12. Oktober 1997

Rede anlässlich der Festveranstaltung zum 150-jährigen Bestehen der Siemens AG in Berlin

 

Herr Regierender Bürgermeister,
Exzellenzen,
lieber Herr Dr. Franz,
lieber Herr Dr. von Pierer,
lieber Herr von Siemens,
meine Damen und Herren Abgeordnete,
verehrte Damen und Herren
und vor allem: liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,

 

I.

 

ich will Ihnen allen zu diesem großen Tag herzlich gratulieren. 150 Jahre des Bestehens von Siemens sind ein besonderes Ereignis. Es ist ein Tag der Freude, ein Tag des Rückblicks und ein Tag des Nachdenkens über die Zukunft. Besonders willkommen heiße ich Ihre und unsere Gäste aus dem Ausland, Geschäftspartner und Mitarbeiter von Siemens

 

aus der ganzen Welt. Ich freue mich, daß Sie zu diesem Ereignis in die deutsche Hauptstadt Berlin gekommen sind. Mein Wunsch ist, daß Sie im Rahmen Ihres Besuches die Gelegenheit haben werden, wenigstens für einige Stunden auf den Straßen und Plätzen Berlins etwas von der Aufbruchstimmung dieser Stadt zu erleben. Berlin ist die größte Baustelle Europas. Hier bündeln sich in ganz besonderer Weise die großartigen Veränderungen, die derzeit überall in Deutschland stattfinden. Es stimmt einfach nicht, was Sie gelegentlich hören und lesen können, daß in Deutschland nur noch gejammert wird. Hier in Berlin erleben Sie eine ganz andere Wirklichkeit. Ich lade Sie herzlich ein, sich hiervon während Ihres Aufenthalts selbst zu überzeugen.

 

Vor 150 Jahren, im Oktober 1847, wurde hier in Berlin die "Telegraphen-Bau-Anstalt Siemens & Halske" gegründet - ein kleiner Betrieb mit zehn Beschäftigten, der neuartige Telegraphen produzierte. Heute ist Siemens ein Elektronikunternehmen mit 380000 Mitarbeitern auf allen Kontinenten.

 

Die letzten 150 Jahre sind untrennbar verbunden mit dem Aufbau einer klassischen deutschen Schlüsselbranche, der Elektroindustrie. 150 Jahre Siemens sind zugleich 150 Jahre Weltgeschichte, europäische Geschichte und deutsche Geschichte. 150 Jahre Siemens spiegeln damit auch 150 Jahre der Geschichte unseres Landes mit allen großartigen und schrecklichen Kapiteln wider. In diesen Zeitraum fällt Deutschlands Aufstieg zu einer der großen Industrienationen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. In ihn fallen die Weltwirtschaftskrise und zwei Weltkriege mit all ihren Schrecken, mit unvorstellbarer Not und mit millionenfachem Tod. In ihn fällt die bittere und schlimme Erfahrung zweier Diktaturen, zuerst die Barbarei der Nationalsozialisten und danach die kommunistische SED-Diktatur in einem Teil unseres Vaterlandes. In ihn fallen die Bilder vom Fall der Mauer Ende des Jahres 1989 und der 3. Oktober 1990, verbunden mit der Chance, daß Menschen wieder zueinander kommen können und hier am Reichstag und anderswo nicht länger ihr Leben aufs Spiel setzen müssen, wenn sie von einem Teil ihrer Stadt Berlin, von einem Teil Deutschlands in den anderen Teil gelangen möchten.

 

150 Jahre Siemens kennzeichnen zugleich einen Zeitabschnitt rasanten wirtschaftlichen Strukturwandels in Deutschland und Europa, einer Industrialisierung, die vorher undenkbar war. Diese 150 Jahre standen ganz im Zeichen der Innovation. Auch Siemens ist diesen Weg konsequent gegangen und hat dadurch weltweit neue Märkte erobert. Siemens ist auf der ganzen Welt zu einem Begriff für Spitzentechnologie "made in Germany" geworden. Dies habe ich bei meinen Besuchen in vielen Teilen der Welt immer wieder erfahren. Ich erinnere mich zum Beispiel noch sehr gut an eine Reise nach China, bei der Sie, lieber Herr von Pierer, mich begleitet haben. Als Sie bei dieser Gelegenheit Deng Xiaoping in Peking vorgestellt wurden, war von ihm die anerkennende Bemerkung zu hören: Siemens war schon vor 100 Jahren da. Viele Generationen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses Siemens haben zu dem weltweiten Erfolg ihres Unternehmens entscheidend beigetragen.

 

Mut zur Zukunft, Kreativität und Einsatzbereitschaft war die Botschaft der Gründer des Hauses Siemens. Sie haben diese Tugenden in einer Weise vorgelebt, die nicht nur damals beispielhaft war, sondern auch heute noch für viele in Deutschland vorbildlich ist. Mit dieser positiven und zukunftsgewandten Einstellung wird Deutschland auch den heutigen Strukturwandel erfolgreich meistern.

 

In zwei Jahren endet dieses Jahrhundert, und ein neues Jahrtausend beginnt. In Deutschland, in Europa und in der Welt finden dramatische Veränderungen statt. Der Begriff "Globalisierung" erfaßt diese Entwicklung nur teilweise, weil er sich vor allem auf die wirtschaftlichen Verflechtungen bezieht, aber die enormen sozialen Umbrüche nicht klar zum Ausdruck bringt.

 

Wir befinden uns heute in einer völlig anderen Situation als vor 50 Jahren, als nach der totalen Zerstörung des Zweiten Weltkrieges Deutschland und das Haus Siemens wieder aufgebaut wurden. Niemand konnte damals ahnen, wo wir heute stehen würden. Wir sind durch die Leistungen der Gründergeneration unserer Republik zur zweitgrößten Exportnation der Welt aufgestiegen. Nun erleben wir, daß andere Länder und Regionen aufholen. Die ausgezeichnete Präsentation der Siemens-Mitarbeiter aus aller Welt, die wir gerade gesehen haben, hat uns davon eine Kostprobe vermittelt. Wir bekommen Konkurrenz aus Lateinamerika, aus Afrika, aus anderen Teilen der Welt. Vor allem - dies muß gerade hier in Berlin, unweit der deutsch-polnischen Grenze, deutlich gesagt werden - entsteht neue Konkurrenz, unmittelbar vor unserer Haustür, in den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas.

 

Wir sollten nicht vergessen, daß dies Bestandteil einer Entwicklung ist, die wir uns stets gewünscht haben. Wir haben doch unseren Nachbarn immer wieder zugerufen: Wenn ihr nur den Kommunismus abschüttelt und als freie Völker euren Weg in die Zukunft bahnt, dann wollen wir euch unterstützen beim Aufbau von Rechtsstaat, freiheitlicher Demokratie, marktwirtschaftlicher Ordnung und sozialer Stabilität. Es ist eine große Chance für Europa, wenn in Rußland, in der Ukraine, in der Tschechischen Republik, in Ungarn, um nur einige Länder zu nennen, dieser Prozeß so vorankommt, wie wir es uns gemeinsam mit diesen Völkern wünschen. Wir wollen keinen Rückfall in alte Strukturen - egal ob Kommunismus oder Militärdiktatur. Einen solchen Rückfall in überwundene Gegensätze mit immer neuer Aufrüstung müßten auch wir in Deutschland bitter bezahlen. Es muß daher unsere Politik sein, unseren Nachbarn auf ihrem Weg in die Zukunft zu helfen. Jede D-Mark, die wir dort vernünftig investieren, ist eine Abschlagszahlung für eine friedliche Zukunft auch der Deutschen. Wir wollen Werke des Friedens vollbringen. Berlin ist ein besonders geeigneter Ort für diese Botschaft.

 

Die Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen wird maßgeblich unterstützt durch den technischen Fortschritt, nicht zuletzt durch innovative Produkte aus dem Haus Siemens. So gewinnen selbst entlegene Standorte Anziehungskraft durch die neuen Möglichkeiten eines sekundenschnellen Datenaustauschs rund um den Globus.

 

Der Eintritt neuer Marktteilnehmer in die Weltwirtschaft hat ganz selbstverständlich zur Folge, daß sich die Gewichte im internationalen Handel und bei den grenzüberschreitenden Investitionen verschieben. Deutschland ist - nach den USA - zweitgrößte Exportnation der Welt. Gerade deshalb haben wir Deutschen allen Anlaß, diese Veränderungen besonders sorgfältig zur Kenntnis nehmen. Das Welthandelsvolumen ist von knapp 2000 Milliarden US-Dollar 1980 auf rund 5300 Milliarden US-Dollar 1996 gestiegen. Die Summe der grenzüberschreitenden Direktinvestitionen, Mitte der 80er Jahre noch weltweit bei rund 77 Milliarden US-Dollar, erreichte zehn Jahre danach bereits 350 Milliarden US-Dollar. Dabei ist besonders bedenklich, daß das Gewicht Deutschlands als Investitionsstandort in diesem Zeitraum abgenommen hat. Mitte der 80er Jahre gingen noch rund 3,5 Prozent aller grenzüberschreitenden Investitionen nach Deutschland. 1996 waren es nur noch knapp ein Prozent. Dies sind Zahlen, die uns aufrütteln müssen, wenn wir über die Zukunft unseres Landes sprechen.

 

II.

 

Meine Damen und Herren, die Veränderungen, die wir derzeit erleben, erfüllen viele Menschen mit Sorge. Dies ist verständlich. Wir müssen diese Sorgen ernst nehmen. Wir können die Anpassungen auch nicht einfach aufschieben, nur weil gerade diese oder jene Wahl ansteht. Wir müssen jetzt und heute handeln. Aber wir müssen den Menschen auch offen sagen, daß wir uns vor diesen Entwicklungen nicht zu verstecken brauchen, daß sie vielmehr neue Chancen für Wachstum und Arbeitsplätze der Zukunft eröffnen, wenn wir bereit sind, umzudenken und uns auf die geänderten Verhältnisse einzustellen. Wir müssen sagen, daß jeder Versuch, am Status quo festzuhalten, Rückschritt bedeutet. Und wir müssen immer wieder auch darauf hinweisen, daß es keinen Anlaß zu Mutlosigkeit und Verzagtheit in unserem Land gibt.

 

Die 150jährige Geschichte des Hauses Siemens ist dafür ein besonders gutes Beispiel. Der Erfolg der Hunderttausenden, die hier seit Generationen gearbeitet, gedacht, erfunden und gestaltet haben, vermittelt uns die Botschaft: Wir schaffen es. Warum sollen diese Generationen besser gewesen sein als die heutige Generation? Warum sollen die Lehrlinge von heute schlechter sein als ihre Meister? - Ich kann dies nicht erkennen. Wir haben die Kraft und die Fähigkeit, die Herausforderungen der Zukunft zu bestehen. Und wir haben die Aufgabe, unser Wissen und unsere Erfahrung an die nächste Generation weiterzugeben. Deshalb ist es hier und heute unser Pflicht umzudenken und zu handeln.

 

Deutschen Unternehmen bieten sich - bei allen Umstellungsschwierigkeiten, die es natürlich auch gibt - vielfältige Chancen, auf den Weltmärkten Flagge zu zeigen, und zwar mit ausgezeichneter Qualität ihrer Waren und Dienstleistungen, mit erstklassigem Service, mit Zuverlässigkeit, kurzum, mit all dem, was den Begriff "made in Germany" auszeichnet. Dieser Begriff - daran sollten wir uns gerade in unserer Zeit erinnern - war vor etwas mehr als 100 Jahren vom britischen Parlament eingeführt worden, um den heimischen Markt vor deutschen Importwaren zu schützen. Unsere Vorväter haben darüber nicht lamentiert, sie haben gehandelt. Sie haben aus dieser Diskriminierung einen Qualitätsbegriff gemacht, der weltweit zu einem Gütezeichen für unsere Wirtschaft geworden ist. Wenn wir uns an dieser Einstellung orientieren, brauchen wir keine Angst vor Konkurrenz irgendwo in der Welt zu haben. Entscheidend ist, daß wir handeln. Wir müssen in Deutschland zum Beispiel stärker auf Forschung und Innovation setzen und mit Hochtechnologieprodukten neue Märkte gewinnen.

 

Dies ist nicht nur die Aufgabe von Forschungsinstituten, Industrieunternehmen und Universitäten. Es ist die Aufgabe des ganzen Volkes, denen Respekt zu erweisen, die etwas Besonderes leisten. Wir dürfen nicht zulassen, daß Leistungseliten verteufelt werden. Wir brauchen überall in unserem Land - in der Wissenschaft genauso wie im industriellen Alltag und im sozialen Bereich - Männer und Frauen, die eben mehr tun, als die ihnen zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen - was schon sehr viel bedeutet -, und die sagen: Ich will darüber hinaus noch etwas beitragen.

 

Dazu gehört auch, daß wir uns nicht dem Glauben hingeben, wir würden unseren Kindern einen guten Dienst erweisen, wenn wir bei den Anforderungen an das Leistungsniveau in unseren Schulen Abstriche hinnehmen, weil dies bequemer ist. Jeder muß wieder begreifen, daß wir die bestmögliche Ausbildung in allen Bereichen unserer Gesellschaft brauchen.

 

Meine Damen und Herren, zum Pessimismus besteht überhaupt kein Anlaß. Deutschland hat im internationalen Standortwettbewerb exzellente Voraussetzungen. Wir müssen unsere Stärken aber endlich auch wieder konsequent ausspielen, anstatt unsere Stärken stets zu zerreden. Natürlich weiß auch ich, daß noch viel zu tun ist. Aber wahr ist auch, daß wir eine Vielzahl von Vorteilen aufzuweisen haben. Zu den wichtigsten Aktivposten unseres Landes gehört die ausgezeichnete Infrastruktur, zum Beispiel im Telekommunikationsbereich. Viele Produkte aus dem Haus Siemens tragen dazu maßgeblich bei. Unsere Arbeitnehmer sind hochqualifiziert. Unser duales Ausbildungssystem ist weltweit anerkannt und ein Unterpfand für unsere Zukunft. Daß jetzt in der Europäischen Union im Hinblick auf den bevorstehenden Beschäftigungsgipfel darüber nachgedacht wird, wie wir auch europaweit zu einem vergleichbaren System kommen können, zeigt das Ausmaß der internationalen Wertschätzung für unser Ausbildungssystem. Margaret Thatcher, die mit positiven Aussagen über Deutschland allgemein zurückhaltend umgegangen ist, hat gesagt: Das duale System in Deutschland ist das beste Ausbildungssystem der Welt.

 

Wenn dies so ist, dann lassen Sie uns doch nicht ständig darüber grübeln, wie sich dieses System beschädigen läßt, sondern lassen Sie uns die Ärmel hochkrempeln und sagen: Das behalten wir. - Das heißt konkret - ich sage dies an die Adresse von Unternehmensleitung und Betriebsrat -, daß wir jungen Männern und Frauen, die gerade die Schule verlassen, einen erstklassigen Ausbildungsplatz anbieten müssen. Natürlich setzt dies voraus, daß sie die notwendigen Anforderungen erfüllen und überhaupt eine Lehrstelle wollen. Sie müssen begreifen, daß auch ein Lehrling nicht nur Rechte, sondern ebenso Pflichten hat. Auch das gehört zum Lebensalltag.

 

Entschieden widersprechen möchte ich dem immer wieder anzutreffenden Eindruck, die steigende Zahl von Lehrstellenbewerbern sei eine unerträgliche Last. Das Gegenteil ist richtig: Die Jugend ist das größte Kapital für die Zukunft unseres Landes. Wahr ist: Die Zahl der Jugendlichen, die einen Ausbildungsplatz suchen, liegt in diesem Jahr mit rund 630000 wiederum höher als im Vorjahr. Diese Zahl wird bis zum Jahr 2006 noch weiter ansteigen. Dann erst macht sich die demographische Entwicklung bemerkbar, und die Zahl der Schulabsolventen geht steil nach unten.

 

Wir haben die moralische Pflicht, diesen jungen Menschen zu einer bestmöglichen Ausbildung zu verhelfen. Und wir werden dies - allen Unkenrufen zum Trotz - auch in diesem Jahr im großen und ganzen wieder schaffen. Wir beobachten derzeit noch ein Defizit von etwa 18000 Stellen. Ich bin ganz sicher, daß wir auch diese Lücke bis Weihnachten noch beseitigen können, wenn vielleicht auch nicht in allen Teilen unseres Landes. Besonders problematisch ist die Lehrstellensituation in den neuen Ländern - deswegen helfen wir mit einem Lehrstellensonderprogramm Ost, insbesondere weil dort die mittelständische Wirtschaftsstruktur noch nicht voll entwickelt ist. Ich bedanke mich ausdrücklich bei Ihnen, Herr von Pierer, dafür, daß Sie hier noch einmal wiederholt haben, das Notwendige zur Sicherung der Ausbildung in unserem Land zu tun. Große Veränderungen sind bei den Berufsfeldern im Gange. Ich werde meinerseits alles tun, damit die Modernisierung der Berufsbilder die Prozesse beschleunigt und nicht durch bürokratische Vorschriften aufgehalten wird.

 

Meine Bitte an Sie ist: Sprechen Sie jetzt schon im Vorstand und mit Ihren zuständigen Mitarbeitern darüber, wie Sie zwischen heute und 2005 Ihre Zahl an Ausbildungsplätzen sehr hoch halten können. Das ist das beste Geburtstagsgeschenk, das Sie sich selbst machen können.

 

Meine Damen und Herren, zu den Aktivposten unseres Standorts gehört - ich sage das hier ganz bewußt, weil das ein Stück Tradition Ihres Hauses ist - nicht nur wirtschaftliche Stabilität, sondern auch ein gutes, ein vernünftiges soziales Klima. Unübersehbar ist, daß wir hier nach dem Zweiten Weltkrieg die Weichen richtig gestellt haben. Ich bin fest davon überzeugt: Wenn eine spätere Generation die Geschichte der zweiten deutschen Republik aufschreibt, wird ein eigenes Kapitel den Tarifpartnern, den Gewerkschaften und den Arbeitgebern, gewidmet sein - dem, was wir Tarifautonomie nennen. Ich halte es für eine der besten Erfahrungen der Deutschen nach dem Krieg, daß wir hier möglichst wenig staatlich reglementiert und den Tarifpartnern möglichst viel Freiraum für ihre Vereinbarungen gelassen haben. Natürlich gab es immer wieder Auseinandersetzungen. Niemand kann erwarten, daß ein Betriebsratsvorsitzender stets öffentlich bekundet, es sei alles bestens. Denn er will ja wiedergewählt werden. Dies gehört zur Wirklichkeit eines Landes. Da ich selbst auch wiedergewählt werden will, kann ich diese Haltung sehr gut nachvollziehen.

 

III.

 

Meine Damen und Herren, der wirtschaftliche Aufschwung wird sich weiter beschleunigen. Wir erwarten für dieses Jahr ein reales Wachstum von zweieinhalb Prozent des Bruttoinlandsproduktes. 1998 dürften wir sogar auf drei Prozent kommen. Die Exportsituation hat sich ganz wesentlich verbessert. In manchen Bereichen boomt der Export regelrecht. Die Binnenkonjunktur hinkt noch hinterher, doch gibt es auch hier deutliche Anzeichen der Verbesserung. Aufrütteln muß uns jedoch - das muß man klar und deutlich sagen -, daß die Arbeitslosigkeit viel zu hoch ist. Die Zahl von über vier Millionen Arbeitslosen ist eine Verpflichtung für alle Verantwortlichen zum Handeln. Jeder ist aufgefordert, darüber nachzudenken, was wir tun können und die entsprechenden Konsequenzen daraus zu ziehen. Das zentrale Ziel deutscher Politik ist und bleibt es, die Voraussetzungen für mehr Beschäftigung weiter zu verbessern. Ich bin sicher, daß wir jetzt in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ein gutes Stück vorankommen werden, auch wenn dies langsamer geht, als ich es mir wünsche. Ich habe sehr begrüßt, daß in diesen Tagen auch der Vorsitzende des DGB für das nächste Jahr eine ähnlich vorsichtig optimistische Prognose gegeben hat.

 

Ich danke in diesem Zusammenhang jenen in den Gewerkschaften und Unternehmen, die in den letzten eineinhalb bis zwei Jahren positive, beschäftigungsorientierte Veränderungen im Tarifbereich ermöglicht haben. Die Vereinbarungen zur Altersteilzeit im Hause Siemens, von der bereits gesprochen worden ist, und im Metallbereich insgesamt sind dafür ein gutes Beispiel. Ich erwähne ebenso die neuen Tarifregeln in der chemischen Industrie. Daß ich dabei den Nachsatz hinzufüge: "Warum haben wir das nicht schon vor drei Jahren erreicht?", werden Sie verstehen. Dennoch: Ich bin dankbar dafür, daß es jetzt durchgesetzt worden ist. Dies ist eine konsequente Entwicklung in eine vernünftige Richtung.

 

Die Politik hat zur Verbesserung der wirtschaftlichen Aussichten einen ganz wesentlichen Beitrag geleistet. Wir haben die Öffnung der Märkte entschlossen vorangetrieben. Denken Sie beispielsweise an die durchgeführten Privatisierungen, die auch für Innovationen wichtig sind. Ich erinnere an die Lufthansa, die Vorbereitung bei der Bahn, den Börsengang der Deutschen Telekom. Weitere Stichworte für die Modernisierung des Standortes Deutschland sind das Finanzmarktförderungsgesetz und das Multimediagesetz.

 

Wir haben die Abschaffung der Substanzsteuern beschlossen, vor allem der Gewerbekapitalsteuer, die für Innovationen und Investitionen besonders schädlich ist. Wir haben darüber hinaus ein Thema angepackt, das auch bei vielen Mitarbeitern von Siemens auf bittere Kritik gestoßen ist: Die Neuregelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Ich füge gleich hinzu: Ich hätte viel lieber gesehen, wenn sich die Tarifpartner mit etwas gutem Willen im Frühjahr des letzten Jahres auf eine Lösung geeinigt hätten. Wahr ist aber - das wird heute nicht mehr gesagt -, daß durch diese Gesetzgebung und die Folgevereinbarungen in einer ganzen Reihe von Tarifverträgen die Unternehmen und die Arbeitsplätze im Ergebnis von Kosten in einer Höhe von weit über zehn Milliarden D-Mark entlastet wurden.

 

Nicht gelungen ist es in diesen Wochen - damit ist es aufgeschoben, auf gar keinen Fall jedoch aufgehoben -, eine Einigung bei der Steuerreform zu erzielen. Ich bedauere das sehr. Denn für mich ist völlig klar, daß wir die Steuergesetze dramatisch verändern müssen. Ziel muß es sein, die deutschen Steuersätze auf ein international wettbewerbsfähiges Niveau zurückzuführen und einer Erosion der Steuerbasis entgegenzuwirken. Nach dem Scheitern der Verhandlungen müssen nun die Wähler entscheiden. Damit verzögert sich die Steuerreform um zwei Jahre - zum Nachteil der deutschen Volkswirtschaft und vor allem zum Nachteil des Arbeitsmarktes.

 

Ich sage ganz offen und ohne Vorwurf an unsere Nachbarn: Es ärgert mich, daß in Österreich und in den Niederlanden ganz offen - und zwar korrekt - mit dem Hinweis auf deutlich niedrigere Steuersätze als bei uns Investoren aus Deutschland abgeworben werden. Dieser Zustand kann uns doch nicht gleichgültig lassen. Es geht darum, daß sich Leistung mehr lohnen muß, daß Investitionsströme wieder nach Deutschland fließen und daß Kapital im Land bleibt. Kapitalströme lassen sich nicht durch Regierungs- und Parlamentsbeschlüsse anordnen, sondern sind die freie Entscheidung des Marktes. Diese Erkenntnis müßte eigentlich jedem klar sein.

 

Meine Damen und Herren, wir stehen vor einer weiteren dramatischen Veränderung, die von vielen noch nicht richtig erkannt wird: der Altersaufbau unseres Landes. Deutschland ist, nach Spanien und Italien, das Land mit der niedrigsten Geburtenrate in Europa. Zugleich - und das ist eine erfreuliche Tatsache - werden die Menschen bei uns immer älter. Die Lebenserwartung von Männern liegt inzwischen bei 73 Jahren und die von Frauen bei 79 Jahren. In unserem Land leben derzeit über drei Millionen über 80jährige. Der Anteil dieser Altersgruppe an der Gesamtbevölkerung wird weiter zunehmen. Das muß notwendigerweise Konsequenzen haben. Wenn man gleichzeitig bedenkt - wir haben gerade die Zahlen bei den Ingenieuren gehört, Sie haben also das Beispiel in Ihrem Betrieb vor Augen -, wie lange ein junger deutscher Akademiker braucht, bis er die Universität verläßt und wie lange sein Siemens-Kollege in anderen Ländern der Welt braucht, dann muß uns dies zusätzlich alarmieren. In der Europäischen Union erreichen junge Männer im Durchschnitt mit 25 Jahren ihren Abschluß, bei uns hingegen erst mit knapp 30 Jahren, Wehrpflicht beziehungsweise Zivildienst eingerechnet. Hinzu kommt, daß die Männer im Durchschnitt - ich spreche in diesem Zusammenhang von den alten Bundesländern, weil hier im Vergleich mit der Vergangenheit die genauesten Zahlen vorliegen - mit knapp unter 60 Jahren in den Ruhestand gehen. Wenn ich das auf den Akademiker übertrage - mit 30 Jahren in den Beruf, mit 60 Jahren in den Ruhestand bei einer Lebenserwartung von 73 Jahren, dann ergibt dies fast 45 Jahre Ausbildung und Ruhestand gegenüber 30 Jahren im Beruf.

 

Eine solche Rechnung kann auf Dauer nicht aufgehen. Deshalb müssen wir gerade im Blick auf die ältere Generation dafür sorgen, daß deren Rente sicher bleibt. Wir müssen aber auch an die Lehrlinge denken, von denen ich eben sprach, die jetzt 15, 16 oder 18 Jahre alt sind und nach aller Voraussicht die Mitte des kommenden Jahrhunderts erleben werden. Ihre Fragen sind berechtigt: Werden wir angesichts der sich abzeichnenden demographischen Verschiebungen noch die notwendige Luft zum Atmen haben, wenn wir einmal Rentner sind? Deswegen muß jetzt gehandelt werden. Jetzt muß den jungen Leuten offen gesagt werden: Ihr müßt - so, wie sich die Dinge entwickeln - selbst stärker Verantwortung übernehmen. Das ist machbar und bedeutet überhaupt nicht, daß die Welt einstürzt. Aber es ist notwendig, rechtzeitig ehrlich darüber zu sprechen und dann auch entsprechend zu handeln.

 

In diesem Zusammenhang füge ich gleich hinzu: Es geht nicht darum, den Sozialstaat abzubauen, wie manche Demagogen behaupten. Es geht darum, ihn finanzierbar zu halten und dafür entsprechend umzugestalten. Wir geben eine beachtliche Summe, rund 1000 Milliarden D-Mark, das heißt, jede dritte Deutsche Mark, die wir in Deutschland erwirtschaften, für Sozialleistungen aus. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß dies mit immer weiter steigenden Lohnzusatzkosten erkauft wird, die bleischwer auf den Arbeitsplätzen lasten. Deswegen müssen wir handeln.

 

Das heißt zum Beispiel, daß wir nicht zulassen dürfen, daß sich eine Minderheit in der Gesellschaft als Trittbrettfahrer Sozialhilfe, Arbeitslosenunterstützung oder andere Leistungen aus dem Sozialstaat erschleicht. Dies ist ebenso verwerflich wie Steuerhinterziehung und Subventionsbetrug. Hier geht es nicht allein um Geld. Hier geht es um eine Fehlentwicklung in unserer Gesellschaft, die wir entschlossen korrigieren müssen. Es darf in Deutschland nicht so weit kommen, daß diejenigen, die arbeiten, Leistung erbringen und ehrlich sind, hinterher als die Dummen dastehen, auf deren Rücken die Trittbrettfahrer sich einen schönen Lenz machen. Das kann nicht unsere Gesellschaft sein.

 

IV.

 

Meine Damen und Herren, Herr Dr. Franz hat uns vorhin in seinem hochinteressanten und eindrucksvollen Bericht geschildert, daß das Haus Siemens niemals nur auf Deutschland fixiert war, sondern stets international - das heißt europa- und weltoffen - gedacht und gehandelt hat.

 

Dies ist eine zutiefst zukunftsweisende Einstellung. Am Ende dieses Jahrhunderts können wir in Dankbarkeit feststellen, daß die Sehnsucht derjenigen jetzt in Erfüllung geht, die auf den Schlachtfeldern des Ersten und Zweiten Weltkrieges, in den Gefangenen- und Konzentrationslagern des Dritten Reichs und der Stalin-Ära davon geträumt haben, ein Haus Europa zu bauen. Wir bauen jetzt in Europa gemeinsam dieses Haus mit einer Wohnung für alle Völker unseres Kontinents, die dort in Frieden leben wollen, mit einem Dauerwohnrecht für unsere amerikanischen Freunde und mit einer vernünftigen Hausordnung, auf deren Grundlage natürlich immer wieder einmal aufkommende Auseinandersetzungen nie mehr im Streit auf der Straße, sondern in einer zivilisierten Form im Haus ausgetragen werden.

 

François Mitterrand hat in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament wenige Wochen vor seinem Ausscheiden aus dem Amt den Abgeordneten mit großer Eindringlichkeit zugerufen: Nationalismus, das ist der Krieg. Natürlich droht jetzt in Europa kein Krieg. Dennoch besteht kein Anlaß, sich in falscher Sicherheit zu wiegen. In den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts haben die Menschen auch geglaubt, es werde nie wieder Krieg geben in Europa. Das Ergebnis kennen wir. Wer klug ist, versucht aus der Geschichte zu lernen. Die Lektion für uns kann nur heißen: Frieden und Freiheit hängen entscheidend davon ab, daß wir in Europa weiter zusammenwachsen. Natürlich bleiben wir weiterhin Deutsche, Belgier, Italiener oder Franzosen, wenn wir Europäer werden. Wir wollen, daß daraus unsere gemeinsame Kultur wächst und daß die deutsche Kultur einen wichtigen Beitrag zur europäischen und zur abendländischen Kultur leistet. Die Zeit ist günstig dafür, Aufschub können wir uns nicht leisten.

 

Deswegen brauchen wir jetzt auch die europäische Wirtschafts- und Währungsunion - für 370 Millionen Menschen im größten Wirtschaftsraum der Welt, mit all ihrer Leistungskraft, mit ihrem Erfindergeist und mit ihrem Können. Wir wollen, daß der Euro eine stabile Währung wird und daß er international neben dem Dollar seinen Platz einnimmt. Aus verständlichen Gründen haben wir, die Deutschen, dabei mehr Ängste als andere. Im nächsten Jahr feiern wir das 50jährige Bestehen der D-Mark. Diese 50 Jahre waren für die Deutschen eine Zeit der Stabilität und des Friedens. Die D-Mark gab es noch vor der Gründung der Bundesrepublik, vor der Einführung der Flagge und der Nationalhymne. Für viele Deutsche ist sie ein Symbol für 50 gute Jahre. Wir werden jedoch nicht weitere 50 gute Jahre haben, wenn wir glauben, wir könnten in der Welt von heute - mit ihren dramatischen Veränderungen - unseren Weg alleine gehen. Das Haus Europa, in dem wir als Deutsche oder - wie Thomas Mann so treffend formuliert hat - als europäische Deutsche und deutsche Europäer leben, ist die Zukunft. Aus 150 Jahren Geschichte des Hauses Siemens können wir lernen, wie wichtig Offenheit, Fairneß, Menschlichkeit und Toleranz gegenüber anderen Völkern, gegenüber anderen Ländern sind.

 

Meine Damen und Herren, wir wollen unseren Weg zielstrebig fortsetzen, und wir haben noch viel zu tun. Der Weg ist gelegentlich steinig, manchmal gehen wir ihn auch murrend. Aber wir haben ein klares Ziel vor Augen: Wir wollen es schaffen, wir wollen auch weiterhin in der Weltliga mitspielen und nicht absteigen. Innehalten bedeutet Rückschritt und Abstieg. Das, was zuvor für die Prinzipien der Führung des Hauses Siemens gesagt wurde, gilt sehr eindrucksvoll auch für unser tägliches Tun für unser gemeinsames Vaterland. Dazu brauchen wir Einsicht, Mut zur Konsequenz und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Dazu möchte ich Sie herzlich einladen. Ich wünsche allen, die im Hause Siemens Arbeit und Brot finden, und ihren Geschäftspartnern viel Glück und Segen auf dem künftigen Weg. Bei einem Haus, das 150 Jahre alt ist, ist schwer zu sagen, wie viele Jahre es noch steht, aber bei dem Selbstverständnis von Siemens glaube ich, daß weitere 150 Jahre das mindeste ist, was ich Ihnen wünschen darf.

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 97. 5. Dezember 1997.