist niemals etwas Gutes gekommen. Wir werden unseren Weg konsequent weitergehen. Das wird noch mancherlei Blessuren kosten, aber ich bin ganz sicher, der Kompass stimmt. Meine Bitte ist: Helfen Sie mit, dort, wo Sie stehen, wo Sie mithelfen können! Und lassen Sie sich nicht anstecken von jenen Zeitgenossen, die schlechte Stimmung, gestresstes Wesen und sonstigen Pessimismus um sich verbreiten!

Wir haben schwierige Zeiten. Aber diese Zeiten werden nicht von jenen gemeistert, die uns von morgens bis abends einreden: Nichts geht mehr, sondern von jenen, die auch aus ihrem Glauben heraus ja sagen zu den Aufgaben unserer Welt. Und damit will ich schließen, wie ich oft mit dieser persönlichen Erfahrung schließe: Ich war in jenem schrecklichen Winter 1947 Schüler, 17Jahre alt. Es war die Stunde Null unseres Landes, es gab nie so viele Selbstmorde wie an Weihnachten 1947. Damals glaubten viele im Lande nach den schrecklichen Erfahrungen mit den Nazis, als wir ein zerschlagenes, geteiltes Land waren mit Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen, es gibt keine Zukunft mehr.

Aber die Männer und Frauen aus allen demokratischen Lagern, die damals förmlich aus den Kellern herausgekrochen waren, die haben nicht gesagt: Wer hilft uns, sondern die haben sich gefragt: Was können wir tun? Sie haben die Ärmel hochgekrempelt, und sie haben angefangen. So ist die Bundesrepublik Deutschland entstanden. Das war kein Wirtschaftswunder, das war der Glaube an die eigene Kraft. Und jetzt frage ich Sie, einen jeden von Ihnen, die Älteren, die dabei waren und es bezeugen können, meine Generation, die es als Kinder erlebt haben, und die Jungen, die danach gekommen sind: Wir sind doch die Kinder und die Enkel jener Gründer und Gründerinnen der Bundesrepublik Deutschland - sollten wir schwächer sein als jene, die zu ihrer Zeit unter anderen Bedingungen diese großartige Grundlage des neuen Gemeinwesens Bundesrepublik Deutschland gelegt haben? Ich glaube dies nicht, und meine Bitte ist: Helfen Sie mit, dass eben nicht Pessimismus, sondern - aus unserem Vertrauen auf Gott kommend - der Glaube an die Zukunft unseres Landes unser Handeln bestimmt. Das ist gelebter Patriotismus 1984!

Quelle: Broschüre, hrsg. von der Bundesgeschäftsstelle der CDU.