15. August 1998

Ansprache bei dem Festakt anlässlich des Jubiläums "750 Jahre Gotischer Dom in Köln" im Gürzenich in Köln

 

Sehr geehrter Herr Kardinalstaatssekretär,
Eminenzen, Exzellenzen,
Herr Ministerpräsident, Herr Oberbürgermeister,
meine Damen und Herren Abgeordneten,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

dies sind großartige Tage für Köln, für das Rheinland, für unser ganzes Land. Der 750. Geburtstag des Gotischen Doms zu Köln ist eine Gelegenheit zum Innehalten, zum Nachdenken, zum Besinnen, zum Rückblick auf eine lange Geschichte, zur Dankbarkeit und - wie könnte es hier anders sein - zum Feiern.

 

Viele Hunderttausende sind in diesen Tagen nach Köln gekommen: Wallfahrer und Besucher, Suchende und Neugierige. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auch einmal eine Zahl festzuhalten: Innerhalb von ein paar Tagen haben über 400000 Menschen den Schrein der Heiligen Drei Könige besucht. Diese bemerkenswerte Tatsache, über die zu wenig berichtet wird, spricht für sich.

 

Wer - ich sage das sehr persönlich, denn es war für mich keine Amtspflicht - das Glück hatte, das Pontifikalamt im Dom mitzuerleben, konnte etwas spüren von der historisch-kulturellen, vor allem aber auch von der geistlichen Dimension dieser Tage, die für Köln wichtig sind und die weit in das Land hinausstrahlen.

 

Vor genau 750 Jahren fand die feierliche Grundsteinlegung zum Neubau des Domes statt. Erst 632 Jahre später - also vor 118 Jahren - war er fertiggestellt. Man kann nicht die allgemeine deutsche Bauordnung für diese Dauer verantwortlich machen, sondern es waren andere Kräfte, die dies bewirkt haben.

 

Seit seiner Aufnahme in die Weltkulturerbe-Liste der UNESCO vor eineinhalb Jahren gilt der Dom als kulturelles Erbe der Menschheit. Der Kölner Dom war und ist das weithin sichtbare Erkennungszeichen für ein Gemeinwesen, das in seiner Mitte Raum schafft für die Begegnung mit Gott und ihm die Ehre erweist.

 

Natürlich gab es immer wieder Versuche, eine ganz andere Sichtweise des Domes in den Vordergrund zu stellen: Man pries ihn als Bauwerk zum Ruhm der Stadt Köln und ihrer Bürger, als Stein gewordenen Ausdruck des Wunsches nach Einigung aller deutschen Stämme im Jahr 1848 und schließlich als nationales Monument im Deutschen Reich. Daß der Gottesdienst seine eigentliche Zweckbestimmung war, ist seit jeher von selbstbewußten Kölner Bürgern demonstriert worden. Anläßlich der Vollendung des Domes im Jahr 1880 sangen sie in Anwesenheit des preußischen Königs und deutschen Kaisers das im Festprogramm offiziell nicht vorgesehene Lied "Alles meinem Gott zu Ehren".

 

Für die Christen gehören Glaube an Gott und Verantwortung in der Welt untrennbar zusammen. Auf die Frage nach dem größten der Gebote hat Jesus zwei besonders herausgestellt. Das erste und wichtigste Gebot lautet: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben." Das zweite, ebenso wichtige Gebot lautet: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst."

 

Das ist doch die Erfahrung der Jahrhunderte, seit der Grundstein zu diesem Dom gelegt wurde, die Erfahrung unseres Volkes in diesem zu Ende gehenden Jahrhundert: Wo Menschen Gott aus ihrer Mitte verbannen, steht auch die Liebe zwischen den Menschen auf dem Spiel. Wer - wie viele von Ihnen - das Bild des Domes inmitten der Steinwüste der zerstörten Stadt am Ende des Zweiten Weltkrieges vor Augen hat, für den wird diese Kathedrale immer auch Wahrzeichen menschlicher Hoffnung auf ein Zusammenleben in Gemeinschaft und Frieden sein.

 

So wie jeder von uns am heutigen Tag seine eigenen Empfindungen hat, möchte auch ich in einem Satz sagen, was es für mich bedeutet, heute hier zu sein: Im Jahre 1945 war ich als Fünfzehnjähriger auf der Suche nach Kameraden meines gefallenen Bruders zum ersten Mal hier in Köln. Dieses Bild vom Dom im zerstörten Köln, das in allen Dokumentationen über die Folgen des Zweiten Weltkriegs um die Welt gegangen und so im Gedächtnis geblieben ist, ist auch in meiner Erinnerung gegenwärtig. Wer diesseitige Führer an Gottes Stelle setzt, wer Ideologien zur Religion erhebt, betreibt Götzendienst. Wohin dies führt, haben die Deutschen unter zwei Diktaturen - unter einer braunen und einer roten Diktatur - erlebt.

 

Meine Damen und Herren, der Dom ist mit seinen beiden hohen Türmen, die den Blick des Betrachters zum Himmel lenken und lenken sollen, ein bleibender Appell an Glaubende und Nichtglaubende, an Christen und Nichtchristen, sich immer wieder die Frage des "Woher?" und des "Wohin?" zu stellen. Aus gutem Grund haben die Väter und Mütter unserer Verfassung das Bewußtsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen an den Beginn der Präambel unseres Grundgesetzes gestellt. Man kann nicht oft genug betonen, daß es ohne die von den Kirchen verkündete Botschaft von der unveräußerlichen Würde jedes einzelnen Menschen den freiheitlichen Verfassungsstaat in seiner heutigen Gestalt nicht gäbe.

 

Gott die Ehre zu geben heißt, den Menschen und seine Würde zu achten. Als großartiges Bauwerk erinnert der Kölner Dom an dieses Fundament unseres gesellschaftlichen und staatlichen Zusammenlebens. Der freiheitliche und demokratische Rechtsstaat, in dem wir jetzt glücklicherweise leben dürfen, der das Fundament beim Bau des Hauses Europa ist, ist auch Ergebnis der christlich-abendländischen Geistesgeschichte.

 

Die Bewahrung gemeinsamer Werte und Maßstäbe, die ihre Wurzeln nicht zuletzt in der christlichen Tradition haben, ist wesentlich für den Erhalt von Freiheit, Toleranz und Weltoffenheit. Nur wenn Staat und Kirchen sich gemeinsam - und zwar nicht in Abhängigkeit voneinander, sondern in vollem gegenseitigen Respekt und auch in freundschaftlichem Miteinander - für die Verwirklichung dieser Grundsätze einsetzen, dann kann die Zukunft unserer freiheitlichen Ordnung dauerhaft gesichert werden.

 

Das Domjubiläum, das wir heute feiern, ist für mich Anlaß, einmal mehr hervorzuheben, wie wichtig diese bewährte Partnerschaft ist und daß der Staat und die Gesellschaft den Kirchen zu großem Dank verpflichtet sind. Nur wenn wir ihnen den gebührenden Platz in der Mitte unserer Gesellschaft einräumen und wenn die Kirchen auch wirklich bereit sind, diesen Platz auszufüllen, dann hat - davon bin ich überzeugt - die Menschlichkeit Zukunft in unserem Land.

 

In diesem Sinne wünsche ich uns allen, daß der Geist dieses Jubiläumsjahres nach dem Ende der Feierlichkeiten nicht vergessen ist, sondern in unserem Alltag und in unserer Arbeit etwas bewegen wird. So hoffe ich, daß der Kölner Dom als Gotteshaus, als Haus des Gebetes, der Besinnung, der Sammlung und der menschlichen Erfahrung auch im künftigen Jahrhundert Wahrzeichen für eine menschliche Gesellschaft ist und vor allem ein Wahrzeichen für Land und Leute in dieser großartigen Stadt, in dieser großartigen Landschaft, in unserem deutschen Vaterland.

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 60. 14. September 1998.