14. Januar 1991

Regierungserklärung zur Lage in der Golfregion und zur Lage in Litauen

 

In großer Sorge um den Frieden und in großer Sorge um die Menschenrechte sind wir heute hier zusammengekommen.

Über das Wochenende ist in Litauen militärische Gewalt angewendet worden, die eine große Zahl von Toten und Verletzten gefordert hat.

Morgen läuft die Frist ab, die die Völkergemeinschaft dem Irak für die Räumung Kuwaits gesetzt hat. Alle bisherigen Versuche, den Konflikt mit friedlichen Mitteln zu lösen, sind an der Weigerung der irakischen Führung gescheitert, die gewaltsame Annexion Kuwaits rückgängig zu machen. Auch das Gespräch zwischen dem amerikanischen und dem irakischen Außenminister in Genf hat bisher nichts an der irakischen Haltung zu ändern vermocht, obwohl die amerikanische Seite den Ernst der Lage deutlich gemacht hat. Die Friedensmission des Generalsekretärs der Vereinten Nationen ist leider ohne greifbares Ergebnis geblieben. Dies ist um so enttäuschender, als die vom Generalsekretär dem Irak in Bagdad unterbreiteten Überlegungen ausdrücklich eine Nichtangriffsgarantie im Falle der Räumung Kuwaits sowie die Stationierung einer UN-Friedenstruppe in Kuwait umfassten.

Eine militärische Auseinandersetzung kann auch jetzt noch abgewendet werden. Es liegt allein bei dem irakischen Präsidenten, die entsprechenden Bedingungen zu schaffen. Die Bedingungen für eine friedliche Lösung sind klar und eindeutig: Der Irak muss sich aus Kuwait zurückziehen, und die Souveränität Kuwaits muss wiederhergestellt werden. Dies ist und bleibt die Forderung der Staatengemeinschaft an den Präsidenten des Irak.

Ein Rückblick verdeutlicht das Ausmaß der Aggression. Der Friede ist nicht erst jetzt gefährdet. Er wurde am 2. August 1990 gebrochen, und zwar vom Irak. Der Irak besetzte und annektierte Kuwait mit fadenscheinigen Begründungen, vertrieb viele seiner Einwohner und zwang den Verbleibenden gegen ihren Willen die irakische Staatsangehörigkeit auf. Gesetzlosigkeit und Willkür, Angst, Hunger und Not bestimmen seither das tägliche Leben der kuwaitischen Bevölkerung. Kuwait, ein souveräner Staat, soll nach dem Willen des Irak ausgelöscht werden und von der politischen Landkarte verschwinden. Der Irak hat damit grundlegende Ordnungsprinzipien für das Zusammenleben der Völker eklatant verletzt. [...]

Die Völkergemeinschaft ist diesem Gewaltakt und der hartnäckigen Missachtung der Resolutionen des Sicherheitsrats durch den Irak mit großer Geschlossenheit und Entschiedenheit begegnet. Zwölf Resolutionen, die der Sicherheitsrat seit dem 2. August 1990 verabschiedet hat, um das Recht wiederherzustellen, sind Ausdruck einer internationalen Solidarität, wie wir sie bisher in dieser Form nicht gekannt haben. Nicht zuletzt dieser Solidarität ist es zu verdanken, dass die irakische Regierung die von ihr völkerrechtswidrig festgehaltenen ausländischen Geiseln, darunter auch Deutsche, freigelassen hat. Zugleich ist deutlich geworden: Die Forderungen des Sicherheitsrats nach vollständigem Abzug des Irak aus Kuwait sind der verbindliche Wille der gesamten Staatengemeinschaft. Die Souveränität des Mitglieds der Vereinten Nationen Kuwait muss vollständig wiederhergestellt werden.

Am 29. November vergangenen Jahres hat der Sicherheitsrat mit seiner Resolution 678 die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen ermächtigt, alle erforderlichen Mittel einzusetzen, wenn der Irak nicht die einschlägigen Resolutionen zur Golfkrise bis zum Ablauf des morgigen Tages vollständig befolgt. Die multinationalen Streitkräfte am Golf stehen dort mit ausdrücklicher Zustimmung der Vereinten Nationen. Sollten sie zum Einsatz kommen, so würde dies in Übereinstimmung mit deren Beschlüssen geschehen. Die Resolution 678 ist eine letzte Warnung der Weltorganisation an den Irak. Zugleich - dies will ich betonen - hält sie das Tor für eine friedliche Lösung bis zuletzt offen.

Ich möchte an dieser Stelle die aktive Rolle, die die Vereinten Nationen und ihr Generalsekretär bei dem Versuch einer friedlichen Lösung des Golfkonflikts spielen, ausdrücklich würdigen. Die Handlungsfähigkeiten der Vereinten Nationen hat deutlich in dem Maße gewonnen, in dem wir aus dem Schatten des Ost-West-Konflikts herausgetreten sind. Der Sicherheitsrat kann damit seine ihm zugedachte Rolle als Instrument kollektiver Sicherheit voll wahrnehmen. Diese Entwicklung hat neue Möglichkeiten eröffnet, regionale Konflikte dem Urteil der Völkergemeinschaft zu unterwerfen und dieses, falls erforderlich, auch durchzusetzen. Dies gibt Hoffnung für die Zukunft. Wir werden alles daran setzen, um die Rolle der Vereinten Nationen als Hüter von Recht und Frieden zu stärken.

Die Bundesregierung hat die Entschließungen des Sicherheitsrats in jeder Phase der Golfkrise mitgetragen. Wir haben dies in der Überzeugung getan, dass das Recht dem Unrecht niemals weichen darf, dass, wie auch unsere eigene Geschichte lehrt, Aggressoren beizeiten entgegengetreten werden muss und dass die Wahrung von Recht und Frieden in jeder einzelnen Region der Welt die gesamte Völkergemeinschaft angeht. Wir haben in dieser kritischen Lage engen Schulterschluss mit unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft und im Bündnis gehalten, insbesondere mit den Vereinigten Staaten. Unsere amerikanischen, britischen und französischen Verbündeten tragen die Hauptlast bei der Verteidigung von Recht und Freiheit in diesem Konflikt. Sie haben Anspruch auf unsere Solidarität. Wir haben Solidarität auch dort gezeigt, wo die von der Golfkrise besonders hart getroffenen befreundeten Länder - Ägypten, Jordanien und die Türkei - unserer Hilfe bedurften. Solange Golfkrise und Embargo andauern, werden wir auch weiterhin an der internationalen Lastenteilung verantwortlich mitwirken. Jeder muss wissen, dass dies für die Bundesrepublik Deutschland finanzielle Belastungen mit sich bringt. Zugleich erwarten wir jedoch, dass insbesondere die ölexportierenden Golfstaaten, deren finanzielle Möglichkeiten durch die gestiegenen Ölpreise in erheblichem Maße zugenommen haben, ihrerseits einen maßgeblichen Anteil der Lasten mittragen.

Auf Ersuchen der Türkei hat das Nordatlantische Bündnis Anfang Januar die Luftkomponente des multinationalen Beweglichen Eingreifverbandes für den Befehlsbereich Europa aktiviert. Hieran sind -entsprechend den seit den 70er Jahren bestehenden Bündnisplänen für den Bereich der Südosttürkei - außer uns unsere Partner Belgien und Italien beteiligt. Bei ihrer Zustimmung zur Verlegung dieser Einheiten in die Türkei hat sich die Bundesregierung davon leiten lassen, dass dies als ein Zeichen der Solidarität dazu beiträgt, vor einem Angriff auf die Türkei abzuschrecken und den Frieden zu wahren.

Seit der Invasion und der Annexion Kuwaits durch den Irak hat es zahlreiche und vielfältige Initiativen gegeben, um diesen Konflikt friedlich beizulegen. Die Bundesregierung hat selbstverständlich ihrerseits nichts unversucht gelassen, um mit ihren Partnern und Verbündeten auf der Grundlage der Resolutionen des Sicherheitsrates zu einer friedlichen Lösung beizutragen. Wir haben diese Aktivitäten in den vergangenen Wochen und Tagen noch erheblich verstärkt. Sie umfassten ständige Konsultationen mit unseren Partnern und Verbündeten, intensive Kontakte mit befreundeten Regierungen der arabischen Welt und der Blockfreien- Bewegung. [...]

Die irakische Seite versucht, die Kuwaitfrage mit anderen Problemen der Region, insbesondere mit der Palästinenserfrage, zu verknüpfen. Dies haben wir - zusammen mit unseren Partnern und Verbündeten - zurückgewiesen. Diese Probleme müssen unabhängig voneinander gelöst werden. Das heißt auch, dass wir mit unseren Partnern ebenfalls einig sind: Nach der Beilegung des Golfkonflikts müssen wir uns, und zwar unverzüglich und mit großem Nachdruck, noch stärker als bisher, den Fragen der Region zuwenden.

Dies hat die Europäische Gemeinschaft in Luxemburg zu Beginn dieses Monats klar zum Ausdruck gebracht. Es sind neue, erhebliche Anstrengungen erforderlich, um auch im Nahen Osten eine dauerhafte Friedensordnung zu erreichen, die das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes mit dem Recht auf Existenz und Sicherheit aller Staaten in der Region, einschließlich Israels, in Einklang bringt. Alle Beteiligten müssen erkennen, dass die Regelung dieser Fragen keinen Aufschub mehr duldet. Dabei ist vor allem der Wille zum Ausgleich und die Bereitschaft zum Kompromiss gefordert. Es muss auch im Nahen Osten gelingen, Gegensätze zu überwinden und dauerhafte, stabile Sicherheitsstrukturen zu entwickeln.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dazu gehören nicht zuletzt Absprachen über die Begrenzung von Streitkräften und Waffensystemen und der vollständige Verzicht auf die Herstellung und den Besitz von Massenvernichtungsmitteln.

Zur Stabilisierung der Verhältnisse in der Region sind aber auch erhöhte Anstrengungen zur wirtschaftlichen Entwicklung und zur Überwindung sozialer Unterschiede unerlässlich. Wir könnten uns gut vorstellen, dass sich dieses Ziel im Rahmen eines umfassenden Entwicklungsplans für den Nahen und Mittleren Osten erreichen ließe. Dies setzt natürlich zuvor eine umfassende Lösung aller politischen Fragen voraus. Die Bundesrepublik Deutschland jedenfalls ist bereit, einen Beitrag zur Entwicklung zu leisten. Ich fuge aber hinzu: Auch hier gilt, dass vor allem jene Länder der Region gefordert sind, die auf Grund ihrer wirtschaftlichen Ressourcen dazu in der Lage sind, mehr zu tun als bisher.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dies alles sind wichtige Aufgaben für die Zukunft, die keiner aus den Augen verlieren sollte. Heute aber geht es vor allem darum, das Existenzrecht Kuwaits, eines von vielen kleinen Staaten der Region, zu wahren und jede nur denkbare Chance zu einer friedlichen Lösung des Konflikts zu nutzen. Wenn nicht noch in Bagdad die Vernunft die Oberhand gewinnt, was wir alle nur hoffen können, müssen wir mit einem der schwersten militärischen Konflikte seit Ende des Zweiten Weltkriegs rechnen. Dies kann vor dem Hintergrund des am Golf vorhandenen militärischen Potentials, zu dem bekanntlich Massenvernichtungswaffen gehören, gar nicht ernst genug genommen werden. Die Leidtragenden einer solchen Auseinandersetzung wären in erster Linie die Menschen, die in dieser Region leben. Die gesamte Region aber hätte auch unter den politischen und wirtschaftlichen Folgen einer solchen Auseinandersetzung zu leiden.

Wir haben bilateral und gemeinsam mit unseren Partnern in der EG alles in unseren Kräften Stehende getan, um diese letzte Konsequenz zu verhindern. Wir werden uns auch weiterhin für die Wiederherstellung des Rechts mit friedlichen Mitteln einsetzen, solange irgendeine Chance dafür besteht. Ich selbst habe der irakischen Führung mehrere vertrauliche Botschaften zukommen lassen und sie eindringlich vor den Konsequenzen gewarnt, wenn sie das Datum des 15. Januar verstreichen lassen sollte. Die irakische Führung hat, soweit wir dies zur Stunde erkennen können, diese Warnung bisher nicht beachtet. Sie ist offenbar nicht bereit, von ihrem Rechtsbruch abzugehen und sich aus Kuwait zurückzuziehen. [...]

Wir sind nicht in der gleichen exponierten Lage wie unsere Verbündeten, deren Soldaten am Golf stehen. Wir sollten aber in keinem Augenblick vergessen, dass sie dort zusammen mit den Angehörigen der multinationalen Streitkräfte Recht und Gerechtigkeit verteidigen. Recht und Gerechtigkeit sind Voraussetzung und Grundlage allen Friedens.

Unsere Politik hat dazu beigetragen, den Frieden in Europa auf eine stabile Grundlage zu stellen. Was wir in Europa erreicht haben -und wenn ich „wir" sage, schließe ich alle Bundesregierungen seit Gründung der Bundesrepublik hier ausdrücklich ein -, muss zum Modell des friedlichen Zusammenlebens in anderen Teilen der Welt werden. Dies ist vor allem auch unser Wunsch für den Nahen und Mittleren Osten, eine Region, in der drei Weltreligionen ihren Ursprung haben.

Friede kann dauerhaft und verlässlich nur auf dem Boden von Recht und Gerechtigkeit gedeihen. Unser Einsatz für den Frieden, für die Achtung der Menschenrechte und gegen die Anwendung von Gewalt gelten weltweit. Deshalb ist auch unsere einige und unzweideutige Haltung angesichts der militärischen Gewaltmaßnahmen, die über das Wochenende in Litauen ergriffen worden sind, gefordert. Wir beklagen die Vielzahl von Todesopfern und Verletzten, und den Hinterbliebenen gilt unsere herzliche Anteilnahme.

(Beifall im ganzen Hause)

Wir sind zutiefst besorgt über die Zukunft der Umgestaltung, der Reformen und der Politik des „Neuen Denkens" in der Sowjetunion, die in den vergangenen Jahren dem Land so hohes internationales Ansehen eingetragen und neue, vielversprechende Perspektiven der Zusammenarbeit eröffnet hat. Ich habe mich deshalb gestern noch einmal mit einer Botschaft an den Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, gewandt und, gestützt auf die von uns gemeinsam verabschiedete „Charta von Paris für ein neues Europa" und auf die KSZE-Prinzipien, an ihn appelliert, jeder weiteren Gewaltanwendung Einhalt zu gebieten, zum Weg des Dialogs und der Verständigung zurückzukehren und sicherzustellen, dass die in Litauen und in anderen Unionsrepubliken getroffene freie Wahl geachtet wird.

Noch in der vergangenen Woche hat die sowjetische Führung versichert, es werde nicht zu einer Gewaltanwendung im Baltikum kommen. Präsident Gorbatschow hat gestern über den stellvertretenden Außenminister der Bundesregierung mitteilen lassen, dass die Einsatzbefehle vom Wochenende nicht von ihm selbst erteilt worden seien und er sehr zuversichtlich hoffe, eine Lösung mit politischen Mitteln zu erreichen. Heute morgen ist erneut von verantwortlicher Seite in Moskau erklärt worden, dass die Einsatzbefehle nicht vom Zentrum aus erteilt worden seien. Ich vertraue darauf, dass Präsident Gorbatschow in dieser Frage Klarheit schaffen kann.

Der Föderationsrat der UdSSR hat auf seine Initiative beschlossen, eine hochrangige Delegation nach Wilna zu entsenden, die gestern dort eingetroffen ist und ihre Gespräche aufgenommen hat. Ich hoffe sehr, dass damit ein vom Willen zur Verständigung getragener Dialog zwischen Moskau und Wilna wieder in Gang kommt. Insbesondere muss die normale Arbeit der gewählten Vertreter des litauischen Volkes gewährleistet sein.

(Beifall im ganzen Hause)

Unser großes Ziel bleibt der Aufbau einer gesamteuropäischen Friedensordnung, die allen Ländern und Völkern unseres Kontinents zugute kommt. Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass die Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten wesentliche Voraussetzungen für einen Fortschritt beim Aufbau dieser Friedensordnung ist. Die Ereignisse von Wilna waren ein schwerer Rückschlag auf diesem Weg.

Wir alle hoffen, dass die friedliche und freiheitliche Entwicklung in der Sowjetunion fortgesetzt wird. Nur Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit sind die großen Ideale, denen die Zukunft gehört, und sie sind vor allem das Fundament einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung in Europa. Gemeinsam wollen wir für dieses Ziel unseren Beitrag leisten.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD - Von der Tribüne werden Flugblätter herabgeworfen - Zurufe von der Tribüne: Keine Bundeswehr an den Golf! - Beifall bei der PDS/LL und dem Bündnis 90/GRÜNE)

 

Quelle: Deutscher Bundestag. Plenarprotokoll 12/2, 14. Januar 1991.