13. Juni 1976

Rede vor der Katholischen Akademie Hamburg

 

Das Thema der Tagung gibt mir Gelegenheit, zu einer zentralen Frage unserer politischen Ordnung Stellung zu nehmen. Diese Ordnung geht davon aus, dass Politiker über ihr Handeln und über die Werte, die dieses Handeln bestimmen, Rechenschaft geben. Um es vorweg zu sagen: Für mich als Demokraten sind Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit Grundlage und Auftrag meines politischen Handelns.

Als Christ verstehe ich diese Grundwerte als Ausdruck eines religiösen Bekenntnisses. Das ist keine beschauliche Ausflucht in eine bequeme Teilhabe an ewigen Wahrheiten. Es ist ein verbindlicher Handlungsauftrag, Politik aus dem „C" heraus zu gestalten. Kant meint zu Recht, unser Handlungsauftrag reiche weiter als unsere Erkenntnisfähigkeit. Der Glaube und die darin begründete Verpflichtung auf die Grundwerte helfen, diese Spannungen zu ertragen. Der christliche Politiker reduziert den Menschen nicht auf seine gesellschaftlichen Bedürfnisse. Für ihn sind die Grundwerte nicht über Mehrheiten manipulierbar. Sein Handeln ist letztlich durch Werte bestimmt, die zwar immer wieder neu zu aktualisieren sind, die aber dem kurzfristigen Wechselspiel von Meinungsbildung und Mehrheitsentscheidung vorgegeben bleiben.

Für die Väter unserer Verfassung war es eine wichtige Erkenntnis, dass die staatliche und gesellschaftliche Ordnung ohne einen Grundkonsens über politisch-moralische Werte nicht bestehen kann. Das Grundgesetz wurde zum Ausdruck eines leidenschaftlichen Bekenntnisses zur Menschenwürde und zu den Menschenrechten als Grundlage der neuen politischen Ordnung. Es besteht kein Zweifel, dass dieses Bekenntnis der Grundstimmung dieser Zeit entsprach. Sie fand ihren Niederschlag in der lebhaften Naturrechtsdiskussion, aber auch in der Diskussion einer neuen Wirtschaftsordnung. Diese Phase wurde jedoch bald durch eine lange Periode abgelöst, die beherrscht war durch konkrete Nöte, durch die Sorgen des Alltags, durch den Glauben an die problemlösende Kraft des wirtschaftlichen Wachstums. In dieser Zeit haben wir viel erreicht. Heute freilich wissen wir auch: Der materielle Wohlstand allein vermag die Menschen nicht zu befriedigen. Er lässt ihre Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach den gemeinsamen Werten, nach den Zielen unseres Gemeinwesens nicht verstummen, wirft sie vielmehr um so nachdrücklicher auf.

So begann vor allem die junge Generation immer bohrender nach der Legitimität von Staat und Gesellschaft zu fragen. Durch Utopien und ihre Radikalisierung wurden vielfältige Hoffnungen geweckt; doch sind diese Hoffnungen bald zerbrochen. Das Missverständnis des zur Zeit amtierenden Bundeskanzlers, Politik lasse sich auf eine Mischung aus Demoskopie und Technologie verkürzen, ist keine Antwort auf diese Fragen. Enttäuschte Erwartungen und fehlende geistige Orientierungen begünstigen Resignation, Zynismus und Gleichgültigkeit. Der Befund scheint mir eindeutig: In unserer Gesellschaft gibt es viele Hoffnungen, Sehnsüchte und Sinnfragen. Sie sind durchaus ein Kennzeichen für die geistige Kraft unseres Gemeinwesens. Bleiben sie aber ohne Antwort, so können sie sehr rasch in Destruktionen umschlagen. Deshalb ist die Frage nach den Grundwerten für mich kein theoretisches, kein „akademisches", sondern ein höchst politisches Thema.

Die Antwort auf die Frage nach den Grundwerten des Staates ist im Grundgesetz gegeben. Es bindet den Staat an oberste Grundwerte des menschlichen Zusammenlebens. Das Grundgesetz kennzeichnet nicht ein unkritisches Vertrauen in die integre Ordnungsmacht des Staates. Es ist skeptisch auch gegen mögliche Ansprüche und Zumutungen demokratisch legitimierter Mehrheiten. Das Grundgesetz kennt deshalb nicht nur formale Grundrechte, sondern auch materielle Grundwerte. Mit der Errichtung des Grundgesetzes hat sich das Staats- und Verfassungsverständnis der Deutschen grundsätzlich gewandelt. Die Verfassungsväter begnügten sich nicht damit, Institutionen zu schaffen und verbindliche Regeln vorzuschreiben, die stabile Regierungen ermöglichten und Über- griffen des Staates vorbeugten. Der Staat sollte sich an Werten orientieren, die für eine humane Ordnung unverzichtbar sind. Nach dem Verständnis des Grundgesetzes schließen sich liberale Rechtsstaatsidee und materielle Verfassungsordnung nicht aus - im Gegenteil: Sie ergänzen sich notwendig.

Man würde unser Verfassungsverständnis sehr verkürzen, wenn man darin lediglich die Reaktion auf die vorauf gegangenen politischen Ereignisse sehen wollte. Es ist jedoch unübersehbar, dass unserer politischen Ordnung aus der bewussten Abkehr von der Diktatur, aber auch aus politischen Fehlentwicklungen der Weimarer Zeit starke Kräfte zugeflossen sind.

Die nach dem Zusammenbruch geborene Generation kennt diese Erfahrungen nur aus der Überlieferung. Hier ist den verantwortlichen Politikern und den politischen Parteien eine große Aufgabe erwachsen. Es kann allerdings nicht nur darum gehen, die Gefahren eines schrankenlosen Liberalismus oder die Schrecken einer Diktatur lebendig zu erhalten. Ein Gemeinwesen kann nicht nur von der Abwendung von einzelnen Abschnitten seiner Geschichte leben. Es braucht eine politische Ordnung, die aus der Tradition auch Ermutigungen schöpft, die fähig ist, Orientierungen für die Zukunft zu leisten. Ich bin der Überzeugung, dass unsere Verfassungsordnung diesen Anforderungen in ausgezeichneter Weise gerecht wird.

Es ist eine vornehmliche Aufgabe auch der Parteien, die ideellen Grundlagen unseres Gemeinwesens stets zu vergegenwärtigen und den durch die Verfassungsordnung gesteckten Rahmen durch programmatische Aussagen auszufüllen. Unsere freiheitliche Ordnung lebt von der Gestaltungskraft und von der Verantwortungsbereitschaft des einzelnen. Sie verträgt sich weder mit fatalistischer Resignation, dass der einzelne doch nichts verändern könne, noch mit dem blinden Glauben, dass alle gesellschaftlichen Verhältnisse machbar seien.

Doch bereits an dieser Stelle setzt die Kritik ein, welche die Grundlagen unserer freiheitlichen Ordnung prinzipiell in Frage stellt: Verstößt die Bindung an bestimmte Werte nicht gegen den Freiheitsanspruch eines freiheitlich-demokratischen Staates? Ist die Verpflichtung des Staates auf bestimmte Werte, auf ein bestimmtes Menschenbild nicht ein Widerspruch gegen die von der Verfassungsordnung garantierte Freiheit der Meinungen und Weltanschauungen oder gegen den in dieser Ordnung vorausgesetzten Wertpluralismus? Ist das Verbot von Parteien und Vereinigungen, welche die staatliche Grundordnung bekämpfen oder die Abwehr von Radikalen vom öffentlichen Dienst, die sich nicht zu den Grundwerten dieses Staates bekennen, nicht ein Verstoß gegen den freiheitlichen Geist unserer politischen Ordnung? Diese Fragen berühren in der Tat einen zentralen Punkt unseres Verfassungsverständnisses.

In der Weimarer Zeit ging die Staatslehre bekanntlich vom Relativismus als der gedanklichen Voraussetzung der Demokratie aus. Danach sei dem demokratischen Verständnis gemäß jeder politischen Auffassung, die sich die Mehrheit verschaffen könne, die Führung im Staat zu überlassen. Wir haben durch höchst leidvolle Erfahrungen gelernt, dass ein schrankenloser Wertrelativismus keine geeignete Voraussetzung für einen freiheitlich-demokratischen Staat ist. Wir haben gelernt, dass ein freiheitlicher Staat nur bestehen kann, wenn er bereit ist, unverzichtbare Grundwerte anzuerkennen und sie entschieden gegen ihre Feinde und Verächter zu verteidigen.

Soziale Ordnungen können nicht auf einen Grundkonsens zumindest über die Regeln des politischen Entscheidungsprozesses verzichten, wenn sie sich nicht von vornherein in Frage stellen wollen. Unverzichtbare Grundlage für das soziale Zusammenleben ist das Vertrauen in den Bestand und die Wirksamkeit gewisser Grundregeln der politischen Ordnung. Wer politische Freiheiten beansprucht, um sie zu beseitigen, setzt sich zu seinem eigenen Verhalten in Widerspruch. Er erwartet Freiheiten, die zu achten er anderen versagt. Er missbraucht damit das ihm entgegengebrachte Vertrauen.

Die Grundwerte sind das ideelle Integrationselement, das in besonderer Weise dazu beiträgt, die geschichtliche Identität unseres Staates zu stiften. Sie schaffen die Grundlage, um staatliche Macht und Kultur zu verbünden. Sie begründen die Autorität des Staates, die es ihm ermöglicht, Recht und individuelle Ethik wenigstens teilweise in Einklang zu bringen. Sie sind die Voraussetzungen für eine Rechtsgemeinschaft, die nicht nur wegen des Rechtszwanges das Recht befolgt, sondern es auch innerlich bejahen kann. Die wertgebundene freiheitliche Ordnung setzt Maßstäbe, die an die Politik hohe Anforderungen stellen. Sie braucht unser Engagement; sie fordert aber auch unsere erhöhte Wachsamkeit.

Bei allem Streit um die Reichweite einzelner Grundwerte darf ein Kernbestand an gemeinsamen politischen Überzeugungen nicht angetastet werden. Dies gilt in besonderem Maße für die demokratischen Grundregeln im Kampf um politische Alternativen. Auch in der härtesten politischen Auseinandersetzung darf die Gemeinsamkeit der Demokraten nicht verlorengehen. Es genügt nicht, Grundwerte in Verfassungstexten festzuschreiben. Sie müssen, wenn sie ein tragfähiges Fundament des Staates bleiben sollen, ein Stück gelebter Verfassung sein. Es genügt nicht, die Durchsetzung der staatlichen Grundwerte allein den Gerichten, voran dem Bundesverfassungsgericht, zu überlassen, die allerdings einen kaum zu überschätzenden Beitrag für die Festigung des freiheitlichen Staates geleistet haben. In einer an Grundwerten orientierten politischen Ordnung ist Tagespolitik immer auch ein Stück Verfassungspolitik, ein Stück Aktualisierung und Konkretisierung der verfassungskräftig festgelegten Maßstäbe.

Es ist Aufgabe aller Staatsgewalten, auch der Gesetzgebung und der Regierung sowie aller demokratischen Kräfte, zur Erhaltung und Festigung des gemeinsamen Grundkonsenses, der in den verfassungsrechtlichen Grundwerten zum Ausdruck kommt, beizutragen. Man macht sich diese Aufgabe zu leicht, wenn man sich auf die Antwort zurückzieht, dass der Staat nur die Grundrechte, nicht aber die gesellschaftlichen Grundwerte zu schützen habe. Auch die Grundrechte drücken gesellschaftliche Werte aus. Sie stehen, wenn sie ihren fundamentalen Charakter für das Gemeinwesen nicht verlieren sollen, in einem engen Zusammenhang mit den Wertvorstellungen der Gesellschaft und ihren Gruppen. Dies kann sicher nicht dazu fuhren, dass alle gesellschaftlichen Wertvorstellungen Verfassungsrang erhalten. Es mag auch in der konkreten Situation unterschiedliche Auffassungen über den Inhalt und die Reichweite des staatlichen Wert- und Güterschutzes geben.

Der Staat ist aber nicht nur der Notar von Mehrheitsmeinungen, das Herrschaftsinstrument, um die Wertvorstellungen der jeweiligen Mehrheit - und sei sie noch so schmal - durchzusetzen. Unsere politische Ordnung ist vielmehr eine Ordnung des Maßes, der Geduld, des wechselseitigen Gebens und Nehmens. Sie vertraut auf die rationale Kraft der Argumente und Gegenargumente. Sie ist eine Ordnung, die in hohem Maße politische Tugenden vom Staatsmann, vom Politiker und nicht zuletzt vom einzelnen Bürger fordert.

Der Politiker hat nicht nur die Aufgabe, Wertvorstellungen der Gesellschaft zu registrieren. Er hat die Pflicht, für die Grundwerte der Verfassung aktiv einzutreten. Dies heißt, er muss ernsthaft versuchen, ein Maximum an Konsens über Grundwerte der Gesellschaft, die verfassungsrechtlich relevant sind, anzustreben. Dies gilt vor allem im Hinblick auf zentrale nationale Fragen und wichtige Rechtsfragen, die elementare Formen der menschlichen Existenz und des sozialen Zusammenlebens berühren.

Ich muss leider feststellen, dass die derzeitigen Koalitionsparteien auch in solchen Fragen immer wieder den Versuch unternehmen, ihre Auffassung ohne Rücksicht auf die abweichenden Überzeugungen und fundamentalen Wertvorstellungen großer Bevölkerungsteile durchzusetzen. Hier wird seit Jahren eine Veränderungsstrategie geübt, die den Bestand an gemeinsamen Wertvorstellungen in erheblichem Umfang in Frage stellt und damit die freiheitliche, an gemeinsamen Grundwerten orientierte Ordnung gefährdet.

Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, dass es weder ein besonderes CDU/CSU-Recht noch ein SPD-FDP-Recht gibt. Ein von parteipolitischen Doktrinen verformtes Recht, das Teile des Volkes in ernste Gewissensnöte stürzt oder das Unfrieden stiftet, ist kein Recht. Rechtspolitik ist das begründete Angebot von Rechts vor schlagen, die für alle akzeptabel sind, und die Bereitschaft, dieses Angebot im Kampf der Meinungen zu erproben. Die Parteien haben die Aufgabe, in der rechtspolitischen Auseinandersetzung die für sie spezifischen Gesichtspunkte und unverzichtbaren Grenzen zu verdeutlichen und zur Geltung zu bringen. Dies heißt aber auch, dass Parteien, die Regierungsverantwortung tragen, eine ernsthafte Verständigung mit der Opposition suchen. Die Koalitionsparteien haben es an diesem ernsthaften Versuch immer wieder fehlen lassen. Erst unter dem entschiedenen Widerstand der Unionsparteien ist es gelungen, zum Beispiel in der Eherechtsreform, im Hochschulrecht und im Bodenrecht zu einer für alle Seiten noch akzeptablen Regelung zu kommen.

Wer allerdings im Kompromiss nur den beklagenswerten Verzicht auf die Durchsetzung der eigenen Vorstellungen sieht, beweist einen erheblichen Mangel an demokratischem Verständnis. Eine freiheitliche demokratische Ordnung geht von der vernünftigen Kompromissbereitschaft, von der Fähigkeit der Parteien aus, vor allem in grundlegenden Fragen die Verständigung anzustreben sowie unterschiedliche Konzeptionen und Interessen zum Ausgleich zu bringen. Bei der Neuregelung der Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs bedurfte es erst eines Spruches des Bundesverfassungsgerichts, um die Koalition von Übergriffen abzuhalten. Die Entscheidung des Gerichts hat die Möglichkeit geboten, die versäumte Gelegenheit nachzuholen und sich auf eine von allen Parteien getragene Lösung, die greifbar nahe war, zu einigen. Die Koalition hat diese Chance nicht genutzt. Sie hat es in einer der wichtigsten rechtspolitischen Fragen der Nachkriegszeit vorgezogen, Koalitionsstärke unter Beweis zu stellen, statt den allgemeinen Konsens auf der Basis der gemeinsamen, durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verdeutlichten Grundwerte zu suchen.

Mit diesem Beispiel berühren wir einen weiteren Punkt, der für die künftige Entwicklung unserer staatlichen Ordnung von größter Bedeutung ist. Unsere Verfassungsordnung ist nicht nur bedroht durch eine Politik, die durch mangelnde Verständigungsbereitschaft die Wirksamkeit einzelner Grundwerte schmälert. Gefährlicher noch sind die Bestrebungen, die Verfassung durch gesellschaftspolitische Gesamtkonzeptionen ideologisch zu überlagern. Die Politik wird zum Mittel gesellschaftspolitischer Glaubenskriege. Die soziale Ordnung ist nur noch insoweit politisch relevant, als sie sich in das ideologische Gesamtkonzept fügt. Der einzelne wird zum verfügbaren Objekt der Gesellschaftspolitik. Heils versprechen und Totalitätsansprüche sind eng verbunden. Sie begründen das Monopol, die Verfassungsordnung für alle verbindlich zu interpretieren.

Wir sollten allerdings der Versuchung widerstehen, auf die kollektivistischen Ideologien mit gesellschaftspolitischen Gesamtkonzeptionen zu antworten, die den Anspruch erheben, für alle sozialen Probleme eine Lösung bereitzuhalten. Wir brauchen heute programmatische Aussagen. Ihre unverzichtbare Basis sind jedoch die Grundwerte unserer Verfassungsordnung. Partei- wie Staatsprogramme haben die Aufgabe, diese Grundwerte zu aktualisieren und im Rahmen ihrer Reichweite durch eine klare Wertpräferenz eine Antwort zu geben auf die vordringlichen Probleme, die es in einer konkreten Situation zu lösen gilt. Dies verlangt den entschlossenen Kampf gegen Ideologien mit Totalitäts- oder Perfektionsansprüchen.

Die historische Erfahrung hat uns gelehrt, dass das Jagen nach Endzwecken oder der Versuch, Perfektionsvorstellungen in der Gesellschaft durchzusetzen, zu den gefährlichsten Erscheinungen im politischen Leben eines Volkes gehören. Solche Ideologien begreifen heute soziale Gerechtigkeit als den perfekten Versorgungsstaat. Sie verstehen die Verfassung als den großen Sozialplan, als den Schaltplan zum Eingriff in Vermögenssubstanzen, zur Planung und Kontrolle der Wirtschaft, zur kollektiven Mitbestimmung in allen Lebensbereichen und schließlich zur Garantie bei allen Lebens Schwierigkeiten des Bürgers.

Wir haben dem entgegenzuhalten, dass die Verfassung kein Planungskonzept ist, kein Entwurf einer guten Gesellschaft, keine Vorwegnahme einer im voraus festgelegten Zukunft. Die Verfassung erhält die Maßstäbe für unsere politischen Entscheidungen. Es ist die Aufgabe der Politik, auf der Basis der Grundwerte der Verfassungsordnung den mühsam abzuwägenden Ausgleich von sozialen Bedürfnissen und sozialen Leistungen zu erarbeiten.

Wer die soziale Ordnung abstrakten Plänen oder ideologischen Gesetzlichkeiten unterwirft, verfehlt die soziale Wirklichkeit, die Bedürfnisse und Nöte der Bürger. Eine freiheitliche Politik ist dagegen der dauernde Versuch, ideelle Vorgaben mit den konkreten Bedingungen einer sozialen Situation in Einklang zu bringen. Für diese Politik genügt es nicht, langfristige Programme aufzustellen. Sie erfordert vielmehr die dauernde Bereitschaft, auf die situativ auftretenden Probleme mit Umsicht zu antworten. Das heißt, soziale Veränderungen müssen überschaubar und ihre Folgen notfalls korrigierbar sein. Denn nicht die Veränderung als solche schafft mehr Gerechtigkeit, sondern die Veränderung, die neue Leistungen zu einem sozialen Preis erbringt, der von allen akzeptiert werden kann.

Für die CDU lasst sich die Antwort auf die Frage nach den Grundwerten nicht positivistisch geben durch Verweis auf die bloße Faktizität der Gesellschaft. Wer dies versucht, stellt im Ergebnis den Menschen und seine Würde zur Disposition. Wer den Menschen primär als gesellschaftliches Wesen begreift, vermag im Zweifel sein Recht und seine Freiheit nicht gegen die Übergriffe der Gesellschaft zu schützen. Es genügt nicht zu sagen, dass der Staat die Grundwerte nicht geschaffen habe, sondern sie vorfinde. Er findet sie vor - aber nicht empirisch in der Gesellschaft, sondern in der Natur des Menschen.

Anders als von dieser Ebene her lassen sich die Grundrechte dem mehrheitlichen Zugriff der Gesellschaft nicht entziehen, lässt sich die Gefahr einer normativen Verabsolutierung der Gesellschaft nicht bannen. Deshalb beschreibt unser Entwurf für ein Grundsatzprogramm zu Beginn in einfachen und klaren Worten unser Verständnis vom Menschen: „Aus christlichem Glauben lässt sich kein bestimmtes Programm ableiten. Aber er gibt uns das Verständnis vom Menschen. Darauf beruht unsere Politik."

Der Mensch kann weder als Individuum noch als Kollektiv über den Menschen verfügen. Für den Christen verdankt der Mensch Ursprung und Ziel seines Lebens nicht sich selbst: „Verantwortliche Politik hat vor allem die unantastbare Würde der Person zu schützen. Die Würde des Menschen bleibt unabhängig von seinem Erfolg oder Misserfolg und unberührt vom Urteil der anderen." Aus unserem Verständnis vom Menschen leiten wir die Grundwerte unseres Handelns ab. Diese Grundwerte sind für uns christlich begründet, aber es sind deshalb keine christlichen, sondern allgemein menschliche Grundwerte. Die Grundwerte dienen nicht der Politik einer Partei, sondern dem Gemeinwesen im ganzen.

Für die CDU ist Freiheit weder eine kollektive noch eine individualistische Kategorie: Wir verstehen Freiheit weder als eine gesellschaftliche Leistung noch als Ausdruck individualistischer Emanzipation. Für uns gründet Freiheit in der Würde des Menschen als Person, in seinem Recht, sein Leben nach seinem Entwurf zu leben. Niemand soll seinem Nächsten vorschreiben dürfen, aufweiche Weise er glücklich zu sein hat.

Diese persönliche Freiheit des Menschen ist nur als gemeinsame Freiheit aller möglich. Unser Begriff von Freiheit meint nie nur die eigene Freiheit, er schließt immer auch die Freiheit des anderen, des Nächsten ein. Freiheit als schöpferische Fähigkeit des Menschen verwirklicht sich auch in der Leistung. Der Mensch hat seine Würde vor jeder Leistung. Aber seine Freiheit erfordert auch, dass wir ihm Möglichkeiten zur Leistung schaffen und diese dann anerkennen. Im Leistungsprinzip erkennen wir nicht allein und primär seine ökonomische Bedeutung, sondern die Chance auf Selbstverwirklichung. Dieses Verständnis von Leistung erfordert aber auch, jenen solidarisch zur Seite zu stehen, die nicht die Freiheit, das heißt die Möglichkeit haben, so viel wie andere zu leisten.

Solidarität gibt der Leistung ihren sozialen Sinn. Dabei wissen wir: Es genügt nicht mehr, den Menschen ihre Freiheit zu lassen - wir müssen sie aktiv fördern, indem wir die Eigenverantwortung des einzelnen und sein solidarisches Handeln stärken. In der Solidarität sehen wir die Grundlage jeder Gemeinschaft. Sie ist Ausdruck der sozialen Natur des Menschen. Für uns Christen ist Solidarität die politische Konsequenz des christlichen Gebotes der Nächstenliebe. Wir lehnen ein passives Verständnis von Solidarität ab, demzufolge der einzelne immer nur Ansprüche an andere hat. Die gemeinsame Solidarität aller ist vielmehr nur durch persönliche Initiative, Leistung und Verantwortung auf Dauer zu verwirklichen. Jeder hat nach seinen Kräften dazu beizutragen, dass die Gemeinschaft aller für den einzelnen einstehen kann. Solidarisches Handeln ist vor allem dort geboten, wo keine mächtigen Verbände zur Seite stehen, um partielle Interessen durchzusetzen. Ich denke an die kinderreichen Familien, die berufstätigen Frauen, an die Behinderten und an die alten Menschen. Hier stellt sich die Neue Soziale Frage.

Der dritte Grundwert schließlich, an dem wir unsere Politik orientieren, ist die Gerechtigkeit. Grundlage der Gerechtigkeit ist die Gleichheit aller Menschen in ihrer personalen Würde - ohne Rücksicht auf Macht, Leistung oder Versagen des einzelnen. Gleichwohl sprechen wir nicht einfach von Gleichheit, und dies aus gutem Grunde: Die ursprüngliche Gleichheit und Freiheit der Menschen führt zu Vielfalt, Unterschieden, Ungleichheiten. Die Menschen wollen sich frei entfalten können und gerecht behandelt werden.

Wer gesellschaftliche Gleichheit politisch erzwingen will, beseitigt die Freiheit der Menschen - und schafft neue, schlimmere Ungleichheiten. Chancengleichheit hingegen soll das Recht für jeden gewährleisten, sich in gleicher Freiheit so unterschiedlich zu entfalten, wie es seiner Eigenart entspricht. Wer Gleichheit der Ergebnisse und der menschlichen Daseinsformen anstrebt, verhindert Chancengleichheit. Er geht davon aus, dass der Mensch total verfügbar sei und zerstört die personale Verantwortung. Wer alles gleichmachen will, kann gleiche Chancen nicht versprechen. Gerechtigkeit verlangt, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln.

Diese Grundwerte - Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit - ergänzen und bedingen einander. In einer inzwischen historischen Epoche, in der die politischen Freiheiten wenigen vorbehalten waren, bedeutete mehr Gleichheit auch mehr Freiheit für viele. Dies hat sich geändert. Heute ist nicht die Gleichheit der Menschen bedroht, sondern ihre Freiheit. Die Forderung nach mehr Gleichheit zeigt heute nur allzu oft ihr freiheitsfeindliches Gesicht. Eine rigorose Verwirklichung der Gleichheit bringt den Menschen um sein Recht auf Individualität.

Das Ideal mancher sozialistischen Reformer scheint die glatt gemähte Wiese zu sein - auch wenn auf ihr dann keine Blumen in bunter Vielfalt und unterschiedlicher Größe mehr blühen. Wer über den Durchschnitt herausragt, gerät in unserer Gesellschaft schnell unter einen Rechtfertigungszwang. Viele haben vergessen: Nur eine - nicht bloß im ökonomischen Sinne! - schöpferische Gesellschaft kann auch eine sozial gerechte Gesellschaft sein.

Die Grundwerte gehen die Lebens Wirklichkeit jedes einzelnen Bürgers an. Es versteht sich daher von selbst, dass die Kirchen die Diskussion um die Grundwerte und ihre Verwirklichung in der Politik mit großer Aufmerksamkeit verfolgen. Viele Politiker haben aber noch immer große Schwierigkeiten, zu den Kirchen und ihrer gesellschaftlichen Aufgabenstellung ein ungestörtes Verhältnis zu finden. Die einen befürchten, der Staat werde als Instrument zur Durchsetzung weltanschaulicher Positionen missbraucht. Sie meinen, im Jahre 1976 vor einem „Kirchenstaat" warnen zu müssen. Sie schlagen noch einmal die Schlachten der Vergangenheit. Die anderen ziehen sich auf den weltanschaulich neutralen Staat zurück und überlassen es den Kirchen, sich um die Grundwerte und ihre Anerkennung in der Gesellschaft zu sorgen. Bei den Grundwerten geht es aber um unser aller Angelegenheit - und nicht nur um jene der christlichen Kirchen.

Die Grundwerte unserer Verfassung stehen in einem engen Zusammenhang mit dem von den Kirchen tradierten Menschenbild. Man kann wohl sagen, dass es ohne die historischen Leistungen der Kirchen den modernen Staat in seiner heutigen Gestalt nicht gäbe. Auch wer nicht das religiöse Selbstverständnis der Kirchen teilt, sollte nicht verkennen, dass ihre Aufgabenstellung für eine politische Ordnung, die an Grundwerten orientiert ist, von großem Gewicht ist. Sie sind - trotz aller ihrer inneren Schwierigkeiten - nach wie vor die großen Ordnungskräfte, die in einer säkularisierten Welt die Frage nach einer die Gesellschaft übersteigenden Wirklichkeit, nach einer letzten Sinngebung der menschlichen Existenz offenhalten.

Es ist nicht das Gebot der Stunde, die Kirchen in ihre Schranken zu verweisen. Heute geht es vielmehr darum, dass beide Seiten, die Politik und die Kirchen, wieder mehr aufeinander hören. Die CDU braucht und sucht den steten Dialog mit den Kirchen. Ich bin überzeugt, dass dieser Dialog zum Nutzen aller ist. Wir werden den freiheitlich-demokratischen Staat und eine freiheitliche Gesellschaft mit Erfolg nur verteidigen können, wenn wir uns für die Verwirklichung der Grundwerte als Ausdruck einer humanen Lebensordnung mit ganzer Kraft einsetzen.

Quelle: Broschüre, hrsg. von der Bundesgeschäftsstelle der CDU.