13. Juni 1996

Rede in der 110. Sitzung des Deutschen Bundestags in der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung zur Auswärtigen Kulturpolitik

 

Meine Damen und Herren,

ich denke, diese Debatte ist von einer Bedeutung, die es gebietet, dass wir jetzt nicht so abwegige Themen erörtern sollten wie die Frage, ob wir in Deutschland eine neue Militärkultur oder Vergleichbares praktizieren.

Ich bin froh, dass wir heute diese Debatte führen, auch wenn wir viele andere wichtige Probleme in unserem Lande erörtern. Denken Sie nur an die Fragen im Zusammenhang mit der Ökonomie und der Arbeitslosigkeit. Ich sehe darin - was mancher vielleicht tut - auch keinen Gegensatz. Ich sehe vor allem, dass es notwendig ist, einer Entwicklung zu widerstehen, die nicht nur in Deutschland, sondern weltweit zu beobachten ist.

Vereinfacht will ich es so sagen: In der Zeit des Kalten Kriegs stand im Zentrum der internationalen Debatte vor allem die Frage von Verteidigung, von Rüstungspolitik und all dem, was damit zusammenhing. Wir haben jetzt in Europa - bei über 20 Millionen Arbeitslosen ist das ganz selbstverständlich -als vorrangiges Thema die soziale Sicherung, den Kampf um eine Verbesserung des Aufschwungs. Es gibt manche Zeitgenossen, die meinen, dass in diesem Zusammenhang die Diskussion über die Lage der Kultur, auch im eigenen Land, in Europa und der Welt zweitrangig sei. Ich möchte dem ausdrücklich widersprechen. Das vor allem ist der Grund, warum ich hier spreche.

Die Erfahrungen dieses Jahrhunderts haben uns Deutschen gezeigt, wie wichtig es ist, das kulturelle Bild unseres Lands offen und ohne jede Einschränkung darzulegen und zu zeigen. Nicht Zensur ist gefragt, sondern eine offene Gesellschaft, wie wir sie uns wünschen und wie sie unserer Verfassungsordnung entspricht. [...]

Es ist für die Zukunft Deutschlands auch unter ökonomischen Gesichtspunkten - das ist kein Gegensatz - von großer Bedeutung, dass die Kulturnation Deutschland ihren Platz einnimmt. Wir sind eine lebendige Demokratie und stellen uns zu Recht immer wieder dem Vorwurf, dass wir die Kulturnation Deutschland nicht leidenschaftlich genug verteidigten und darstellten. Ich finde, die heutige Debatte ist eine gute Chance, einen Beitrag dazu zu leisten. Dass es dabei Defizite gibt, dass es in einer Zeit, in der wir bei den Haushalten einsparen müssen, schwierig ist, die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, ergibt sich von selbst. Das ist übrigens keine spezifisch deutsche Erfahrung; das beobachten wir gegenwärtig in allen Parlamenten in der Welt.

Die heutige Debatte setzt keinen Schlusspunkt. Vielmehr soll sie in die Öffentlichkeit ausstrahlen. Es geht um das Selbstverständnis der Kulturnation der Deutschen, um die Frage, was wir waren, was wir sind, was wir sein wollen, und natürlich auch darum, wie wir gesehen werden. Um hier überzeugend und erfolgreich zu sein, brauchen wir einen wachen Sinn für geistige Strömungen und kulturelle Entwicklungen, für den historischen Standort und für den Beitrag der Kultur der Deutschen zur Menschheit.

Dass das jeweils strittig ist, weil die Standorte strittig sind, ist doch normal. Ich kann eigentlich nicht verstehen, wenn gelegentlich in der Debatte versucht wird, ideologische Mauern zu errichten. Die Verfassungsordnung unseres Landes und vor allem die Idee unserer Verfassung stellen auf geistige Offenheit ab. Das wollen wir auch in der Auswärtigen Kulturpolitik deutlich machen.

Wir haben schließlich unsere Erfahrungen. Wir haben die Erfahrung, dass die Kultur für die nationale Identität von allergrößter Bedeutung ist. In den Jahren der Trennung zwischen DDR und Bundesrepublik Deutschland war es wichtig, dass wir eine gemeinsame gewachsene Kultur hatten. Dies hat sich in den Jahrzehnten der Teilung als besonders wichtig und bedeutsam erwiesen. Ich bin mehr als einmal bei internationalen Besuchen gefragt worden: Ist Goethe eigentlich ein DDR- oder ein BRD-Deutscher? An diesem Beispiel konnte man sehr gut erkennen, dass eine solche Inbesitznahme abwegig und eine Verfälschung der Geschichte ist.

Der Versuch, auf deutschem Boden eine sogenannte sozialistische Nationalkultur zu errichten, zuvor eine nationalsozialistische, hat sich als untauglich erwiesen. Selbst die SED-Diktatur musste in ihrer Endphase einsehen, dass ohne den Rückbezug auf die deutsche Kulturnation ein deutscher Staat nicht zu machen ist.

Wir haben erlebt - auch das gehört in dieses Bild -, dass die deutsche Kultur schon der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten widerstand. Viele Träger der Kultur wurden damals verfolgt, gerade auch die jüdischen, und viele wurden vom Regime ermordet. Anderen gelang es zu entkommen. Sie wurden im besten Sinne des Wortes zu Botschaftern des besseren Deutschlands. Ich nenne für viele Thomas Mann, Paul Hindemith und Max Beckmann. Die Werke deutscher Emigranten haben mehr als vieles andere die Ästhetik des modernen Films bis in unsere Tage hinein entscheidend geprägt. Sie alle haben mit ihren künstlerischen und intellektuellen Leistungen wertvolle kulturelle Traditionslinien in Deutschland lebendig erhalten, ja fortentwickelt. Sie boten den folgenden Generationen Orientierungen und Anknüpfungspunkte, nicht zuletzt in der kritischen und damit auch schöpferischen Auseinandersetzung mit unserem Erbe.

Daraus vermochte die Auswärtige Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland Überzeugungskraft und ein gutes Stück Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Sie hat Erfolg gehabt, weil wir nicht versucht haben, propagandistische Elemente einzubringen. Ich denke, wir sollten solchen Versuchen auch in Zukunft widersagen. Die Wiedervereinigung unseres Lands, die Rückkehr der Staaten Mittel- und Osteuropas in die Familie der freien Völker, die rasante Globalisierung fast aller Lebensbereiche bringt uns neue Eckdaten. Auch mit Blick darauf müssen wir fähig sein, Inhalte und sicherlich auch Instrumente unserer Auswärtigen Kulturpolitik zu überdenken.

Es muss der Satz gelten, dass wir nicht die Lehrmeister der Welt sind. Es handelt sich dabei um eine weitverbreitete Stimmungslage, die auch gelegentlich in diesem Haus zu beobachten ist. Wir können von anderen eine Menge lernen. Ich denke dabei nicht ohne Grund besonders an Asien und Lateinamerika, an jene Länder und Staaten, deren erstarkendes Identitätsbewusstsein auch eine Erklärung für zunehmende wirtschaftliche und kulturelle Anziehungskraft bietet.

So verstanden, glaube ich, kann die Auswärtige Kulturpolitik dazu beitragen, die europäische Identität - genau das wollen wir doch - zu stärken und den Standort Europa attraktiver zu machen. Wenn wir den Standort Europa kulturell attraktiver machen, dienen wir in unser aller Interesse immer auch dem Standort Deutschland.

Es ist nicht der Anlass, eine Föderalismusdebatte zu fuhren. Aber wir müssen uns bei vollem Respekt vor unserer Verfassung darüber im klaren sein: Das ist eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden. Wer glaubt, dass wir uns hier angesichts der nationalen Dimension sozusagen in kleine Parzellen zurückziehen könnten, der täuscht sich.

Ohne eine kulturelle Dimension wird das europäische Einigungswerk unvollständig sein. Ich finde es bemerkenswert, dass Jean Monnet, einer der Väter Europas, am Ende seiner Tage gesagt hat, wenn er heute noch einmal Europas Aufbau zu beginnen hätte, würde er mit der Kultur beginnen.

Die geistig-kulturelle Einheit Europas war in ihrer Vielgestaltigkeit schon einmal über lange Zeiträume Realität. Wenn wir der kulturellen Dimension Europas Gestaltung und Gewicht geben wollen, so ist das kein Wunschtraum, sondern es ist im besten Sinne des Wortes europäisches Erbe. Es ist das Erbe vom Christentum, von Humanismus und Aufklärung, das Erbe der gotischen Kathedralen, der italienischen Baumeister, das Erbe von Figuren wie Odysseus und Faust, die die Literatur des Kontinents beschäftigten. Picassos „Guernica" ist ein europäisches Werk. Und es ist ja kein Zufall, dass die 9. Symphonie Beethovens Europahymne geworden ist.

Es war gut und es war richtig, dass im Maastrichter Vertrag - ich denke, wir dürfen mit Stolz sagen, dass die Bundesregierung dazu einen ganz wesentlichen Beitrag geleistet hat - der sogenannte Kulturartikel verankert wurde. Er ist zu Recht so ausgestaltet, dass die traditionellen Träger und Verantwortlichen der Kulturpolitik, die einzelnen Mitgliedsstaaten, Länder, Regionen und Gemeinden, entsprechend dem wohlverstandenen Subsidiaritätsprinzip gestaltende Kraft sind und bleiben. Ich wünsche mir sehr, dass sich alle der zentralen Aufgabe europäischer Kulturpolitik verpflichtet fühlen, nämlich - wie es im Text heißt - der „Verbesserung der Kenntnis und Verbreitung der Kultur und Geschichte der europäischen Völker". So formuliert es der Vertrag.

Das Europa der Bürger, von dem so oft gesprochen wird, wird es mit Sicherheit nicht geben, wenn man den Bau dieses Hauses Europa den Regierungen und den staatlichen Instanzen allein überlässt; denn es muss ein Europa für Bürger von Bürgern sein. Hierbei ist die kulturelle Dimension von entscheidender Bedeutung.

In dieser Stunde ist es keine Pflichtübung, dass wir die Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Mittlerorganisationen würdigen. Sie dienen nach Kräften gerade auch dem geistig-kulturellen Europa. Sie haben in vielen Jahrzehnten Hervorragendes geleistet und zum Ansehen Deutschlands in der Welt ganz wesentlich beigetragen. Ich will die Mitarbeiter hier ausdrücklich rühmend erwähnen und ihnen danken: in den Mittlerorganisationen, im Goethe-Institut, im Deutschen Akademischen Austauschdienst, in der Alexander-von-Humboldt-Stiftung und in der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Wenn ich das so sage, dann schließt das nicht aus, dass der eine oder andere - ich schließe mich ausdrücklich ein - bei diesem und jenem auch Grund zur Kritik hat. Wer aber Auswärtige Kulturpolitik als ein Feld betrachtet, in dem keine Kritik mehr geübt werden kann, der versteht nichts von der Sache. Wir bieten das volle Bild in seiner ganzen Buntheit. Dann haben wir auch zu gewärtigen, dass diese Buntheit nicht jedermann, auch mir nicht, zu jedem Zeitpunkt gefällt. Wer das nicht erträgt, der hat ein Verständnis von Auswärtiger Kulturpolitik, das nicht zur Sache passt.

Zu den vielfältigen Aufgaben der Mittler gehört die Vermittlung eines Deutschlandbilds, das der Wirklichkeit entspricht. Darüber zu streiten, ist natürlich leicht möglich. Zu dieser Wirklichkeit gehört die historische Dimension. Die historische Dimension der Deutschen hat düstere und beschämende Seiten, aber sie umfasst eben auch die demokratische und die freiheitliche Tradition, die die Wirklichkeit des heutigen Deutschlands und ganz gewiss vor allem seine Zukunft bestimmen. Manchmal habe ich den Eindruck - auch das sage ich gerne einmal selbstkritisch -, als verfügten unsere Partner, oft auch unsere Freunde in der Welt über eine klarere Vorstellung von Deutschland heute als wir selbst. Ich habe bei zahlreichen Begegnungen mit ausländischen Gesprächspartnern immer wieder erfahren, dass sie entsprechende Angebote unsererseits erwarten, also die Präsentation der verschiedensten - nicht nur einer - Epochen unserer Geschichte.

Die deutsche Kulturgeschichte ist wahrhaft reich an guten Beispielen, die ein umfassendes Bild geben. Die Vermittlung unseres kulturellen Erbes eröffnet, so glaube ich, die historische Tiefenschärfe, aus der sich das heutige Deutschland verstehen lässt. Ein Land, das in diesem Jahrhundert zwei Weltkriege, die gigantischen Umbrüche, die Teilung erlebt hat, muss in seinen Tiefen vielschichtig sein. Sie ist schon für viele im eigenen Land schwer verständlich. Und dann stellen Sie sich die Frage: Wie stellt sich das dann für den Betrachter von draußen dar? Die Aufgabe der Mittlerorganisationen ist deswegen besonders wichtig, und sie ist noch gewachsen.

Die verfügbaren Mittel - das ist wahr - sind begrenzt. Die Sparzwänge führen dazu, dass beispielsweise das Goethe-Institut auf Standorte verzichten musste. Ich weiß auch - das soll nicht unterdrückt werden -, dass das Goethe-Institut seit der Wiedervereinigung 15 neue Zweigstellen hat eröffnen können und mit Weimar und Dresden neue, dringend notwendige Inlandsinstitute hinzugekommen sind.

Die derzeitige Situation, der Geldmangel, hat große Nachteile; das ist unbestreitbar. Aber vielleicht kann er auch einen guten Zwang zu mehr Innovationsbereitschaft und administrativer Phantasie ausüben. Gerade die mit Recht auf ihre Unabhängigkeit stolzen Mittlerorganisationen können einmal überprüfen, wo sie selbst Zeichen setzen können. Manches Mal habe ich den Eindruck, dass nicht nur in der Politik, sondern auch in diesem speziellen Bereich Koordinierung und Abstimmung der Aktivitäten verbesserungsfähig sind und dass die Frage des Prestiges in diesem Feld der Politik eine mindestens genauso große Rolle wie in anderen Feldern der Politik spielt.

Die Debatte hier sollte dazu fuhren - dazu möchte ich auch die Kollegen im zuständigen Ausschuss einladen -, dass wir neue Überlegungen anstellen und vielleicht auch ein Stück Erneuerung ermöglichen. Wir müssen sicherlich überlegen, wie wir das bestehende System straffen, wie wir die Kräfte bündeln können. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich beziehe die Regierung und ihre Ressorts ausdrücklich ein.

Ich bin nicht und war nie der Meinung, dass die Auswärtige Kulturpolitik eine schöngeistige Arabeske der Außenpolitik ist, sozusagen ein Luxus. Sie war immer ein ganz zentraler Pfeiler unserer Außenpolitik, deren Fundament Vertrauenswürdigkeit, Berechenbarkeit, Fähigkeit zur Partnerschaft und zum Dialog sind. Deswegen dürfen bei allen Sparzwängen die Kernaufgaben der Auswärtigen Kulturpolitik nicht vernachlässigt werden.

Hierzu zählen für uns [...] vor allem die Vermittlung und Pflege der deutschen Sprache. Darüber besteht glücklicherweise breiter Konsens. Die entsprechenden Wünsche haben weltweit erheblich zugenommen. Wir alle wissen, wie hoch die Erwartungen gerade unserer östlichen Nachbarn sind. Wir würden sie sehr enttäuschen, wenn wir ihrem Wunsch nach mehr Sprachvermittlung nicht nachkämen. Bund und Länder haben diesem Wunsch mit gemeinsamen Programmen zur Entsendung von Lehrkräften entsprochen. Zur Zeit entsenden der Bund 355 und die Länder 197 Lehrkräfte. Ich will die Leistung des Bundes und auch die der Länder wahrlich nicht geringschätzen. Aber wenn wir auf der einen Seite die Chancen und auf der anderen Seite das, was wir uns leisten können, vielleicht auch leisten wollen, genau betrachten, können wir mit dieser Entwicklung nicht zufrieden sein.

Vieles hat mit der dramatischen Umbruchsituation in der Welt, dem Ende des Kalten Kriegs, dem Ende des kommunistischen Imperiums und der größeren Freiheit für viele Völker zu tun. Viele unserer Nachbarn in Europa, aber noch mehr außerhalb Europas haben den Wunsch, sich mit der deutschen Sprache auch Inhalte zu erschließen. Das hat in vielen Fällen - das ist doch wahrlich nichts Schlechtes - auch etwas mit wirtschaftlichen Vorteilen zu tun.

Die Europäische Union von heute und noch mehr die von morgen wird sicherlich eine Anzahl von rund 100 Millionen Menschen aufweisen, die Deutsch als Muttersprache sprechen. Es ist doch ganz natürlich, dass viele auch in der Nachbarschaft fragen: Dieses Deutschland hat einen wichtigen Auftrag und spielt eine wichtige Rolle in der EU. Ist es nicht gut, diese Sprache zu erlernen? Das hat nichts mit Konkurrenzdenken zu tun. Wer sich einen Rest von Vernunft bewahrt hat, weiß, dass wir weder mit dem Englischen noch mit dem Französischen, noch mit dem Spanischen weltweit konkurrieren können. Aber wir können mehr tun als bisher.

[...] Wenn ich sehe, wie viel Geld wir in vielen Bereichen aufbringen, müsste es doch mit einer neuen Prioritätensetzung bei Bund und Ländern - die Länder müssen aus vielen Gründen, auch aus Gründen der Verfassung, dabei sein - möglich sein, zu einer Verbesserung der jetzigen Lage zu kommen. Denn die Sprachvermittlung - wenigstens das wird doch unbestritten sein - schließt stets auch die Vermittlung von Inhalten ein. Das kann doch nur in unserem gemeinsamen Interesse liegen.

Das Ineinandergreifen beider Elemente wird im Bereich der neuen Medien besonders deutlich. Sie sind daher für unsere Auswärtige Kulturpolitik von eminenter Bedeutung. Diese steht wegen der wachsenden und weltumspannenden Computernetze und der zahllosen Satellitenprogramme unter einem sich noch steigernden Wettbewerbsdruck. Die Interessenten können immer mehr auswählen. Das erfordert neue Formen von Schwerpunkten in der Präsentation.

Vor einigen Jahren hatten wir eine Idee, die zunächst auf Kritik stieß. Aber inzwischen ist sie Wirklichkeit geworden: das europäische Kulturprogramm ARTE, das damals von Francois Mitterrand und mir initiiert wurde. Es hat eine beachtliche Entwicklung genommen. Es wird natürlich nie ein Programm sein, das mit all den Programmen großer Fernsehstationen konkurrieren kann. Aber es ist deutlich spürbar, dass von diesem Programm eine große Wirkung ausgeht. Mit ihm wird in der täglichen Praxis bewiesen, dass - ungeachtet aller unterschiedlichen Traditionen und Partner - Gemeinsamkeit im Dienste der europäischen Kulturpolitik möglich ist. Was mich besonders erfreut, ist - das ist für mich ein gutes Zeichen -, dass nicht nur die Zuschauerzahlen steigen, sondern dass eine ganze Reihe von Sendern außerhalb der beiden Gründerstaaten mit ARTE kooperieren und dass die Wirkung dieses Programms zunehmend auch im Bereich von Mittel- und Osteuropa spürbar wird. Wenn wir diese Gelegenheit nutzen und aufhören, von Polen als Teil Osteuropas zu reden, wären wir schon ein ganz entscheidendes Stück weitergekommen.

Wir sind uns - das zeigt auch die heutige Debatte - im klaren, dass die Auswärtige Kulturpolitik und der Zustand des künstlerischen und geistigen Lebens in Deutschland untrennbar miteinander verbunden sind. [...] Dass die deutschen Hochschulen an Attraktivität für ausländische Wissenschaftler und Studenten verlieren, ist ein schwerwiegender Vorgang, der viele Gründe hat. -Ich bin ganz entschieden der Auffassung, dass das [...] noch weiter verstärkt werden muss. Ich hoffe, das findet Ihrer aller Unterstützung. - Das berührt ganz unmittelbar die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands als Studienstandort, hat aber auch Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Deutschland. Ein so stark exportabhängiges Land wie die Bundesrepublik kann sich auf gar keinem Feld - auf diesem schon gar nicht - Provinzialismus leisten.

Wer genau hinschaut - ich vergleiche meine eigene Studentenzeit in den fünfziger Jahren an den Universitäten Heidelberg und Frankfurt mit den jetzigen Entwicklungen; das wird Ihnen ähnlich gehen -, der muss zugeben, dass diese Frage von weitergehender Bedeutung ist. Es hat sich die Entwicklung vollzogen, dass Auslandsaufenthalte während des Studiums nicht automatisch mit einem Bonus, sondern in vielen Fällen mit einem Malus versehen werden. Dies gilt übrigens ebenso für Teile der Wirtschaft wie auch für unsere Gymnasien. Dies zeigt ein Maß an Kurzsichtigkeit in vielen Institutionen. Das ist nicht nur beklagenswert, sondern auf Dauer sogar gefährlich.

Für diese Entwicklung gibt es viele Gründe, unter anderem den, dass ein gigantischer bürokratischer Apparat aufgebaut worden ist. Es ist eigentlich bescheiden, wenn man hier sagt: Wir wollen die Verhältnisse des Jahres 1910 wiederherstellen. Damals konnte ein Student aus Bonn ohne jede Schwierigkeit an der Sorbonne oder in Oxford studieren und, wenn er das nötige Kleingeld hatte, auch noch nach Harvard gehen. Niemand kam auf den Gedanken, die Zertifikate des anderen Lands nicht anzuerkennen. - Es haben sich Entwicklungen ergeben, die junge Leute davon abhalten, diesen Weg zu gehen. Das sollten wir ändern.

Mich beunruhigt in diesem Zusammenhang insbesondere das sinkende Interesse junger Amerikaner, in Deutschland zu studieren, aber auch das junger Deutscher, in Amerika zu studieren. Wir haben in diesem Bereich schon einiges unternommen. So gibt es zum Beispiel das Programm der Bundeskanzlerstipendiaten der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, das Fulbright-Programm, das gemeinsam mit Bill Clinton ins Leben gerufene Deutsch-Amerikanische Akademische Konzil. Alle diese Initiativen stehen und fallen damit, ob wir etwas zu bieten haben, ob wir ausländische Studenten ansprechen, ob sie den Eindruck haben: Es ist gut, ein oder zwei Jahre in Deutschland zu studieren. - Und das hat viel mit dem Klima in unserem Land zu tun.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 50 (18. Juni 1996).