14. Juni 1994

Rede anlässlich der Eröffnung des „Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" in Bonn

 

Frau Bundestagspräsidentin,
meine Damen und Herren Abgeordneten des Bundestags und der Landtage,
lieber Oscar Schneider,
sehr geehrter Herr Professor Schäfer,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

ich freue mich, heute mit Ihnen das Haus der Geschichte der Öffentlichkeit übergeben zu können.

Von der Idee, die ich erstmals am 13. Oktober 1982 im Deutschen Bundestag vorgetragen habe, bis zur Eröffnung am heutigen Tage hat es zwölf Jahre gedauert. In dieser Zeit haben sich Deutschland und die Welt dramatisch verändert. Es ist ein guter Zeitpunkt und der richtige Ort, um innezuhalten und zurückzublicken.

Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist für die meisten Menschen im Westen identisch mit der selbsterlebten Vergangenheit: 45 Jahre Frieden und Freiheit, Sicherheit und Stabilität, wirtschaftlicher Wohlstand und soziale Gerechtigkeit. Dieses Haus präsentiert keine Nabelschau Westdeutschlands, sondern es zeigt gleichzeitig die Geschichte der geteilten Nation in 40 Jahren der Spaltung. Es zeigt das Geschenk der Deutschen Einheit, in der sich die Präambel unseres Grundgesetzes von 1949 erfüllte: „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden".

Den Neubeginn haben die Älteren miterlebt. Die junge Generation kennt die Anfänge unserer Demokratie nicht mehr aus eigener Anschauung. Deswegen sind wir dafür verantwortlich, unsere Kinder und Enkel mit den Wurzeln und mit der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland vertraut zu machen.

Wenige Schritte von hier haben die Mütter und Väter der Bundesrepublik das Grundgesetz ausgearbeitet und die Fundamente für den wohl freiheitlichsten Staat gelegt, den es jemals auf deutschem Boden gegeben hat. Für die Gründer unseres Staats stand das Erlebnis der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft mit ihren schrecklichen Folgen im Zentrum der Erfahrungen und Überlegungen. Dieses Haus trägt dem in eindrucksvoller Weise Rechnung. Sie werden sich gleich zu Beginn des Rundgangs davon überzeugen können. Die Ideen der Männer und Frauen des Parlamentarischen Rats prägen die Entwicklung bis heute. Die Gründergeneration der Bundesrepublik Deutschland konnte uns den Wert und die Würde verantworteter Freiheit ja vor allem auch deshalb zurückgewinnen, weil sie bereit war, die Last der Geschichte anzunehmen.

In diesem Geiste hat es Konrad Adenauer 1951 als „vornehmste Pflicht des deutschen Volkes" bezeichnet, im Verhältnis zum Staate Israel und zu den Juden, „den Geist wahrer Menschlichkeit wieder lebendig und fruchtbar werden" zu lassen. Aber heute wissen wir so gut wie damals: Leiden und Sterben, Schmerz und Tränen kann man nicht wiedergutmachen. Dafür gibt es nur die gemeinsame Erinnerung, die gemeinsame Trauer und den gemeinsamen Willen zum Miteinander in einer friedlichen Welt.

Ohne das Wissen um die totalitäre Versuchung, ohne die Erinnerung an Schuld und moralisches Versagen sowie an die beispiellosen Schrecken, die daraus erwuchsen, lässt sich die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht verstehen. Alle demokratischen Parteien verband vor 45 Jahren und verbindet bis heute der antitotalitäre Grundkonsens. Dazu gehört das feierliche Bekenntnis: „Nie wieder Krieg, nie wieder Diktatur." Wir haben in jeder Generation Sorge dafür zu tragen, dass diese Verpflichtung auch in Zukunft immer wieder erneuert und verstanden wird.

Dieses Museum präsentiert die Zeitgeschichte in anschaulicher und nachvollziehbarer Weise. Es ist nämlich ein Missverständnis, dass sich ein Staat nur kühl und abstrakt darstellen dürfe - ein fatales Missverständnis, wie wir aus der Erfahrung der Weimarer Republik wissen. In diesem Haus gibt es sozusagen „Geschichte zum Anfassen". Das Werden unseres Staats wird hier unpathetisch und dennoch eindrucksvoll gezeigt. Dieses Museum zeigt die Vielfalt historischer Betrachtungsweisen. Streitiges wird streitig dargestellt. Die Geschichte unseres Landes zeigt aber auch, dass die Bundesrepublik als westlicher Teilstaat keineswegs eine „Insel der Seligen" war, sondern dass sie Krisen und Gefahren zu durchstehen hatte.

Der Kalte Krieg, der mitunter heute schon als Phase der Überschaubarkeit und Stabilität verklärt wird, war in Wirklichkeit eine Zeit höchster Gefährdungen. Ich erinnere an die Berlin-Krisen der fünfziger und sechziger Jahre. Die nach dem Untergang der DDR aufgefundenen detaillierten Einmarsch- und Besetzungspläne der Nationalen Volksarmee für einzelne westdeutsche Städte sprechen für sieh selbst.

Im Deutschen Bundestag wurde leidenschaftlich um die großen Fragen der Nation gerungen - von der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft, der Westbindung und der Aufstellung der Bundeswehr, über die Ostverträge bis hin zum Nato-Doppelbeschluss und der Ausgestaltung der deutschen Einheit. Nein: Diese Republik war auch bis 1990 kein „Puppenheim", wie es ein Kritiker einmal behauptet hat. In demokratischem Streit und meistens mit gegenseitigem Respekt haben wir unsere Auseinandersetzungen geführt. Die großen Gestalten deutscher Zeitgeschichte werden hier lebendig: Konrad Adenauer, Kurt Schumacher, Theodor Heuss, Ludwig Erhard, Willy Brandt -um nur einige zu nennen.

Zu den Wesensmerkmalen unseres Lands gehört gelebter Föderalismus. Die Bundesländer waren zuerst da, sie haben die Bundesrepublik geschaffen. Ich erinnere an große Politiker, die in den Ländern wie auch im Bund eine wichtige Rolle spielten: Wilhelm Kaisen, Ernst Reuter, Hinrich Kopf, Karl Arnold, Hans Ehard, Georg August Zinn, Reinhold Maier, Franz Josef Strauß. Unter den Lebenden nenne ich Franz Meyers.

In der ehemaligen DDR waren die Länder schon früh beseitigt worden. Ihre Wiedererrichtung im Juli 1990 war für das Ende der zentralistischen DDR wie für die Einheit unseres Lands einer der wichtigsten politischen und staatsrechtlichen Schritte.

Dieses Haus hatte von Anfang an einen gesamtdeutschen Auftrag. Die Wiederherstellung der Deutschen Einheit hat an der Klarheit und an der Bedeutung dieses Auftrags nichts geändert. Manchmal wird gefragt: „Warum brauchen wir jetzt, da Deutschland vereint ist, noch ein Museum, das die Geschichte der Bundesrepublik aufbereitet?" Meine Antwort lautet: Wir brauchen eine solche Einrichtung gerade heute ganz besonders. Sie trägt dem gewachsenen Bedürfnis vieler Menschen nach Begegnung mit der eigenen Herkunft und Geschichte Rechnung, und sie macht die Fundamente deutlich, auf denen das vereinte Deutschland trotz der epochalen Veränderungen in den vergangenen Jahren weiterhin steht.

Ich denke daran, dass der wissenschaftliche Beirat des Museums auf Anregung der Föderalismus-Kommission vor wenigen Tagen beschlossen hat, in Leipzig ein Ausstellungszentrum einzurichten, das die Geschichte des Widerstands gegen das SED-Regime veranschaulicht und zur Auseinandersetzung mit dieser Geschichte anregen soll.

Der freiheitliche Rechtsstaat, den wir 1919 im Westen begründet haben, war eine Antwort auf das Unrechts- und Gewaltsystem der Nazis. Die Erfahrungen mit zwei totalitären Diktaturen in diesem Jahrhundert zeigen, dass Extremisten von links und rechts und Ausländerfeinde keine Chance haben dürfen. Sie sind immer und überall eine Schande für unser Land. Zum Gelingen unseres Staats trug die Verbindung von Toleranz und Festigkeit bei. Wir sind und bleiben eine wehrhafte Demokratie. Die friedensstiftende Funktion des Rechts dient dem Erhalt des inneren Friedens. Wer diesen Frieden verletzt, der muss die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen.

Der Rückblick zeigt, worauf sich der Erfolg unserer Demokratie gründet: Die feste Integration in den Westen, in den Kreis der Demokratien Westeuropas und Nordamerikas, auf die Berechenbarkeit unserer Politik und Bündnistreue. Anders als vor dem Krieg haben wir uns nach 1949 nicht zwischen alle Stühle gesetzt, wir haben keine Schaukelpolitik betrieben, wir haben keinen Sonderweg eingeschlagen. Die Geschichte hat die Richtigkeit der Politik Konrad Adenauers bestätigt: Wir haben die Deutsche Einheit im Einvernehmen mit unseren Partnern und Nachbarn erreicht, wir sind Mitglied der Atlantischen Allianz geblieben, die russischen Truppen verlassen in zehn Wochen das Land, wir haben heute gleichzeitig Freundschaft mit Washington, Paris, London und Moskau.

Erst das Bekenntnis zur Westbindung machte die Aussöhnung mit Frankreich und damit die europäische Einigung möglich. Es gab und gibt keinen Widerspruch zwischen der schon in der Grundgesetz-Präambel von 1949 enthaltenen Doppelverpflichtung, die nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Wie Konrad Adenauer 1950 feststellte, würde ein vereintes Deutschland ohne ein vereintes Europa kein dauerhaftes Glück, keinen Frieden finden. Ich bleibe dabei: Deutsche Einheit und europäische Einigung sind zwei Seiten derselben Medaille.

Die zweite - auf ihre Weise nicht minder revolutionäre - Weichenstellung für unser Land gelang mit der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft. Sie fügte bewährte und neuartige Merkmale wirtschaftlicher Ordnung zu etwas qualitativ Neuem zusammen. Sie regte den einzelnen zur Leistung an, setzte Kreativität und Energien frei. Es gelang ihr, Effizienz und Verantwortung, ökonomischen Erfolg und soziale Sicherheit, Gewinn und Teilhabe miteinander zu verbinden. Sie brachte wirtschaftlichen Wohlstand und sozialen Halt für breite Schichten der deutschen Bevölkerung. An dieser Stelle muss auch die Integration Millionen deutscher Vertriebener und Flüchtlinge genannt werden, die schon ganz früh von jedem Revanche-Gedanken Abstand genommen hatten.

Beim Wirtschaftswunder war kein „Wunder" im Spiel, sondern die harte Arbeit, die gemeinsamen Anstrengungen aller Bürger! Zur Leistung bereit, aufgeschlossen für alles, was die Zeit erwartete, gingen sie unternehmerische Wagnisse ein. Sie verstanden sich als Sozialpartner und dienten als Arbeitgeber und Gewerkschaften einer gemeinsamen Sache. Ohne diese Bereitschaft zur Gemeinsamkeit, ohne große Unternehmenspersönlichkeiten, ohne großartige Gewerkschaftsführer wäre die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik nicht vorstellbar.

Bis heute profitieren wir von dieser Pionierleistung der Gründergeneration. Ihre Haltung nimmt uns in die Pflicht, das Geschaffene zu erhalten und weiterzuentwickeln, und sie dient uns gleichzeitig als Vorbild für die Zukunft. Darüber hinaus zeigt sich immer wieder, dass gerade unsere freie und sozial verpflichtete Wirtschaftsordnung in der Lage sein muss, neue Herausforderungen schöpferisch anzunehmen.

Wir stehen heute an einem solchen Punkt. Vieles in unserem Land hat sieh in diesen Jahrzehnten bewährt, ist gut gelungen. Aber wir können uns nicht auf früheren Lorbeeren ausruhen. Andere Länder, andere Volkswirtschaften sind besser geworden als früher. Vieles bei uns ist verkrustet und überreguliert. Deswegen müssen wir umdenken, wenn wir beispielsweise zukunftsweisende Antworten zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Verbesserung unserer Wettbewerbsfähigkeit finden wollen.

Im vereinten Deutschland gelten die gleichen Werte und Prinzipien, die den bisherigen Weg der Bundesrepublik geprägt haben. Dies entsprach und entspricht auch dem Willen der überwältigenden Mehrheit der Menschen in den neuen Bundesländern. Wir wollen keinen anderen Staat, auch wenn Parlament und Regierung nach Berlin umgezogen sein werden. Nationalisten und Kommunisten - die historischen Verlierer dieses Jahrhunderts - dürfen und werden keine Chance erhalten, die Prägung unseres Lands zu verändern.

Dieses Haus hier in Bonn, einer Stadt, der die Bundesrepublik Deutschland und wir alle so viel verdanken, dieses „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" erinnert an eine Vergangenheit, die in unsere Zukunft eingehen muss. Dieses Haus ist ein Geschenk auch und vor allem an die junge Generation. Sie wird Verantwortung in Staat und Gesellschaft übernehmen, vor allem dann, wenn wir nicht mehr sind. Wir haben allen Grund, ihr zu vertrauen. Der Lebensmut der Gründermütter und Gründerväter vor 45 Jahren, der in diesem Haus spürbar und eindrucksvoll sichtbar ist, ist ein Ansporn und ist eine Verpflichtung für uns, den Weg, der damals begann, im vereinten Deutschland fortzusetzen.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 59 (17. Juni 1994).