12. November 1997

Ansprache bei der Festveranstaltung zur Eröffnung des Leipziger Hauptbahnhofs

 

Herr Ministerpräsident, Herr Landtagspräsident,
meine Damen und Herren Abgeordnete,
lieber Herr Dr. Otto, lieber Herr Dr. Enders,
lieber Herr Ludewig, meine Damen und Herren,

 

ich begrüße vor allem auch die Investoren, die hier zugegen sind. Meine große Hoffnung ist, daß Sie sich in den neuen Bundesländern weiter engagieren wie schon hier, denn es gibt noch viel zu tun!

 

Erst vor wenigen Wochen begingen wir den siebten Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands. Leipzig ist wie kaum eine andere Stadt mit den bewegenden Ereignissen der Herbstes 1989 verbunden. Es war hier in dieser Stadt - ganz in der Nähe dieses Gebäudes -, wo der Ruf erklang: "Wir sind das Volk!" Wenig später hieß es dann: "Wir sind ein Volk!" Es war der Ruf nach Freiheit und Selbstbestimmung.

 

Am 3. Oktober 1990 hat sich dieser Ruf erfüllt, und die Deutsche Einheit ist Wirklichkeit geworden. Man kann gar nicht oft genug an jene tapferen Frauen und Männer erinnern, die sich nicht angepaßt hatten, an jene, die damals mit viel Mut und Zivilcourage aufstanden und der Sehnsucht nach Freiheit weltweit Gehör verschafften. Meine Damen und Herren, bei allen großen Sorgen, die wir ganz gewiß haben, ist die Deutsche Einheit für mich nach wie vor das Geschenk der Geschichte an unser Volk am Ende dieses Jahrhunderts. Sie ist jeden Tag erneut ein Grund zur Dankbarkeit.

 

In den vergangenen sieben Jahren sind wir - trotz aller Mühsal und mancher Schwierigkeiten - in den neuen Ländern ein großes Stück vorangekommen. Das ist eine großartige Leistung all jener Menschen, die in Ost und West zu diesem Aufbauwerk beitragen. Das entscheidende Verdienst gebührt dabei den Menschen in den neuen Ländern. Ihre harte Arbeit, ihre Einsatzbereitschaft, nicht zuletzt ihre Fähigkeit, sich auf völlig veränderte Bedingungen einzustellen, haben die Erfolge beim Aufbau Ost erst möglich gemacht. Dafür gebührt ihnen höchster Respekt und größte Anerkennung. Sie können sich weiter auf die Solidarität der Menschen in den alten Ländern verlassen. Der Kapitaltransfer von West nach Ost - einzigartig in der Welt - beweist, daß wir Deutschen gemeinsam die Lasten der Vergangenheit tragen und die Zukunft miteinander gestalten wollen.

 

Leipzig - und insbesondere dieser Bahnhof - ist in besonderer Weise auch ein Symbol dafür, was hier in den neuen Ländern bereits erreicht worden ist. Hier ist der Wille zum Aufbau und zur Gestaltung der Zukunft förmlich mit Händen zu greifen. Überall in dieser Stadt ist Aufbruchstimmung zu spüren. Wer wie ich - und ich tue dies gerne - regelmäßig hierher kommt, kann wie im Zeitraffer beobachten, welche ungeheure Dynamik hier am Werk ist - natürlich auch, mit welchen Schwierigkeiten solche Umbrüche verbunden sind.

 

Meine Damen und Herren, bereits bei seiner Errichtung zu Anfang dieses Jahrhunderts wurde der Leipziger Bahnhof als das schönste und größte Bauwerk seiner Art in Europa gepriesen. "Licht und Luft" - wie es damals hieß - Helligkeit und Weite zeichneten dieses Gebäude aus. Die Architektur des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zeugt von einem ungebrochenen Fortschrittsoptimismus. Diesen Optimismus haben wir heute - nach den bitteren Erfahrungen dieses Jahrhun-derts - so nicht mehr. Aber etwas von der Weite des damaligen Denkens paßt durchaus in unsere Zeit. Ich bin froh, Herr Dr. Ludewig, daß die Bahn sich jetzt gezielt der Renovierung und dem Ausbau von Bahnhöfen zuwendet. Wenn der Bahnhof ein Platz des Willkommens für die Reisenden ist, dann ist er wieder das, was er in seiner besten Zeit war: eine gute Visitenkarte der Bahn.

 

Beim Umbau dieses Bahnhofs wurde alles darangesetzt, um Traditionen zu bewahren. So präsentiert sich dieser Bahnhof als ein Monument von kulturgeschichtlichem Rang. Die Symmetrie der Anlage erinnert an eine historische Besonderheit, an die Demarkationslinie zwischen der preußischen und der sächsischen Eisenbahn.

 

In den beiden vergangenen Jahren ist der Geschichte dieses Bahnhofs ein besonderes eindrucksvolles Kapitel hinzugefügt worden: Der Umbau erfolgte in Rekordzeit unter Aufrechterhaltung des vollen Bahnbetriebs. Diese kurze Bauzeit ist beispielhaft. Sie zeigt, daß man bei gutem Willen aller Beteiligten bis hin zur öffentlichen Verwaltung Vorhaben in einer Zeit verwirklichen kann, die viele für undenkbar halten. Was wir in Deutschland brauchen, ist ein solcher Durchbruch auf allen Gebieten. Der Umbau dieses Bahnhofs in Leipzig ist ein großartiges Beispiel für diese Gesinnung.

 

Die Renaissance der Bahnhöfe in unserem Land ist vor allem auch Ausdruck der Ranaissance der Bahn. Das, was wir mit der Bahnreform auf den Weg gebracht haben, ist ein strategisches Jahrhundertwerk. Die Bahn wurde von staatlichen Fesseln befreit, von öffentlichem Dienst- und Haushaltsrecht. Hinzu kam die Übernahme von Altlasten durch den Bund in beträchtlicher Höhe.

 

Was im Unternehmen Deutsche Bahn - vor allem seit der Wiedervereinigung - geleistet worden ist, wird im In- und Ausland zu Recht als vorbildlich angesehen. Ich bin überzeugt davon, daß die Deutsche Bahn in den nächsten Jahren mit großem Enthusiasmus zeigen wird, daß sie zu den großen Gestaltern in unserem Land und auch in Europa gehört. Das entspricht dem Pioniergeist, der die Eisenbahn von jeher ausgezeichnet hat.

 

Ziel des neu gegründeten Unternehmens - das ist auch ein Ziel der Bahnreform - ist eine Steigerung der Effizienz. Das bedeutet Reduzierung der Kosten bei gleichzeitig erheblicher Verbesserung des Dienstleistungsangebots für die Kunden. Nicht zuletzt deshalb ist die Bahn bestrebt, vorhandene Flächen und Gebäude optimal zu nutzen. Daß sich die Attraktivität der Bahnhöfe für die Bahnkunden erhöht, ist - ungeachtet aller Kritik - mehr als nur ein positiver Nebeneffekt.

 

Die Bahn steht in einem harten Wettbewerb mit anderen Verkehrsmitteln, insbesondere mit dem Auto und mit dem Flugzeug. Wir sagen "Ja" zum Auto - als ein Stück gelebter Freiheit -, aber wir müssen auch umweltpolitischen Zielen Rechnung tragen. Es ist unbestritten, daß die Bahn in ökologischer Hinsicht entscheidende Vorteile bietet - geringen Energieeinsatz und niedrige Schadstoffemissionen. In diesen Tagen vor der Konferenz in Kyoto wird deutlich, wie vor allem die Industrienationen ihre Verantwortung erkennen. Natürlich brauchen wir auch das Flugzeug. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt, daß die Bahn eine große Zukunft haben wird, wenn sie konsequent ihre Leistungen weiter ausbaut, das bestehende Angebot verbessert und neue Angebote auf den Markt bringt.

 

Meine Damen und Herren, in Leipzig wird auf exemplarische Weise sichtbar, wie alte Bahnhofskultur und moderne Kundenorientierung eine überzeugende Verbindung eingehen können. Herr Oberbürgermeister, ich bin davon überzeugt, daß hier ein Beispiel dafür geschaffen wurde, wie die Situation der Innenstädte verbessert werden kann. Es kann nicht unser Interesse sein, daß die Innenstädte veröden. Das wäre ein Verlust an Kultur und an Menschlichkeit.

 

Dieser neue Hauptbahnhof steht auch beispielhaft dafür, wie ein solcher öffentlicher Komplex in Zusammenarbeit mit privaten Investoren umgestaltet werden kann. Auch dies ist in der Geschichte der Bahn eine Premiere: Erstmals ist der Bund nicht Hauptinvestor - auch wenn er mit 140 Millionen D-Mark für die technische Ausstattung beiträgt. Die Finanzierung der Einkaufs-, Dienstleistungs- und Gastronomiemeile erfolgte vollständig durch privates Kapital - zu 75 Prozent über einen geschlossenen Immobilienfonds und zu 25 Prozent durch Mittel der Entwicklungs- und Managementgruppe ECE Hamburg.

 

Die Deutsche Bank hat über ihr Tochterunternehmen, die Deutsche Immobilien Anlagengesellschaft, einen Fonds aufgelegt, für den 2600 Anleger gewonnen werden konnten. Dadurch wurde ein großer Teil der Finanzierung ermöglicht. Das erinnert mich an die Zeit des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Banken hatten als Partner der Industrie wesentlichen Anteil am wirtschaftlichen Neubeginn jener Zeit. Heute werden sie als Partner in den neuen Ländern gebraucht, um unternehmerischen Wagemut zu fördern und Innovationen zu finanzieren.

 

Der Bahnhof der Zukunft muß sich selbst finanzieren können. Auf Dauer wird er nur profitabel sein, wenn er sich durch Kundenorientierung auszeichnet. Dazu gehören interessante Zusatzangebote, die ihn zu einem Anziehungspunkt gerade auch für Reisende machen.

 

Meine Damen und Herren, die Bahn leistet einen wichtigen Beitrag, um urbane Zentren wieder mehr zu Orten des Wohnens werden zu lassen. Damit wird auch etwas von der Stadtkultur alter Zeiten wieder lebendig. Der Hauptbahnhof Leipzig wird heute im Tagesdurchschnitt von über 100000 Personen als Umsteigebahnhof genutzt. Es halten hier Hunderte von Fernzügen und S-Bahnen. Zahlreiche Parkplätze erleichtern das Umsteigen vom Auto auf den Zug. Ohne eine Vernetzung des Schienenverkehrs mit anderen Verkehrsträgern kann die Bahn nicht jene Rolle erfüllen, die ihr zugedacht ist: viele Menschen umweltfreundlich zu befördern.

 

Aus der bitteren Zeit der Teilung unseres Vaterlandes ist uns noch in Erinnerung, was es bedeutet, wenn das Menschenrecht auf Freizügigkeit systematisch mißachtet wird. Man kann sich gut vorstellen, wie viele Menschen in den Jahrzehnten der SED-Herrschaft allein in diesen Bahnhof kamen und sich danach sehnten, eine Fahrkarte nach London, Paris oder Rom lösen zu können.

 

Die Verkehrswege in unserem Land verlaufen heute nicht mehr nur von Nord nach Süd, sie gehen auch wieder von Ost nach West. Mit den Verkehrsprojekten Deutsche Einheit haben wir nach der Wiedervereinigung Zeichen gesetzt. Es geht dabei um die Hauptverbindungen zwischen den alten und neuen Ländern, und sie behalten Vorrang. Diese Priorität ist nicht nur ein Zeichen gelebter Solidarität, es ist auch ein Akt einfachster Vernunft. Neue Verkehrswege sind ein wesentlicher Teil der notwendigen Infrastruktur, damit sich Betriebe hier ansiedeln und mehr Arbeitsplätze geschaffen werden.

 

Meine Damen und Herren, unser wiedervereinigtes Vaterland steht heute vor neuen Herausforderungen. Unsere eigene Gesellschaft und die Welt um uns herum haben sich dramatisch verändert, und diese Umbrüche sind längst noch nicht abgeschlossen. Ich nenne nur das Stichwort Globalisierung. Darauf müssen wir uns einstellen, wenn wir unserem Land eine gute Zukunft sichern wollen. Wenn wir die Weichen heute richtig stellen - davon bin ich fest überzeugt -, dann haben wir Deutsche alle Chancen im 21. Jahrhundert.

 

1999 wird unsere Bundesrepublik Deutschland 50 Jahre alt. In weniger als einem Jahr begehen wir den 50. Geburtstag der D-Mark. Die Reihenfolge dieser Ereignisse hat Symbolcharakter. Allein die Tatsache, daß Sie mit dem ersten Zehn-D-Mark-Schein, den man damals bekommen hat, heute noch zahlen können, macht diese Einzigartigkeit in der deutschen Geschichte deutlich. Wenn wir die vergangenen fünf Jahrzehnte überblicken, so ist vieles sehr gut gelungen. Ich sage das voller Dankbarkeit auch gegenüber der Gründergeneration.

 

Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, daß wir angesichts des veränderten Umfelds heute vieles verändern müssen, sonst werden wir dem härter gewordenen internationalen Wettbewerb nicht standhalten können. Die deutsche Wirtschaft ist nicht schlechter geworden; aber andere holen kräftig auf. Wir werden unsere Position als Vizeweltmeister im Export nur halten können, wenn wir konsequent auf unsere Stärken setzen, Kosten reduzieren und in vielen Bereichen auf Erneuerung setzen.

 

Wir alle - Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften und alle, die Verantwortung tragen, stehen in der Pflicht, zum Abbau der Arbeitslosigkeit in Deutschland unseren Teil beizutragen. In Sachen Flexibilisierung haben wir schon viel erreicht. Aber wir brauchen darüber hinaus den Abbau weiterer Regulierungen - ich nenne das Stichwort "schlanker Staat" - und den Umbau des Sozialstaates. Dabei werden wir unser Sozialsystem nur halten können, wenn es auch in Zukunft bezahlbar ist. In einem Land, das ein Drittel seines Bruttosozialprodukts für soziale Zwecke ausgibt, stellt sich die dringende Frage, ob dieses Geld wirklich gezielt die richtigen Adressaten erreicht. Wir müssen Front machen gegen Trittbrettfahrer. Das gilt für Steuerhinterziehung und Subventionsbetrug genauso wie für Sozialbetrug!

 

Um unser Land zukunftsfähig zu machen, brauchen wir die große Steuerreform. Sie ist ein Schlüsselprojekt für mehr wirtschaftliche Dynamik, zusätzliche Investitionen und neue, zukunftsfähige Arbeitsplätze. Ohne diese Reform, die unsere Steuersätze auf ein international wettbewerbsfähiges Niveau absenkt, werden ausländische Investoren kaum in ausreichendem Maße nach Deutschland kommen. Auch die Ergebnisse der jüngsten Steuerschätzung bestätigen erneut die Dringlichkeit dieser Reform.

 

Wir können nicht den Weg des geringsten Widerstandes gehen und die Lösung der Probleme auf morgen verschieben. Das wäre unverantwortlich gegenüber denen, die heute Arbeit suchen - und auch gegenüber künftigen Generationen. So ist etwa die Reform der Alterssicherung unabweisbar angesichts der gewaltigen Verschiebungen im Altersaufbau unserer Bevölkerung. Diese Entwicklung hat mit Politik nichts zu tun, sondern die Deutschen haben sie in freier Entscheidung herbeigeführt: Mit den Italienern und Spaniern sind wir das Land mit der niedrigsten Geburtenrate in Europa geworden.

 

Gleichzeitig werden die Menschen erfreulicherweise immer älter. Das hat aber natürlich enorme Konsequenzen beispielsweise für die Rentenversicherung, ebenso für das Gesundheitssystem. Auch hier sind Reformen unvermeidlich. Aber eins steht dabei für mich fest: Alter kann kein Argument sein, wenn es um medizinisch notwendige Hilfe geht. Das gilt genauso für den sozialen Status. So kann ich mich nicht mit einem Gedanken anfreunden, daß - wie in einem anderen europäischen Land geschehen - bei einem Lebensalter über 65 Jahren Bypaß-, Hüft- und andere Operationen nicht mehr von der Allgemeinen Ortskrankenkasse bezahlt werden.

 

Die Rentenstrukturreform haben wir im Bundestag bereits verabschiedet. Die Erhöhung des Beitragssatzes auf 21 Prozent, die wir hoffentlich noch vermeiden können, macht mehr als deutlich, wie notwendig es ist zu handeln. Es ist wahr, daß auch die maßvollere Tarifpolitik zu dieser Entwicklung beigetragen hat. Dies mußten wir in Kauf nehmen, um Verbesserungen für die Wirtschaft zu erreichen und Arbeitsplätze zu sichern. Aber es ist auch zutreffend, daß normale Arbeitsplätze mehr und mehr in nicht sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt werden. Trotzdem warne ich davor, die Nutzung dieser Möglichkeit in Bausch und Bogen zu verdammen. Wir müssen sehr genau hinschauen und überlegen, was im Hinblick auf die 610-Mark-Jobs zu geschehen hat.

 

Nach wie vor dauert auch die Belastung der Rentenversicherung mit Frühverrentungsfällen an. Arbeitgeber und Gewerkschaften haben die Vertrauensschutzregelung im Gesetz zur Förderung des gleitenden Übergangs in den Ruhestand vehement gefordert. Und sie wird kräftig genutzt. In diesem Jahr haben wir voraussichtlich 240000 Fälle gegenüber 224000 Fällen im Jahr zuvor. Das entspricht Rentenausgaben von zusätzlich 5,4 Milliarden D-Mark. Dies alles muß man bedenken, wenn man über die Höhe des Beitragssatzes zur Rentenversicherung spricht.

 

Meine Damen und Herren, an der Schwelle zum neuen Jahrhundert müssen wir unsere Chancen ergreifen und dürfen - bei allem notwendigen Streit um den richtigen Weg - die Fähigkeit zum Miteinander nicht verlieren. Wir müssen

 

aufeinander zugehen - das gilt nicht nur für Parteien, das gilt genauso für die Gewerkschaften und Wirtschaft, das gilt für die Kirchen, das gilt für die Generationen. Wenn wir das tun, haben wir überhaupt keinen Grund, an unserer Zukunft zu zweifeln. Ich bin ganz sicher, daß wir Deutsche die Kraft und die Fähigkeit besitzen, die uns gestellten Aufgaben zu lösen.

 

Es gibt dafür ermutigende Beispiele. Herr Ministerpräsident Stolpe, wir beide waren im Sommer während der Flutkatastrophe am Oderbruch. Wir haben dort junge Soldaten aus ganz Deutschland gesehen. Es gab nicht "Ost", es gab nicht "West". Junge Rekruten, viele erst 18 Wochen beim Bund, haben sich dort bis an den Rand der Erschöpfung eingesetzt. Sie ließen sich nicht ablösen. Sie haben ihre Pflicht in vorbildlicher Weise erfüllt, und sie haben uns gezeigt, daß das Gerede von der "Null-Bock-Generation" nicht stimmt.

 

Wenn wir die Zukunft in Frieden und Freiheit für diese jungen Menschen sichern wollen, müssen wir das europäische Einigungswerk mit ganzer Kraft fortsetzen. Der Bau des Hauses Europa ist für die Völker unseres Kontinents von schicksalhafter Bedeutung. Letztlich können wir nur auf diese Weise Frieden und Freiheit, aber auch Wohlstand und soziale Stabilität in unseren Ländern gewährleisten.

 

Wir müssen unsere Kräfte bündeln und auch unseren Nachbarn im Osten auf ihrem Weg nach Europa helfen. Die Osterweiterung von Europäischer Union und der NATO sind gerade für uns Deutsche von besonderer Bedeutung. Wir sind das Land mit den meisten Nachbarn in Europa, und wir haben ein elementares Interesse daran, von verbündeten Demokratien umgeben zu sein.

 

Als vor dem Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit Persönlichkeiten wie Romain Rolland - ich nenne ihn für viele andere - zum Bau Europas aufriefen, galten sie als Visionäre. Die Visionäre sind die wahren Realisten unserer Zeit geworden. Nun steht die Einführung des Euro kurz bevor. Durch ihn wird die Europäische Union als Friedens- und Freiheitsordnung für das 21. Jahrhundert noch enger zusammengebunden.

 

Wir sind unterwegs in ein neues Jahrhundert, in ein neues Jahrtausend. Dieser Bahnhof wird viele Millionen Menschen auf diesem Weg sehen. Er ist ein Tor zur Stadt Leipzig, ein Tor zu diesem schönen Land Sachsen, ein Tor zu unserem deutschen Vaterland, aber auch ein Tor zu einer weiten, offenen Welt. In diesem Sinne wünsche ich allen, die hier leben und arbeiten, viel Glück, Erfolg und Segen. Hiermit erkläre ich den umgebauten Leipziger Hauptbahnhof für eröffnet!

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 101. 16. Dezember 1997.