14. Oktober 1996

Rede auf dem 16. Bundeskongress der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft in Magdeburg

 

Sehr geehrter Herr Issen,
sehr geehrter Herr Jansen,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

als ich vor fünf Jahren bei Ihnen in Aachen war, haben wir damals gemeinsam die große Freude über das Geschenk der Einheit Deutschlands geteilt, die ich unverändert auch heute empfinde. Dies ist ein Geschenk, mit dem wir pfleglich umgehen wollen.

Und wer wie Sie auch nach Jahren - ich bin seit 1990 jedes Jahr hier in Magdeburg gewesen - in diese Stadt kommt, der kann miterleben, in welch einer dramatischen Weise sich die Verhältnisse in den neuen Ländern und auch hier in dieser Stadt verändert und verbessert haben. Aber gleichzeitig - und das sage ich auch wegen der gerade laufenden Verhandlungen im Aufsichtsrat der Firma SKET - haben wir riesige Probleme, weil uns die Absatzmärkte in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, nicht zuletzt in der früheren Sowjetunion, weggebrochen sind. Zu denen, die aus der Firma SKET hier sind, möchte ich sagen: Was ich tun kann - wie jetzt bei meiner Reise in die Ukraine - und was andere tun können, um Aufträge zu sichern, werden wir tun. Es ist unser aller Interesse, daß hier nicht eine industrielose Landschaft entsteht, sondern daß die Kernstücke für eine zukunftsfähige Industrie bleiben, wie wir es auch in der Nachbarschaft im Chemiedreieck geschafft haben.

Als ich hierher kam, wurde ich natürlich gleich gefragt, was ich erwarten würde. Ich habe gesagt, ich erwarte das, was in dieser Situation zu erwarten ist: einen weniger freundlichen Empfang. Und bis jetzt muß ich sagen, ist es noch in ganz normalen Formen geblieben. Ich bin gekommen, weil Ihr Vorsitzender mich schon vor Monaten eingeladen hat, Ihnen die Politik der Bundesregierung vorzutragen. Ich bin aber auch deshalb hier - und nehmen Sie es so, wie ich es sage, unsere akuten Streitfragen ändern nichts an meiner Meinung -, weil ich immer dafür eingetreten bin, daß wir in Deutschland starke Gewerkschaften haben. Ich bin immer für einen Gewerkschaftspluralismus eingetreten und war nie Anhänger einer Entwicklung, bei der etwa DAG und DGB so ineinander verschmelzen, daß es eine einzige Gewerkschaft wird. Ebenso bin ich auch immer für starke handlungsfähige Arbeitgeberverbände eingetreten. Beides gehört für mich zusammen: starke Gewerkschaften und starke Arbeitgeberverbände, die die Tarifautonomie mit Leben erfüllen und die fähig sind, Tarifverträge abzuschließen.

Es war nie meine Absicht - das wird es auch in Zukunft nicht sein -, daß wir sozusagen vom Staat über Tarifverträge bestimmen. Wir haben schon genug Probleme im Öffentlichen Dienst. Es ist auch ganz normal, daß jeder in einer solchen Auseinandersetzung seine legitimen Interessen vertritt. Und deswegen, Herr Vorsitzender Issen, denke ich nicht daran, leichtfertig das notwendige Gepräch aufs Spiel zu setzen. Ich bin immer für Konsens zu haben.

Es gibt aber Situationen, in denen es nicht nur um Konsens geht, sondern auch darum, ob der Staat handlungsfähig ist. Das ist dann Sache einer Regierung und eines Regierungschefs. Nach unserer Verfassung wählen die Bürger des Landes das Parlament, das Parlament wählt auf Vorschlag des Herrn Bundespräsidenten den Regierungschef, und der trägt dann die Verantwortung. Sie selbst haben in der Vergangenheit oft genug deutlich gemacht, für was Sie den Regierungschef etwa vor Wahlen verantwortlich machen.

Wenn ich das so sage, ist es eine ruhige Darstellung der Lage. Unser Miteinander schließt ausdrücklich das partnerschaftliche Verhältnis von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ein. Der soziale Friede ist - bei allen Auseinandersetzungen, die notwendig sind - ein Standortvorteil Deutschlands. Ich wünsche mir, daß das in diesen Wochen auch auf beiden Seiten der Tarifpartner deutlich gemacht wird. Ich finde es nicht gut, wenn der Standort heruntergeredet wird, wie es leider oft genug geschieht, und daß dieses entscheidende Merkmal auch im Vergleich zu anderen Ländern in Europa und in der Welt verschwiegen wird. Dies gilt, wenn ich von Sozialpartnern spreche, auch selbstverständlich für die Selbstverwaltung der Sozialversicherungen.

Ich sage noch einmal: Gegensätze müssen ausgetragen werden. Und trotz jetziger Spannungen sage ich Ihnen, Ihrem Vorsitzenden, Ihrem Vorstand auch ein Wort des Dankes für manche Mithilfe, Unterstützung und für manchen Rat. Die DAG trägt seit vielen Jahrzehnten ganz maßgeblich zum sozialpolitischen Leben unseres Landes bei. Wir haben in ganz entscheidenden Fragen, etwa in der Frage der Europapolitik, weitgehende Übereinstimmung erzielt. Das soll auch in Zukunft so bleiben. Sie haben hier eine Formulierung gewählt - ich hoffe sehr, daß ich sie mißverstanden habe -, die andeutet, daß sich das möglicherweise ändern könnte. Ich glaube nicht, daß man zwischen dem zwingend notwendigen Bau des Hauses Europa und der Frage der Arbeitslosigkeit einen negativen Zusammenhang herstellen kann.

Wenn Sie dies mit Blick auf die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung tun, dann sage ich Ihnen: Ohne die europäische Währung, ohne den Euro, ohne eine Wirtschafts- und Währungsunion, die das Ganze zusammenfaßt, werden wir nicht über eine gehobene Freihandelszone hinauskommen. Wir würden dann in wenigen Jahren erleben, daß wir vieles von dem, was wir im Sinne der Forderung Winston Churchills in seiner Züricher Rede vor 50 Jahren - nämlich, daß wir den Frieden und die Freiheit des Kontinents nur in der Gemeinsamkeit einer Union der europäischen Völker bewahren können - in diesen Jahrzehnten mühsam aufgebaut haben, wieder verlieren.

Und deswegen sage ich Ihnen ganz klar: Für mich ist der Bau des Hauses Europa die Voraussetzung für Frieden und Freiheit im 21. Jahrhundert. Dieses Hauptziel hat viele Notwendigkeiten - und dazu zähle ich natürlich auch die soziale Stabilität unserer Länder, die Sicherung bestehender und die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Wenn das Ziel jetzt aus tagespolitischen Gründen aufgegeben würde, würden wir vor der Geschichte versagen. Für mich bleibt der Satz Konrad Ade-nauers richtig, den ich als 20jähriger 1950 von ihm gehört habe, daß deutsche Einheit und europäische Einigung zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Deswegen bleibe ich auch bei diesem Kurs Europa. Ich hoffe, daß die DAG ungeachtet der aktuellen Auseinandersetzungen auf diesem Kurs weiter vorangeht. So werden wir auch die soziale Dimension des europäischen Binnenmarktes - das ist eine der Fragen bei der Regierungskonferenz für den Maastricht-II-Vertrag, der im Juni kommenden Jahres abgeschlossen werden soll - in einer befriedigenden Weise lösen.

Aber auch wenn dies geschieht, müssen wir die Hausaufgaben zum Abbau der Arbeitslosigkeit schon selbst machen. Das gilt für jeden von uns: Politik, Arbeitgeber, Arbeitnehmer. Ich habe es schon gesagt: Die Bundesregierung ist weder willens noch in der Lage, die Rolle der Tarifpartner zu übernehmen. Jeder muß in seinem Verantwortungsbereich seinen Teil beitragen.

Sehr geehrter Herr Vorsitzender, im Rahmen des Bündnisses für Arbeit und Standortsicherung im Januar dieses Jahres haben wir uns gemeinsam auf wichtige Ziele geeinigt. Das ehrgeizigste Ziel, das von vielen sofort angezweifelt wurde, ist die Halbierung der Zahl der Arbeitslosen bis zum Ende dieses Jahrzehnts. Es ist sicher richtig, daß dies keine einfache Aufgabe ist, aber ich erinnere daran, daß wir durch unsere Politik in den 80er Jahren in der alten Bundesrepublik über drei Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen haben. Ich kann nicht verstehen, warum wir heute so tun, als sei das jetzt unter den gegebenen Verhältnissen nicht möglich. Daß unser ehrgeiziges Ziel durchaus erreichbar ist, zeigt auch eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit, die Sie, Herr Vorsitzender, gerade erwähnt haben. Lassen Sie uns also an diese Sache gemeinsam herangehen!

Wir haben unübersehbare Anzeichen für eine Besserung der Wirtschaftsdaten. Alle Indikatoren sprechen dafür, daß wir im nächsten Jahr eine Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts von ungefähr zweieinhalb Prozent erreichen werden. Wir haben erleben müssen - Sie wie ich -, daß die alte Faustregel nicht mehr stimmt: Nimmt das Bruttosozialprodukt zu, dann gehen mit zeitlichem Phasenverzug auch die Arbeitslosenzahlen herunter. Wir haben durch die Veränderung der Weltwirtschaft erfahren müssen, daß dies heute nicht mehr automatisch gegeben ist.

Wir waren uns im Januar auch einig, daß die Rahmenbedingungen verbessert werden müssen, um neue Arbeitsplätze zu gewinnen, daß die Steuer- und Abgabenlast und die Staatsquote sinken und daß wir unsere sozialen Sicherungssysteme konsolidieren müssen. Und wir waren uns auch einig, daß es das Ziel sein müßte, die Beiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung bis zum Jahr 2000 auf unter 40 Prozent zurückzuführen.

Angesichts der globalen Wettbewerbsbedingungen müssen wir die Lohnzusatzkosten senken, wenn wir mehr Beschäftigung erreichen wollen. Auch an diesem Punkt sind wir uns einig, nur nicht über das Wie. Wenn wir dieses Wie gemeinsam diskutieren wollen, ist es wichtig, daß wir uns zunächst klarmachen, wo wir stehen. Dabei muß uns doch eigentlich auffallen, daß überall in der Welt, überall in Europa - von Italien über Spanien und Frankreich, die benachbarten Niederlande bis hin nach Schweden - tiefgreifende Veränderungsbeschlüsse gefaßt werden. Alle diese Länder sind dabei, sich auf das nächste Jahrhundert vorzubereiten, das in vier Jahren beginnt. Alle stellen sich den Notwendigkeiten, die aus einer Globalisierung der Märkte entstehen. Alle nehmen zur Kenntnis, daß der internationale Wettbewerb schärfer geworden ist und daß diese Tatsache nicht wegzudiskutieren ist.

Wir alle wissen doch, daß Geld und Technologien, Informationen und Waren heute Grenzen mit einer unglaublichen Leichtigkeit und Geschwindigkeit überwinden. Das hat auf eine Exportnation wie Deutschland enorme Auswirkungen. Zwischen 1964 und 1994 steigerten die Industrieländer die Produktion jährlich um neun Prozent, die Ausfuhr weltweit um zwölf Prozent, die grenzüberschreitenden Bankkredite um 23 Prozent. Die ausländischen Direktinvestitionen der Industrieländer erhöhten sich seit Mitte der 80er Jahre mit Raten von bis zu 30 Prozent pro Jahr. Wahr ist vor allem auch, daß sich die Gewichte international verschoben haben: Der Anteil der asiatischen Länder am Welthandel ohne Japan, der damals bei acht Prozent lag, liegt jetzt bei 20 Prozent. Er hat sich also mehr als verdoppelt.

Dies alles, meine Damen und Herren, hat unmittelbare Auswirkungen auf uns, auf unsere Arbeitsplätze - vor allem bei den Großunternehmen. Die erleben, wenn sie weltweit operieren und exportieren wollen, wenn sie ihre Stammhäuser erhalten und stabil halten wollen, daß sie auch mit den Arbeitsplätzen nach draußen gehen müssen. Wir haben damit unsere Probleme, aber es ist dennoch richtig.

Es erstaunt mich eigentlich am meisten, daß wir in der gegenwärtigen Diskussion kaum zur Kenntnis nehmen, vor welch dramatischen Veränderungen wir im Blick auf den Altersaufbau unserer Bevölkerung stehen. Ihr Vorsitzender hat mich auf dieses Thema angesprochen. Wenn wir darüber sprechen, dann müssen wir aber auch über die Gründe reden.

Im Jahr meines Abiturs 1950 waren 6,8 Millionen Deutsche über 65 Jahre alt. Heute sind es 13 Millionen, und die Zahl geht steil nach oben. Wenn wir - und ich lade Sie ausdrücklich dazu ein, bevor wir Gesetzesbeschlüsse als Bundesregierung ins Verfahren bringen - miteinander darüber reden, wie wir das soziale Sicherungssystem gestalten, dann müssen wir nicht bis zum Jahr 2001 rechnen, sondern bis 2030. Es geht um jene Delegierte, die heute hier sind, die knapp über 20 Jahre alt sind und 2015 in der Mitte ihres Lebens stehen werden. Bis zum Jahr 2030 wird der Anteil der über 65jährigen an der Gesamtbevölkerung von heute 15 Prozent auf 26 Prozent ansteigen. Wir werden in einigen Jahren über vier Millionen über 80jährige haben. Ich finde, das ist eine erfreuliche Realität, aber sie hat Folgen.

Zur Ehrlichkeit in dieser Debatte gehört auch, daß mit keiner Änderung im Blick auf die Geburtenrate zu rechnen ist. Wir sind heute - mit zwei, drei anderen - das Land mit der niedrigsten Geburtenrate in der Europäischen Union. Die Zahl der Single-Haushalte nimmt dramatisch zu, in den alten Ländern sind es 36 Prozent, in den neuen Ländern 30 Prozent. In deutschen Großstädten ist dieser Anteil noch höher. Meine Einladung gilt - bei allem Ärger und bei allem Protest sage ich das noch einmal -, daß wir über die Sicherung des Sozialstaates für die Zukunft reden. Dabei müssen wir diese Zahlen endlich ernst nehmen. Als Otto von Bismarck die Sozialversicherung einführte, lag die Lebenserwartung bei 45 Jahren und das Renteneintrittsalter bei 65 Jahren. Heute liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bei 75 Jahren. Ich sage das alles nicht anklagend. Daran, daß es so gekommen ist, waren alle beteiligt - auch alle politischen Parteien, jedenfalls die demokratischen politischen Parteien.

Wenn wir heute an deutschen Hochschulen die Situation haben, daß junge Akademiker erst mit 29 Jahren ihren Abschluß machen, vier Jahre später als ihre Kolleginnen und Kollegen in anderen EU-Ländern, dann ist das ein Zustand, der so nicht bleiben kann. Und wenn der gleiche später mit 60, 61 Jahren in den Ruhestand - in Pension oder Rente - geht, dann heißt dies im Klartext, daß er rund 45 Jahre seines Lebens in der Ausbildung und im Ruhestand, aber nur 30 Jahre erwerbstätig ist. Diese Rechnung kann nicht mehr aufgehen. Deswegen lade ich Sie ein - wenn Sie die Transparente zur Seite gestellt haben -, einfach einmal darüber nachzudenken und zu sagen, was wir ändern wollen und wie wir es ändern wollen.

Meine Damen und Herren, ich bin ein leidenschaftlicher Anhänger der Sozialen Marktwirtschaft im Sinne Ludwig Erhards und nicht der Marktwirtschaft. Soziale Marktwirtschaft heißt nicht, daß wir die sozial Schwachen ihrem Schicksal überlassen, sondern daß wir Solidarität praktizieren. Und Solidarität in der Gesellschaft heißt heute für mich auch Solidarität zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitsplatzsuchenden. Das ist auch Ihre Sache als Tarifpartner.

Wir wissen, was Arbeitslosigkeit für die Betroffenen in vielen Fällen bedeutet. Ich rede jetzt von denen, die wirklich arbeitslos sind, und nicht von Trittbrettfahrern, die sich drücken wollen, die es auch gibt. Meine Damen und Herren, Sie leben mitten in den Betrieben und werden mir bestätigen können, daß es in dieser Gesellschaft eine nicht unbeträchtliche Zahl von Trittbrettfahrern gibt - bei den Arbeitslosen genauso wie bei denen, die Steuern hinterziehen oder Subventionen erschleichen. Alle drei Dinge gehören zusammen. Wir können keine faire Diskussion miteinander führen, wenn wir die Tatsachen nicht mehr zur Kenntnis nehmen.

Im Interesse der Arbeitssuchenden müssen wir die Arbeitskosten verringern und Einstellungshemmnisse abbauen. Genau da setzt unser Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung an. Wir brauchen mehr Flexibilität. Norbert Blüm ist in diesen Jahren nicht müde geworden, immer wieder auf die Notwendigkeit von mehr Teilzeitarbeit hinzuweisen. Es ist kein Ruhmesblatt für uns, daß wir beispielsweise im Vergleich mit den benachbarten Niederlanden bei knapp 16 Prozent Teilzeitarbeitsplätzen liegen, und die Niederländer mehr als das Doppelte haben.

Unser Arbeitsrecht schützt - und das hat einen guten Grund - vor allem diejenigen, die Arbeit haben. Aber wir müssen uns die Frage stellen, ob wir auch genug tun für diejenigen, die Arbeit suchen. Die Erleichterungen bei befristeten Arbeitsverhältnissen oder beim Kündigungsschutz - das sind Kapitel, die hier zu nennen sind.

Ich komme jetzt zu einem Thema, wo wir überhaupt nicht übereinstimmen. Das ist das Thema Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Meine Damen und Herren, eine gesetzlich garantierte hundertprozentige Lohnfortzahlung für alle Arbeitnehmer gibt es in keinem anderen Land. Die Probleme stellen sich schon in unserer nahen Nachbarschaft ganz anders. Wenn Sie die Propaganda etwa von niederländischen Nachbarprovinzen zur Abwerbung deutscher Industrieunternehmen oder ausländischer Industrieunternehmer in Deutschland betrachten - ich habe dieser Tage auch einen entsprechenden Prospekt aus Vorarlberg in Österreich in der Hand gehabt -, dann können Sie feststellen, daß unsere Nachbarländer mit dem Argument werben, die Standortbedingungen seien dort für den Investor günstiger als bei uns in Deutschland.

Bei unseren gemeinsamen Gesprächen hatten Arbeitgeber und Gewerkschaften zugesagt, daß man das Notwendige tun will, um eine Verringerung der Kosten durch Fehlzeiten zu erreichen. Ich habe Ihnen, Herr Issen, hier keinen Vorwurf zu machen. Wenn alle ihre Bereitschaft und ihre Mitwirkung so praktiziert hätten, wie die DAG und Sie es getan haben, wären wir sicherlich in eine andere Lage gekommen, in der man rechtzeitig zum Abschluß hätte kommen können, so daß die Politik nicht hätte handeln müssen.

Aber es gab keinen Konsens. Die Gründe kennen oder ahnen Sie zumindest. Die lagen außerhalb der Bundesregierung. Und deswegen hatte die Bundesregierung die Pflicht zu handeln. Und es ist auch wahr, daß die Änderungen des Entgeltfortzahlungsgesetzes entsprechende tarifvertragliche Vereinbarungen nicht berühren. Es war die politische Geschäftsgrundlage - und das bleibt auch so -, daß wir weder in bestehende noch in künftige Tarifverträge eingreifen. Ich habe daran als Regierungschef, als deutscher Bundeskanzler nie einen Zweifel gelassen. Und wer sich auf mich bezieht, muß sich auf das beziehen, was ich auch hier sage. Man wird mir nichts anderes in irgendeiner Form unterschieben können.

Es ist jetzt Sache der Tarifpartner, den erweiterten Spielraum wahrzunehmen und - ich sage ganz bewußt - intelligente Lösungen zu finden. Das Erstaunliche ist, meine Damen und Herren, daß vielerorts in Deutschland fernab von dem öffentlichen Getöse von Betrieb zu Betrieb vernünftige Lösungen gefunden werden, und das mit Zustimmung auch von Gewerkschaften - ich spreche jetzt nicht von der DAG -, die nach außen so tun, als würden sie so etwas nie akzeptieren. Es findet trotzdem statt.

Ich füge hier gleich hinzu: Trotz aller Zwänge des internationalen Wettbewerbs darf man den Erfolg eines Unternehmens nicht daran messen, in welchem Tempo Arbeitsplätze wegrationalisiert werden. Es gehört zwar zu den Mechanismen unserer Gesellschaft weltweit, daß Firmen, die Entlassungen verkündet haben, wenige Tage später auf dem Aktienmarkt ein Plus verzeichnen können. Aber ich halte es für eine sehr kurzsichtige Betrachtungsweise, den Abbau von Arbeitsplätzen als Erfolg zu verkünden, weil sie das größte Kapital eines Betriebs wie unseres Landes - die Menschen - zu wenig in den Mittelpunkt ihres Denkens rückt.

Ich bin überzeugt, daß auch in Deutschland auf die Dauer nur jene Unternehmen erfolgreich sein werden, die mit neuen Ideen, mit Innovationen Märkte erobern und die dadurch zusätzliche Arbeitsplätze schaffen werden. Für mich ist das die Meßlatte für unternehmerischen Erfolg.

Die Arbeitslosigkeit ist eine enorme Belastung für unser soziales Sicherungssystem. Auch deshalb müssen wir gemeinsam alles tun, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Dazu gehört ganz wesentlich der Umbau des Sozialstaats. Dieser ist sowohl ein wirtschaftliches als auch ein soziales Gebot. Mehr Beschäftigung bedeutet mehr Beitragszahler. Das wissen Sie so gut wie ich. Ich habe Ihnen die Zahlen im Blick auf Rente und Rentenentwicklung genannt.

Meine Damen und Herren, die DAG hat bisher die Interessen ihrer Mitglieder und - im weitesten Sinn des Wortes - der Angestellten besonders erfolgreich im Rahmen der Tarifautonomie vertreten. Tarifautonomie - ich sage es noch einmal - verlangt Verantwortung für das Ganze. Und das heißt für mich auch, daß der Flächentarifvertrag viel zum sozialen Frieden beigetragen hat. Ich bin sicher, daß dies auch in Zukunft so sein wird. Ich schließe mich nicht jenen an, die den Flächentarifvertrag pauschal herunterreden. Aber wahr ist auch - und das höre ich ja auch aus Ihrem Kreis -, daß er reformiert und weiterentwickelt werden muß. Ich bin sicher, daß man einen Rahmen finden kann, der die Bedürfnisse einer Branche und einer Region - beides gehört zusammen - angemessen berücksichtigt.

Es sind - auch das gehört zum Bild Deutschlands fernab aller Aufgeregtheit - ermutigende Zeichen bei der Frage der Arbeitszeit gesetzt worden. Die Bundesregierung hat dazu ihren Beitrag geleistet, die Tarifparteien auch. Eine flexiblere Arbeitszeitgestaltung wird immer wichtiger. Ich hoffe - mit einem Modewort unserer Zeit -, daß sie in vielen Betrieben immer mehr "in" sein wird, weil man damit globale Herausforderungen besser meistern kann. Allerdings fehlt es vielerorts noch daran, daß die neuen Regelungen in der Praxis konsequent umgesetzt werden. Wir haben beispielsweise einen erheblichen Nachholbedarf im Bereich der Maschinenlaufzeiten. Hier liegen wir immer noch europaweit im unteren Bereich.

Meine Damen und Herren, zu den Aktiva unseres Landes gehört für mich auch der hohe Ausbildungsstand der Arbeitnehmer. Das duale System der Berufsausbildung ist die beste Voraussetzung für eine gute wirtschaftliche Zukunft. Für mich ist eine gute Ausbildung nicht nur eine ökonomische, sondern vor allem auch eine Frage der sozialen Verantwortung, eine moralische Frage.

Wir haben in diesem Jahr mit gewaltigen Anstrengungen unser Ziel, jedem ausbildungswilligen und -fähigen Jugendlichen eine Lehrstelle zu sichern, insgesamt wieder erreicht. Wir konnten es nicht überall auf regionaler Ebene erreichen und schon gar nicht in den neuen Ländern. Dafür haben wir, wie Sie wissen, eine Reihe von Entscheidungen getroffen. Dennoch bleibe ich dabei, unser duales System ist mit Abstand das beste, was es im internationalen Vergleich in der Ausbildung gibt. In Deutschland liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei neun Prozent. Diese Zahl ist noch viel zu hoch. Aber die Zahlen in anderen Ländern Europas mit 20 Prozent, ja sogar mit über 30 Prozent zeigen, daß wir hier noch einen großen Vorsprung haben. Das ist ein kostbares Gut, mit dem wir sorgfältig umgehen sollten.

Sehr geehrter Herr Vorsitzender Issen, wenn wir von versicherungsfremden Leistungen reden, dann sollten wir beispielsweise auch einmal sagen, daß manches andere jetzt aufgearbeitet werden muß. Wir müssen uns fragen, ob wir nicht alle Mitverantwortung tragen dafür, daß es so gekommen ist: Es ist doch ein Skandal, daß zehn Prozent derjenigen, die die Haupt- oder Realschule verlassen, bei ihrem Eintritt in die Lehre nicht ausbildungsfähig sind. Allein im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit geben wir fast eine halbe Milliarde D-Mark für Lehrgänge aus, damit junge Leute, die die Schule verlassen, ausbildungsfähig werden. Wenn Sie über versicherungsfremde Leistungen klagen, dann gehört auch solch ein Beispiel ins Bild. Wir müssen endlich nicht mehr nur über Schulreformen reden, sondern die Schule in eine Lage versetzen, daß dieser Skandal nicht mehr stattfindet.

Ebenso entschlossenes Handeln erfordert das Thema Steuerlast. Als ich 1982 Bundeskanzler wurde, hatten wir eine Staatsquote von über 50 Prozent. Am Vorabend der Deutschen Einheit waren wir bei 46 Prozent angekommen. Damit gingen Steuersenkungen von rund 60 Milliarden D-Mark einher. Für mich ist es erklärtes Ziel, daß wir bei der Staatsquote bis Ende dieses Jahrzehnts wieder deutlich weniger als 50 Prozent erreichen müssen. Auch die Steuern müssen wir senken. Aber ich füge hinzu: Etwas eigenartig bin ich schon berührt, daß diejenigen, die 1990/91 immer geschrien haben, die Deutschen brächten gerne Opfer für die Deutsche Einheit, jetzt so tun, als hätte die Wiedervereinigung nichts gekostet. Die 750 Milliarden D-Mark an öffentlichen Mitteln, die bis Ende dieses Jahres netto in die neuen Bundesländer transferiert sein werden, sind eine großartige Solidaritätsleistung. Es ist eine Abschlagszahlung auf eine gute gemeinsame Zukunft. Sie brauchen sich hier in Magdeburg nur einmal umzuschauen. Dann sehen Sie, was zum Beispiel bei den Verkehrsprojekten Deutsche Einheit - etwa bei den Wasserstraßenverbindungen und allem, was dazu gehört - erreicht worden ist.

Wir werden voraussichtlich vor Weihnachten den Bericht der Steuerreformkommission haben. Wir werden dann, bevor wir zu einem Gesetzesvorschlag der Bundesregierung in den parlamentarischen Gremien kommen, darüber zu reden haben. Auch das, Herr Issen, habe ich den Gewerkschaften und natürlich auch der Wirtschaft zugesagt. Dann wird über den Spitzensteuersatz und über den Eingangssteuersatz gesprochen. Ich bin im übrigen sehr gespannt auf Ihre konkreten Vorschläge zu dem Thema Vermögensteuer. Es ist ein Unterschied, Vorschläge in der Öffentlichkeit zu machen, die Emotionen auslösen, die dem Gegenstand nicht angemessen sind - das ist meine Meinung, und die sage ich hier -, oder aber zu einem vernünftigen Gespräch zu kommen.

Meine Damen und Herren, daß wir Entscheidungen getroffen haben, die Ihre Zustimmung nicht finden, das weiß ich. Gerade deswegen bin ich hierhergekommen, um Ihnen meine Vorstellungen zu skizzieren. Wir haben auch eine Menge gemeinsam tun können. Dies gilt nicht zuletzt im Bereich der europäischen Entwicklung. Ich denke in diesem Zusammenhang an die Richtlinie für den europäischen Betriebsrat. Auch dafür möchte ich ein Wort des Dankes sagen.

Mein Wunsch ist, daß wir weiter miteinander diskutieren und reden. Herr Issen, wenn dabei viele demonstrieren, ist das ein Bürgerrecht. Ich finde es allerdings etwas eigenartig, daß wir so selten für etwas, sondern meistens gegen etwas demonstrieren. Aber auch das gehört zur Freiheit und zu dem verbürgten Demonstrationsrecht. Sie wissen, ich habe mich auch noch nie darüber beklagt. Nur eines will ich Ihnen klar sagen: Ich akzeptiere nicht das "Gesetz der Zahl" bei Demonstrationen. Zu Beginn meiner Amtszeit habe ich im Rahmen der Nachrüstungsdebatte Massendemonstrationen von 300000 und 400000 Menschen erlebt. Wenn die deutsche Politik und auch ich damals dem Votum dieser Demonstrationen gefolgt wären, wäre ich heute nicht mit Ihnen in Magdeburg. Ich habe dazu eben meine ganz eigene Erfahrung.

Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen für Ihren Kongreß noch ertragreiche Beratungen. Als erprobter Parteivorsitzender und Parteitagskämpfer habe ich eine ungefähre Vorstellung davon, was es heißt, über - wenn ich es richtig in Erinnerung habe - 1000 Anträge zu beraten. Da haben Sie noch ein großes Pensum vor sich. Sie wählen Ihren Vorstand neu. Wir haben in acht Tagen auf unserem Parteitag zur gleichen Zeit dieses Vergnügen. Wer das oft genug durchgemacht und durchgestanden und manchmal auch erlitten hat, der weiß, daß das nicht einfach ist.

Ich setze darauf, daß mit der DAG auch nach diesem Kongreß ein offener Dialog möglich sein wird. "Offen" heißt auch, daß manchmal gehobelt wird und dabei Späne fallen. Ihrem Kongreß wünsche ich einen guten Verlauf!

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 86. 29. Oktober 1996.