15. Dezember 1991

Rede auf dem 2. Parteitag der CDU in Dresden

 

Zum ersten Mal halten wir einen Bundesparteitag hier in Sachsen ab, und es ist das erste Mal, dass wir nach der Überwindung der Teilung in einem der neuen Bundesländer zusammenkommen können. So demonstrieren wir ganz einfach das, was für die Partei Konrad Adenauers, Jakob Kaisers, von Andreas Hermes und von Hermann Ehlers immer selbstverständlich war: Wir sind und bleiben die Partei der deutschen Einheit.

In den Tagen und Wochen nach dem Fall der Mauer bot sich uns Deutschen eine einmalige Chance: die Chance - und das ist einmalig in der Geschichte -, ohne Krieg und ohne Blutvergießen, mit der Zustimmung all unserer Nachbarn die Einheit des Landes zu gewinnen. Wir haben diese Chance genutzt. Wir waren nicht allein, und auch in dieser Stunde soll das nicht vergessen werden: In Ost und West haben uns viele geholfen. Ich nenne genauso George Bush wie Michail Gorbatschow -gerade jetzt und heute. Aber der Erfolg war auch - und dies dürfen wir bei aller Bescheidenheit sagen - ein Erfolg einer beharrlichen und konsequenten Außen- und Deutschlandpolitik, vor allem seit dem Ende des Jahres 1982.

Ich will nicht nachkarten: Aber wenn wir über die Geschichte der deutschen Einheit sprechen, müssen wir darüber sprechen, dass der Ausgangspunkt für diese einmalige Chance in der Durchsetzung des Nato-Doppelbeschlusses bestand. Ohne diese Entscheidung hätte es diesen Weg nicht gegeben! Es hätte damals sehr leicht zu einer Erosion der Nato kommen können, und ich weiß, nicht zuletzt von Michail Gorbatschow, dass die Stabilisierung der Nato eine entscheidende Voraussetzung für die Einleitung der Perestroika war. Beides gehört zusammen: die Standfestigkeit unserer Landsleute damals hier in der ehemaligen DDR, in den jetzigen neuen Bundesländern, die revolutionäre Aufbruchstimmung und das mutige Handeln der Solidarnosc in Polen, der Menschen in Ungarn und anderswo, aber auch die Bereitschaft der Deutschen unter Führung der Union in der alten Bundesrepublik, zur Freiheitsidee des Westens zu stehen.

An manchen Tagen ist es schon wie in einem Traum, und es geschieht soviel, dass viele von uns es kaum mehr wahrnehmen - ich nehme mich dabei nicht aus. Die nuklearen Kurzstreckenwaffen in Europa werden um 80 Prozent verringert. Wer das vor drei, vier, fünf Jahren auf einem Parteitag der CDU als Ziel verkündet hätte, wäre ausgelacht worden; das hat doch niemand für möglich gehalten. Wir haben gesagt: „Frieden schaffen mit weniger Waffen", und wir konnten unser Wort einlösen. Dafür sind wir dankbar. Wir haben auch an der anderen entscheidenden Weichen Stellung einen wesentlichen Anteil - im Sinne der Präambel unserer Verfassung -, die deutsche Einheit zu vollenden und einen Beitrag zur politischen Einigung Europas zu leisten. Das war immer unsere Politik seit den Zeiten Konrad Adenauers. Und das, was letzte Woche in Maastricht erreicht wurde, ist - bei allen Mängeln in diesem oder jenem Punkt - der Durchbruch in Europa. Man muss sich klarmachen, man muss sich wirklich klarmachen, was es heißt, dass es im Jahre 1997 oder 1999 - das spielt gar keine Rolle - in Europa nicht nur den großen Binnenmarkt geben wird, von Stockholm bis nach Edinburgh, von Dublin bis Rom, von Paris bis Lissabon, sondern dass es auch eine gemeinsame Währung geben wird und dass es - ungeachtet manchen Denkens in welchen Bürokratenstuben in Europa auch immer - das politische Europa natürlich auch geben wird; das eine formt das andere ganz zwangsläufig. Und am Ende dieses Jahrhunderts - ob drei Jahre oder ein Jahr vor der Jahrhundertwende - wird es für jeden ein für allemal offenbar sein: In diesem alten Kontinent wird es keinen Bruderkrieg untereinander mehr geben. Das ist doch die Botschaft, die wir jetzt verkünden können!

Ich habe den Wunsch und die Bitte - weil doch in vielen unserer Diskussionen danach gefragt wird: Haben wir eigentlich Visionen? -, die Gegenfrage zu stellen: Gibt es eine größere Vision als Freiheit und Frieden und Einheit für diesen alten, ewig jungen Kontinent? Das ist doch eine Vision, für die es sich zu arbeiten lohnt.

Und wir erleben in diesen Tagen ein anderes, ich finde, viel zu wenig beachtetes Ereignis: Wir erleben den Zusammenbruch der anderen der beiden schrecklichen Ideologien, die die Welt in diesem Jahrhundert beherrschen wollten: nach dem Faschismus -Nationalsozialismus den Zusammenbruch des Kommunismus, und zwar in einer unglaublich dramatischen Weise. Ich denke, wir müssen erkennen, dass dadurch auch im geistigen Leben Europas und Deutschlands jetzt ein Vakuum entstehen kann, das uns besonders fordert; ich will gleich darüber sprechen. Die Kommunisten haben nie verstanden, dass der Mensch die Achtung seiner Würde braucht wie die Luft zum Atmen, dass er Freiheit braucht. Jetzt ist auch dort, wo früher der Kommunismus herrschte, die Chance der Freiheit da, und es gilt, sie zu nutzen.

Im November 1989 habe ich im Bundestag in meiner Rede zu den zehn Punkten gesagt: „Die Wiedervereinigung, das heißt die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der Bundesregierung." Ich karte nicht nach, aber man wird nach zwei Jahren wenigstens darauf hinweisen dürfen. Es gilt ja heute als wenig vornehm, auf solche Zitate hinzuweisen. Ich will jetzt bewusst nicht so vornehm sein, sondern einfach daran erinnern, wie das war. Und zwar vor allem deswegen, weil die gleichen, die damals die falschen Ratschläge gaben, jetzt wieder falsche Ratschläge geben. Und wir haben doch die Lebenserfahrung gemacht - jedenfalls im privaten Leben -, dass wir den Ratgebern nicht folgen sollten, die immer das Falsche raten. Deswegen will ich doch daran erinnern, dass nicht irgendwann, sondern noch im Oktober 1989, kurz vor dem Fall der Mauer, der damalige Vorsitzende der SPD, Hans-Jochen Vogel, von der „Ablehnung des leichtfertigen und illusionären Wiedervereinigungsgeredes" gesprochen hat. Ähnlich Lafontaine und Engholm. Herr Schröder aus Niedersachsen verstieg sich sogar zu der Feststellung, die Wiedervereinigung sei „reaktionär und hochgradig gefährlich".

Das ist der Grund - weil sie so völlig außerhalb der geschichtlichen Tatsachen und Erfahrungen lagen -, weshalb sich die Sozialdemokraten im Blick zurück auf das Jahr 1989 so schwertun und jetzt vieles veranstalten, bis hin zu Publikationen vielfältiger Art, um die Geschichte umzuformulieren - nicht so, wie sie war, sondern, wie sie sie gern gezeichnet hätten. Deswegen ist es wichtig - und das ist ein Aufruf an uns alle -, dass wir uns darum kümmern, dass die Zeugnisse jener Tage offenbar und dokumentiert werden, damit nicht in zehn Jahren junge Studenten in den Seminaren deutscher Universitäten nur eine Darstellung bekommen, die nichts mit der Wirklichkeit von heute zu tun hat. Und vom Grundwertepapier von SPD und SED will ich in diesem Zusammenhang schon gar nicht mehr sprechen. Es ist einfach wahr: Viele führende deutsche Sozialdemokraten - ich sage bewusst: nicht alle - hatten das Ziel der deutschen Einheit aufgegeben und nicht mehr daran geglaubt. Sie sind in der Zeit danach - sie tun das zum Teil bis heute - durch die neuen Bundesländer gezogen und haben, statt den Menschen zu helfen, Katastrophengemälde entworfen.

Aber ich will nicht nur von den Sozialdemokraten, sondern auch einmal von jenen reden, die aufgrund ihrer besonderen Sensibilität eigentlich dazu berufen sein sollten, geschichtliche Vorgänge zu begreifen: Unter den Schriftstellern beispielsweise wandte sich Martin Walser als einer von wenigen im August 1989 gegen die - wie er sagte -„Gesundsprechung des kranken Zustandes" der deutschen Teilung. Er sagte: „Wenn du dich darum kümmerst,... dann bist du ein Nationalist ... Dann ist man kein Links-Intellektueller, für manche schon gar kein Intellektueller mehr." Ich weiß nicht, wen er im einzelnen gemeint hat, aber er könnte an Günter Grass gedacht haben, der sogar noch im Februar 1990 sagte: „Das Einheitsgebot gehört auf den Müllhaufen unserer Geschichte." Wie weit hat sich doch dieser gefeierte Schriftsteller von der Wirklichkeit der Menschen in unserem Land entfernt! Nach meinem Verständnis kennzeichnet es einen Schriftsteller, dass er ein ausgeprägtes Gespür für das hat, was die Menschen bewegt. Was eigentlich müssen angesichts solcher Äußerungen Millionen empfinden, deren Sehnsucht nach Freiheit und Einheit sich endlich - nach über vierzig Jahren Diktatur und Spaltung - erfüllte?

Weil die Zeit doch so schnelllebig ist und weil auch vieles bewusst verwischt wird, füge ich hinzu: Wie schäbig war doch das Verhalten von nicht wenigen im Westen, die in Freiheit lebten und dennoch zu Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl schwiegen. Heute wird jeden Tag gefordert - das ist auch richtig so -, dass vor allem die eigentlich Verantwortlichen des SED-Regimes vor Gericht gestellt werden sollen, dass nicht zugelassen wird, dass nach dem Motto verfahren wird: Die Kleinen hängt man, und die Großen lässt man laufen. Aber dafür sind eben auch beweiskräftige Unterlagen erforderlich. Ich erinnere hier an die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter, die einmal von allen Bundesländern in der Überzeugung, dass der Tag der deutschen Einheit kommen werde, eingerichtet wurde. Ich frage heute die SPD-Ministerpräsidenten des Saarlandes und von Nordrhein-Westfalen, die SPD-Bürgermeister von Bremen und Hamburg, wie sie es angesichts der auch von ihnen erhobenen Forderung nach Bestrafung der Schuldigen eigentlich rechtfertigen wollen, dass sie 1988 beschlossen haben, ihre finanzielle Unterstützung dieser Einrichtung der Bundesländer zur Dokumentation des Unrechts zu streichen. Der SPD-Vorsitzende und Ministerpräsident von Schleswig-Holstein hat diesen Schritt - Streichung der Zuschüsse - im Jahr 1989 getan, gut ein halbes Jahr, bevor Ungarn die Grenze nach Österreich für die Flüchtlinge aus der damaligen DDR öffnete.

Das alles sind schon beachtliche Armutszeugnisse, die sich so mancher ausstellte, der sich selbst gerne als moralische Instanz begreift. Ich habe diese Beispiele nicht genannt, um - ich sage es noch einmal - nachzukarten, sondern um noch einmal deutlich zu machen, dass diejenigen, die sich so verhielten und handelten, heute nicht berufen sind, sich mit Ratschlägen hervorzutun. Auf diese Schlussfolgerung kommt es mir an. Ich wollte damit auch darauf hinweisen, dass vor allem sie Grund hätten, aus diesen Vorgängen und Fehlern zu lernen und dass sie die Notwendigkeit begreifen sollten, jetzt gemeinsam zu helfen, statt hier in den neuen Bundesländern durch die Lande zu ziehen und - ich sagte es schon - die Menschen mit Katastrophenszenarien zutiefst zu verunsichern.

Niemand hat die Verwirklichung der deutschen Einheit konkret absehen können; wir nehmen das jedenfalls für uns nicht in Anspruch. Aber wahr ist auch, dass wir, wenn sich uns die Chance der deutschen Einheit zum Ende der Regierungszeit der SPD 1980 oder 1981 geboten hätte, die notwendigen materiellen Herausforderungen gar nicht hätten bewältigen können. Wir haben damals das Ruder herumgeworfen, weil unsere Vorstellung von Sozialer Marktwirtschaft völlig anders war als die unserer Vorgänger. Das hat dem Land gut getan. Fast vier Millionen neue Arbeitsplätze in den alten Bundesländern seit 1983 sprechen für sich. Über Jahre hinweg hat sich die finanzpolitische Situation in der alten Bundesrepublik hervorragend entwickelt. Wenn wir die deutsche Einheit nicht bekommen hätten, könnte ich heute vor Ihnen stehen und eine hervorragende Bilanz der Staatsfinanzen für die alte Bundesrepublik, vorlegen. So paradox es klingt: Ich freue mich, dass ich es nicht kann! Ich glaube, dass das, was wir für die deutsche Einheit, für die Einheit unseres Vaterlandes tun, jede Anstrengung wert ist. Jeder muss doch erkennen, dass sich die Lage bei uns und in Europa dramatisch verändert hat: Wir haben unser Ziel, die deutsche Einheit, erreicht. Aber wir dürfen uns nicht abkapseln und so tun, als seien die deutschen Dinge das Maß allen Handelns.

Wir haben gewachsene Verantwortung in Europa und in der Welt. Das, was Bischof Nossol hier gesagt hat, gilt nicht nur für Polen! Es gilt genauso für Ungarn, die CSFR und für die baltischen Staaten. Man kann doch nicht die Freiheit des Baltikums bejubeln und die Menschen dort gleichzeitig allein lassen! Das wäre eine heuchlerische Politik! Das gilt natürlich auch für die Hilfe zur Selbsthilfe für die Menschen in den Republiken der Sowjetunion. In Mittel-, Ost- und Südosteuropa sind die Menschen fasziniert vom Einigungsprozess im Westen. Es liegt gerade auch in unserem Interesse, dass sich Demokratie, Freiheit und Marktwirtschaft überall auf unserem Kontinent durchsetzen. Es ist wahr: Wir sind bis an die Grenze dessen gegangen, was wir an Lasten tragen können. Ich habe diesen Weg bewusst beschriften, auch in Kenntnis der Tatsache, dass wir das alles allein nicht schultern können. Aber wir haben ja auch Milliarden und Abermilliarden für Rüstung aufgebracht. Wenn wir in der vor uns liegenden Zeit Rüstung abbauen und die freiwerdenden Mittel in Werke des Friedens investieren können, dann ist gerade dies unsere Politik, wie wir sie immer verstanden haben.

Ich sprach mit Blick auf die dramatischen Veränderungen bereits von dem großen Ziel der politischen und wirtschaftlichen Einigung Europas, die jetzt Wirklichkeit wird. Hinzu kommt: Der Ost-West-Konflikt ist überwunden. Der Nord-Süd-Konflikt tritt in den Vordergrund. Wirtschaftliches Elend, soziale Not, Armutsflüchtlinge, globale Umweltzerstörung verlangen Antworten auch von den Deutschen. Auch wiederhole ich: Wir dürfen nicht zulassen, dass in der Welt die Stimmung aufkommt, die Deutschen haben ihr Ziel erreicht; jetzt kümmern sie sich um nichts, außer um sich selbst.

Das sage ich hier in die nachdenkliche Stimmung eines Parteitages, der sich nicht mit bevorstehenden Wahlen befasst, sondern der sich aus gutem Grund einmal mit der Partei selbst, mit ihrem Selbstverständnis, ihrer Identität beschäftigt. Es ist zugleich die Stunde zu fragen, ob wir angesichts der dramatischen Veränderungen in der Welt wirklich fähig sind, unsere Prioritäten neu zu bedenken. Kurt Biedenkopf hat es soeben treffend formuliert, als er sagte - ich gebe es mit meinen Worten wieder: Auch für den Kölner zum Beispiel sollte es eine phantastische Sache sein, dass das wunderbare historische Stadtbild Dresdens, die Brühlsche Terrasse in ihrem Glanz, in ihrer Tradition wiederersteht. Wenn ich den Alltag in der Partei, in der Fraktion, im Bundesrat, in der kommunalen Politik in den westlichen Bundesländern betrachte, dann habe ich nicht den Eindruck, dass wir das schon ganz begriffen haben. Ich habe manchmal eher das Gefühl, wir haben einen historischen Moment genutzt, haben dann - was richtig war - ordentlich gefeiert, und jetzt läuft es mehr oder minder so weiter wie vorher. Das heißt zum Beispiel in den Gemeinden der alten Bundesländer, dass jedes Hallenbad, das in der Planung war, nun auch gebaut werden soll. Mit Blick auf die neuen Prioritäten in Deutschland sage ich: Es muss jetzt nicht gebaut werden.

Von uns erwarten die Menschen, dass wir fähig sind, auch zu sagen, was wir uns jetzt eben nicht leisten können. Es ist nicht die Zeit des Verteilens. Es ist die Zeit der Konzentration auf das jetzt wirklich Notwendige. Seit der Wiedervereinigung vor vierzehn Monaten haben wir in den neuen Ländern bereits vieles auf den Weg gebracht. Es sind weit mehr als hundert Milliarden DM pro Jahr in die neuen Bundesländer gegangen. Aber dieses Opfer hat sich ja auch für die Menschen im Westen gelohnt. Ohne den Nachfrageboom durch die deutsche Einheit hätten wir im Jahre 1990 niemals eine solche Wirtschaftskraft entwickelt. Selbst in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft können Sie das ablesen an der Zunahme ihrer Exporte nach Deutschland.

Wenn wir jetzt dabei sind, vieles neu zu entwickeln, zahlt sich das für Sachsen, für Dresden, aber natürlich auch für ganz Deutschland aus, Denn das, was hier in den neuen Bundesländern neu entsteht, wird künftig den internationalen Vergleich nicht zu scheuen brauchen. Mehr als hierzulande kann man aus vielen ausländischen Äußerungen hören, dass die neuen Bundesländer in wenigen Jahren zu den besten Standorten in Europa zählen werden. Nur, wir müssen den Menschen hier sagen, dass es das Ergebnis unserer Politik sein wird. Natürlich geht das alles nicht über Nacht. Und besonders verständlich ist: Die Menschen, die eine völlige Veränderung nicht nur eines ökonomischen Systems, sondern ihrer ganzen Lebensumstande erleben, machen sich Sorgen -Sorgen um Arbeitsplätze, um neue Beschäftigungsmöglichkeiten. Sie haben Ängste, weil das, was sie - wenn auch mehr oder minder wider Willen - erfahren haben, doch ein Stück Rahmen, ein Stück Geborgenheit enthalten hat. Wenn der Staat vorsorgte für die Arbeitsplätze und wenn man glaubte, dass diese Arbeitsplätze sicher seien und wenn man sich dann jetzt auf eine marktwirtschaftliche Ordnung umstellen muss, ist es doch ganz selbstverständlich, dass der Übergang schwierig ist.

Die Deutschen im Westen sollten nicht so tun, als sei das bei ihnen anders gewesen. Wer es miterlebt hat - ich war damals 18, als die Währungsreform kam -, der weiß, dass wir in unserer Bundestagsfraktion bis in die frühen fünfziger Jahre hinein gestritten haben - von den Sozialdemokraten rede ich schon gar nicht -, ob die Soziale Marktwirtschaft der richtige Weg sei. Es ist doch wahr, und es gehört zur Geschichte unserer Partei, dass es damals in unserer Partei Stimmen gab, die forderten, Ludwig Erhard sollte besser abtreten, weil seine Politik nicht die richtige Politik für die Zukunft sei. Was heute wie ein Denkmal erscheint, war damals durchaus kein Denkmal. Damals stellten manche die Frage, ob das der richtige Weg sei. Erhards Weg hat sich als richtig und erfolgreich erwiesen. Aber es war auch damals ein sorgenvoller Weg. Das müssen wir unseren Freunden und Landsleuten in den neuen Bundesländern sagen.

Entwicklungen, die im Westen Deutschlands Jahrzehnte in Anspruch nahmen, vollziehen sich hier in den neuen Bundesländern in wenigen Monaten. Dieser umfassende und rasche Wandel verunsichert viele. Wiedervereinigung heißt deshalb für mich: Die Sorgen der Menschen in den neuen Bundesländern müssen die gemeinsamen Sorgen aller Deutschen sein. „Einheit leben" muss doch heißen, dass es für uns kein „hüben" und kein „drüben" mehr gibt. Deswegen ist solidarisches Handeln nicht im Reden, sondern im Handeln angesagt. Zu den praktischen Beispielen zählen 400000ABM-Plätze und 800000 Maßnahmen zur beruflichen Fortbildung und Qualifikation. Ich will das hier auch einmal sagen, weil es oft vergessen wird: Dies wird überwiegend von den Beitragszahlern aus den alten Ländern finanziert. Zu den Erfahrungen der letzten Monate gehört auch, dass es für alle Schulabgänger in den neuen Bundesländern eine Lehrstelle gibt. Das ist eine phantastische Leistung! Das ist eine Leistung, die vor allem aus der Gesellschaft getragen wird. Es waren Unternehmer, die sich sozial verpflichtet verhalten haben: Handwerksmeister, mittelständische Unternehmer, Betriebsräte und Gewerkschaftler. Das ist eine solidarische Leistung: junge Leute weg von der Straße in erstklassige Ausbildungsverhältnisse zu bringen.

Wir haben seit Ludwig Erhard ja nicht von Marktwirtschaft, sondern von Sozialer Marktwirtschaft gesprochen. Ich sage das auch im Nachgang zu den stundenlangen Debatten auf dem Maastrichter Gipfel. Wir waren nie reine Marktwirtschaftler. Wir wissen um die Grenzen der Marktwirtschaft. Soziale Marktwirtschaft schließt das Gebot der Solidarität mit ein. Und Solidarität ist auch notwendig zur Sicherung der Stabilität unserer Wahrung. In einem Land, in dem zwei Generationen Inflation und Vermögens Verluste bitter erfahren haben, in einem Land, in dem man im Rückblick auf die Geschichte doch sagen kann, dass die erste Inflation nach dem Ersten Weltkrieg sehr viel mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus und der Verelendung breiter Massen unserer Bevölkerung zu tun hatte, ist die Sensibilität für diese Frage ganz besonders groß. Deswegen sage ich gerade auch im Blick auf den Weg in das vereinte Europa: Was jetzt in Maastricht in dem Vertrag so sorgfältig ausgearbeitet wurde, ist ein Beweis dafür, dass wir nichts tun werden, was die Stabilität unserer Währung gefährdet. Denn wir wissen nur allzu gut, dass eine stabile Währung die zentrale Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit ist. Es werden immer breite Massen der Bevölkerung, die sogenannten kleinen Leute, bestraft, wenn die Währung nicht mehr stabil ist. Das kann und wird niemals unsere Politik sein.

Wir haben eine veränderte weltwirtschaftliche Lage. Es muss doch -das gehört zu den Prioritäten - bei abgebremster Weltkonjunktur unser Ziel sein, Arbeitsplätze und Stabilität im eigenen Land zu erhalten. Sie wissen, ich respektiere die Tarifautonomie. Als letztes kann ich mir vorstellen, dass die Regierung auch noch über Lohntarife bestimmt. Das wäre ein Grund zum Auswandern. Natürlich hat auch die Politik Mitverantwortung, etwa als Arbeitgeber im öffentlichen Dienst. Zugleich müssen wir bei der Entwicklung zwischen den neuen Bundesländern und den alten Bundesländern insgesamt immer wieder auf die engen Zusammenhänge von Sicherung von Arbeitsplätzen und Stabilität unserer Währung hinweisen. Mein Appell ist daher, dass jeder, der in der Verantwortung steht, das Notwendige tut, damit wir bei den Tarifrunden in diesem Jahr zu Ergebnissen kommen, die der Gesamtwirtschaft dienen und die jetzt vor allem die Interessen der neuen Bundesländer vorrangig berücksichtigen. Das gehört ebenfalls zur neuen Prioritätensetzung.

Ich sprach von den finanziellen Anstrengungen, die wir unternehmen müssen. Jeder weiß, der Investitionsbedarf in den neuen Bundesländern ist gewaltig. Mir scheint nur, von allen Krediten, die das Deutsche Reich und dann später die Bundesrepublik Deutschland in diesem Jahrhundert aufgenommen haben, sind die Kredite für den Frieden und die Freiheit und die deutsche Einheit die sinnvollsten. Das sind im übrigen Kredite, die gerade der jungen Generation ihre Zukunft sichern. Selbstverständlich ist aber auch: Wir werden die Neuverschuldung des Bundes wieder zurückführen. Solide Finanzpolitik gehört zum Markenzeichen unserer Politik. Und ich füge hinzu: Finanzpolitik wird auch ein zentrales Wahlthema sein, weil es mit dem persönlichen Glück und dem Schicksal vieler Menschen etwas zu tun hat. Meine Bitte in dieser föderal gegliederten Partei ist, daran zu denken, dass das nicht nur ein Thema der Bundesregierung und der Bundestagsfraktion ist, sondern genauso eine Frage der Länder und der Gemeinden. Für solide Staatsfinanzen und stabile Währung unseres Landes stehen wir alle gemeinsam in gesamtstaatlicher Verantwortung. Aber wenn ich von den notwendigen Prioritäten spreche, dann stellt sich genauso die zentrale Frage nach dem künftigen Standort Deutschland. Wer attraktive und sichere Arbeitsplätze will, der muss international leistungsfähig sein. Er muss ganz einfach auch besser sein als die Konkurrenz.

Gerade an der Schwelle zum großen europäischen Markt in zwölf Monaten ist es eben töricht, nach der Art der Sozialdemokraten eine Frage wie die Neuregelung der Besteuerung von Betrieben abzuwerten. Hier geht es doch nicht um Geschenke für die Reichen. Hier geht es ausdrücklich darum, dass unsere Unternehmungen mit ihren Arbeitsplätzen, mit ihrer Produktion im europäischen Markt mit 380 Millionen Menschen wettbewerbsfähig sind. Das ist das Ziel, das wir uns gesetzt haben!

Wenn wir uns klug verhalten, müssen wir uns - etwa im Jahre 1999, wenn die Währungsunion vollendet ist - nicht sorgen, auch mit den Japanern und den Amerikanern, den Ländern im Fernen Osten im Export konkurrieren zu können. Wir sind aber noch nicht soweit! Ich weiß, dass viele das nicht gern hören. Doch Weglaufen vor den wirklichen Problemen unseres Landes hilft niemandem. Als eine der bedeutendsten Exportnationen der Welt müssen wir uns fragen: Sind wir jetzt, im Dezember 1991, für diesen härteren Wettbewerb gerüstet? Tun wir wirklich genug dafür, dass beispielsweise das umweltfreundliche und technisch anspruchsvolle Auto des Jahres 2000 in erster Linie am Standort Deutschland gebaut wird? Es stimmt mich schon nachdenklich - ohne dass ich deswegen Ängste beschwöre -, dass deutsche Automobilexporte etwa in den USA an Boden verlieren, während die Japaner kräftig zulegen. Wer also über viele besondere Leistungen im Sozialen nachdenkt - in den Tarifverträgen, vom Jahresauto bis hin zu der Verkürzung der Arbeitszeiten -, der muss vor allem daran denken: Wie wird im Jahre 2000 und 2010 die Arbeitsplatzsituation hier in Deutschland aussehen? Das muss jetzt das Ziel sein, um das wir uns bemühen! Es geht aber beim Standort Deutschland nicht nur um Produktions- und Exportergebnisse. Es geht um mehr. Es geht um unsere Fähigkeit, um die Fähigkeit unserer Gesellschaft - ob Arbeitgeber oder Gewerkschaften oder andere wichtige Gruppen - zu einer über Gruppeninteressen hinausgreifenden Zusammenarbeit.

Es geht um die Leistungsfähigkeit unserer Schulen und Hochschulen. Auch hier müssen wir fragen, ob wir konkurrenzfähig sind. Es geht beispielsweise um die seit Jahrzehnten auf Parteitagen immer wieder aufkommende Frage, wie lange wir uns noch die längsten Ausbildungszeiten in Europa leisten können, ob wir wirklich vor Verbänden kapitulieren wollen, oder ob wir fähig sind, endlich das zu tun, was alle unsere Nachbarn längst getan haben. Es geht ebenso um Forschungsinvestitionen und um Spitzentechnologie. Aber es geht vor allem nicht nur um wirtschaftliche Dinge, sondern um das Bild Deutschlands, das in der Welt entscheidend geprägt wird durch Reichtum und Vielfalt von Kunst und Kultur. Das wachsende Interesse vor allem im Norden und Osten Europas an unserer Muttersprache, an der deutschen Sprache, eröffnet eine ungeheure Chance! Ist es nicht eigenartig, dass wir es in unserem föderalen Gemeinwesen einfach nicht zustande bringen, jetzt in einer Sonderaktion eine genügende Zahl von Deutschlehrern in den neuen Republiken der früheren Sowjetunion, in Polen und anderswo zur Verfügung zu stellen? Das ist eine neue Priorität. Wir kriegen nicht jedes Jahr die Chance, für die deutsche Sprache in der Welt etwas zu tun. Jetzt ist die Chance da; lassen Sie sie uns nutzen!

Wenn ich an die Kultur denke, denke ich natürlich hier in Sachsen an das Leipziger Gewandhausorchester, das von hier nach New York geht. Ich denke an umfassend informierende Tagungen der Goethe-Institute in Asien, an Gastprofessuren in Lateinamerika und an Projekte für politische Bildung in Afrika: Auch dies bestimmt das Bild Deutschlands in der Welt! Mit einem Wort: Mir geht es um die Offenheit und die Anpassungsfähigkeit unserer Gesellschaft gegenüber neuen Entwicklungen und Herausforderungen. Das bestimmt entscheidend den Standort Deutschlands und seine Attraktivität in Europa und darüber hinaus. Zu diesem Zukunftsstandort Deutschland gehört selbstverständlich der wirksame Schutz von Natur und Umwelt, die Bewahrung der Schöpfung, der Einklang von Ökologie und Ökonomie. Gerade hier in den neuen Bundesländern sehen wir ja das katastrophale Erbe, das die SED hinterlassen hat. Wir müssen auch hier die Priorität sehen, die notwendig ist. Die Beseitigung gehört zu unseren drängendsten Aufgaben. Was wir am Rhein geschafft haben, werden wir auch an Oder und Elbe erreichen. Dies ist ein weiteres Beispiel für konkretes und solidarisches Handeln.

Wenn wir von der inneren Einheit unseres Landes sprechen, dann sollten wir zuerst einmal von jenen sprechen, die den längsten und schwierigsten Weg in Deutschland hatten. Das ist die Generation der Rentner. Die Renten in den neuen Bundesländern - und ich danke bei dieser Gelegenheit einmal Norbert Blüm, der immer ein Vorkämpfer für diese Solidaritätsverpflichtung war -, die Renten in den neuen Bundesländern sind seit 1989 schneller gestiegen als die realen Einkommen der Arbeitnehmer. Ich finde das richtig, weil ich glaube, dass es keine Generation gibt, die die Last der Geschichte unseres Volkes so getragen hat wie die Rentner in den neuen Bundesländern. Wer dort heute siebzig oder achtzig Jahre oder älter ist, der hat die ganze Last des Jahrhunderts getragen. Denken wir nur an Inflation, Weltwirtschaftskrise, Nazizeit, Krieg und Gefangenschaft, kommunistische Diktatur hier. Man muss sich immer wieder klarmachen, das alles ist ein Deutschland. Wer 1939 Soldat wurde, Krieg und Gefangenschaft überlebte und hier nach Dresden in die Heimat zurückkehrte, der hatte dann noch vierzig Jahre SED-Diktatur vor sich. Und viele Frauen, deren Männer gefallen waren und die nicht die Chance hatten, einen Partner zu finden, mussten ihren Lebensweg auch noch über vierzig Jahre im Sozialismus allein bewältigen. Wer das Glück hatte, auf der Sonnenseite, im freien Teil unseres Landes, zu leben, der muss sich vergegenwärtigen, was dies heißt, und dass gerade die ältere Generation in den neuen Bundesländern weit mehr Last zu tragen hatte als irgendeine andere. Deswegen verdient sie in besonderer Weise unsere Sympathie und unsere Zuneigung. Diese ältere Generation muss wissen, dass sie zu uns gehört, dass wir offen sind für ihre Fragen und Probleme!

Für uns als Christliche Demokraten war es immer klar - das ist ein Teil unserer Programmatik und unseres Selbstverständnisses -, dass die Familie im Mittelpunkt unserer Politik stehen muss. Sie ist der wichtigste Ort persönlicher Geborgenheit und Orientierung. Natürlich ist es die persönlich-private Entscheidung eines jeden einzelnen, ob er eine Familie gründen und Kinder haben will oder nicht. Aber ich finde, es ist richtig, offen auszusprechen, dass jeder, der sein Leben ohne Kinder gestaltet, letztlich auch von denjenigen lebt, die mit ihren Kindern für die Gesellschaft einen entscheidenden, unentbehrlichen Beitrag erbringen. Ich sage es noch einmal: Ich respektiere die persönliche, die private Entscheidung, aber wahr ist: Auch wenn es sich der einzelne erlauben kann, als Single zu leben, gilt dennoch der Satz: Eine Gesellschaft ohne Familien mit Kindern hat keine Zukunft. Das muss wieder jedermann klargemacht werden.

Das heißt: Familien - und auch Alleinerziehende - brauchen eben nicht nur öffentliche Sympathiebekundungen. Sie müssen auch die notwendige Unterstützung erfahren. Familien mit Kindern müssen Vorfahrt haben. Das ist eine Priorität, die nicht geändert werden darf! Das kann der Staat allein nicht leisten. Wir haben allen Grund, denen zu danken, die in privater Initiative Hilfe leisten. Dies ist auch wegen des menschlichen Klimas in unserer Gesellschaft wichtig. Wir haben allen Grund - in diesem wie in anderen Zusammenhängen -, unseren Kirchen und ihren karitativen und diakonischen Einrichtungen für ihr Engagement zum Wohle der Menschen zu danken. Ich verbinde damit die Bitte, dass die Kirchen gerade jetzt, bei unseren Anstrengungen, die innere Einheit Deutschlands zu vollenden, ihre moralische Autorität dafür einsetzen, dass dieser Weg gemeinsam gegangen wird und zum Erfolg führt. Ich glaube, hier kann sich in einer ganz neuen Dimension auch Kirchlichkeit bewähren.

Es wird viel über Menschlichkeit in unserer Gesellschaft gesprochen. Unsere Gesellschaft beweist ihre Menschlichkeit vor allem dann, wenn viele bereit sind, für den Nächsten da zu sein und nicht jeder nur für sich selbst. Wir wissen, dass staatliche Sozialpolitik allein kein Ersatz für tätige Nächstenliebe sein kann. Deswegen wollen wir all jenen im freien und gemeinnützigen Bereich helfen, die bereit sind, hier ihren Dienst zu tun. Das ist ja nicht nur eine Frage der Organisation; es geht vielmehr in einer „Prestigegesellschaft" - lassen Sie mich dies so sagen - auch darum, dass dieses Dienen, dieser Dienst am Nächsten, bei uns auch als eine großartige Leistung für die Allgemeinheit anerkannt wird. Es ist wichtig, dies immer wieder deutlich zu sagen!

Wir sind stolz auf unser Grundgesetz. Es ist die freiheitlichste Verfassung in der Geschichte der Deutschen. Dieses Grundgesetz hat sich in über vierzig Jahren bewährt. Wir wissen: Auch die Menschen in den neuen Bundesländern wollten keine andere Bundesrepublik. Sie haben sich für das Grundgesetz entschieden. Natürlich wissen wir auch, dass wir das Grundgesetz in einigen Punkten der veränderten Situation -der Einheit Deutschlands und der Einigung Europas - anpassen müssen. Aber manche reden ja jetzt auch von einer Totalrevision des Grundgesetzes, und dazu will ich hier für die Christlich-Demokratische Union klar und deutlich sagen: Wir wollen diese Verfassung, keine andere! Ich betone nochmals: Wenn ich das so prononciert sage, schließt das nicht aus, dass notwendige Veränderungen vorgenommen werden; aber niemand kann mit uns die Achse unserer Republik durch eine Totalrevision unserer Verfassung verschieben. Dies muss klar und deutlich ausgesprochen werden. Dieses Grundgesetz ist auch das Fundament für ein weltoffenes Deutschland. Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land und muss es auch bleiben. Das sollen die Millionen von Ausländern wissen, die bei uns leben, die wir zu uns geholt haben, damit sie uns helfen. Sie tragen mit ihrem Fleiß zu unserem Wohlstand bei. Manche bedenken gar nicht, dass auch ihr persönliches Wohlbehagen und ihr Wohlstand darauf beruhen, dass Ausländer in Deutschland mitarbeiten. Auch das gehört zum Bild unserer Republik.

Wir als Christlich-Demokratische Union Deutschlands verurteilen jede Form von Fremdenhass und Ausländerfeindlichkeit. Wir verurteilen jede Form von Rassismus, erst recht in der besonders erschreckenden und brutalen Form etwa des Antisemitismus, den man gelegentlich antrifft. Dies alles ist mit unserer Vorstellung für unser Land nicht vereinbar! Wir treten all diesen Tendenzen mit äußerster Schärfe und Entschiedenheit entgegen und werden dies auch weiterhin tun.

Zur aktuellen Diskussion über das Asylrecht will ich noch einmal kurz unsere Position bekräftigen: Für uns ist das Recht auf Asyl unantastbar. Wer aus religiösen, rassischen oder politischen Gründen in seiner Heimat verfolgt wird, findet selbstverständlich bei uns Zuflucht und Asyl. Aber angesichts von Hunger und Armut in der Welt gibt es heute immer mehr Menschen, die aus wirtschaftlicher Not ihre Heimat verlassen und zu uns kommen wollen. Wer genau hinschaut, weiß: Wir sind nicht in der Lage, dieses Problem in unserem Lande zu lösen. Wir müssen den Menschen helfen, in ihrer Heimat ihr Glück und ihre Zukunft zu finden. Das heißt, man kann nicht über das Asylrecht diskutieren und gleichzeitig schweigen, wenn es darum geht, den Ländern der Dritten Welt bei der Bekämpfung von Hunger und Armut zur Seite zu stehen und ihnen zu helfen.

Im übrigen hat auch die Diskussion in diesen Tagen auf dem EG-Gipfel in Maastricht gezeigt: Das ist kein isoliertes deutsches Problem; es ist ein Problem aller europäischen Länder. Die Lösung kann nur in einer gemeinsamen europäischen Regelung liegen, und ich bin sicher, dass die Beschlüsse von Maastricht uns auf diesem Felde sehr rasch voranbringen. Und dann wird sich zeigen - darüber brauchen wir keinen Gelehrtenstreit abzuhalten -, dass ein wirklich praktikables europäisches Asylrecht ohne eine Änderung unseres Grundgesetzes nicht möglich ist. Wir brauchen eine europäische Lösung, wir müssen tun, was dazu notwendig ist, und wir erwarten, dass andere das endlich auch begreifen.

Bei all dem, was wir als Fehler einzuräumen haben - das gilt auch für mich persönlich -, glaube ich doch, dass wir im Blick zurück auf den letzten Parteitag Anfang Oktober 1990, im Blick zurück auf die vergangenen Monate Grund zum Selbstbewusstsein haben. Wir konnten vieles erreichen. Aber wir dürfen nicht damit zufrieden sein, wie wir diese gemeinsamen Erfolge vertreten. Wir müssen dabei mehr Mut und Stehvermögen aufbringen, und wir dürfen uns vor allem nicht von jedem Gegenwind beeindrucken lassen - oder, was noch törichter ist, unsere Leistungen selber zerreden.

Zu einer kämpferischen Vertretung unserer Politik gehört auch, dass wir uns vor unsere eigenen Leute stellen. Das, was Woche für Woche von manchen vorgebracht wird, um Persönlichkeiten der Union zu schädigen, darf uns nicht beirren. Wer wie ich Gelegenheit hatte - der ich ja nie angegriffen werde; deswegen kann ich darüber ganz ruhig sprechen -, dies im Laufe von Jahren, ja, von Jahrzehnten zu verfolgen, der weiß: Es wird immer eine bestimmte Person herausgesucht, die an- oder abgeschossen werden soll, aber treffen will man doch die gesamte Union. Das ist - um es einmal ganz klar zu sagen - die Rache derer, die die geschichtliche Stunde verschlafen haben. Wenn ich sage, wir sind stolz auf unsere Erfolge, dann meine ich damit nicht, dass wir mit den Erfolgen von gestern etwa morgen Wahlen gewinnen können. Die Menschen erwarten eine Handreichung, einen Ausblick auf die Zukunft, eine Aussage, wie wir die Lage sehen, wie wir die Probleme sehen und wie wir sie lösen wollen.

Die Welt hat sich dramatisch verändert. Vor fünfzehn Jahren, ja, vor zehn Jahren waren der europäische Binnenmarkt und die Währungsunion noch in weiter Ferne. Weltweiter Klimaschutz war noch ein Thema für Spezialisten. Katalysatorauto und Erziehungsgeld waren noch nicht durchgesetzt. Ich könnte viele weitere Beispiele bringen. Noch viel tiefgreifender sind die Folgen, die mit der deutschen Einheit und mit dem Ende des Ost-West-Konflikts verbunden sind. Der Zusammenbruch des Kommunismus hat die Gewichte verschoben. Das Scheitern der marxistischen Ideologie ließ ein geistiges Vakuum entstehen. Auch im Westen Europas sind die kommunistischen Parteien in einer tiefen Krise. Sie haben sich umbenannt oder aufgelöst. Die sozialistischen Parteien wie jene in Spanien, in Österreich oder in England rücken jeden Tag mehr von ihren marxistisch-sozialistischen Parteitraditionen ab. Marktwirtschaft ist heute auch bei den sozialistischen Parteien „in", vielleicht mit Ausnahme der deutschen Sozialdemokraten, die die umgekehrte Entwicklung nehmen. Aber das ist eine der Tatsachen, die ich sowieso nicht verstehen kann.

Die geschichtliche Entwicklung hat die große Linienführung unserer Politik bestätigt. Deswegen müssen wir uns heute schon auch die Mühe machen, im Rahmen unserer Möglichkeiten unseren Beitrag zur Diskussion über die geistige Führung für die Zukunft zu leisten. Für mich stellt sich in diesen Jahren, 1990 und jetzt 1991, sehr wohl die Frage, ob wir alle begreifen, dass angesichts des entstandenen Vakuums die christlichdemokratische Idee eine wirklich neue Chance gewonnen hat. Unsere Aufgabe als Christlich-Demokratische Union ist nicht leichter geworden, aber unser Beitrag ist notwendiger denn je. Die Welt, in der wir für unsere Ziele eintreten, ist nicht mehr eine Welt, die das „C" ohne weiteres akzeptiert. Der Prozess der Säkularisierung ist weit fortgeschritten. Immerhin gehören im vereinten Deutschland mehr als 21 Millionen Menschen keiner Kirche mehr an. Machen wir es uns nicht so einfach, dass wir sagen: Das kommt von der Entwicklung in der DDR und von der Unterdrückung durch die SED. Das ist ein Teil der Wahrheit; wahr ist aber auch, dass in einer Großstadt wie Hamburg - sie steht nur symbolisch für andere deutsche Großstädte - nur 60 Prozent der Kinder eines Jahrgangs getauft werden. Die Christlich-Demokratische Union, unsere Partei, unsere politische Heimat, ist nach 1945 in einer Zeit entstanden, in der nach der nationalsozialistischen Katastrophe Religion und Kirchlichkeit augenscheinlich eine Renaissance erlebten. Für eine Zeit war es so, dass in der Gesellschaft christlichen Werten eine neue Verbindlichkeit zuwuchs. Davon können wir heute nicht mehr ausgehen.

Die knappen Hinweise machen deutlich, vor welchen Herausforderungen wir stehen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass unser christliches Verständnis vom Menschen und die ethischen Grundlagen unserer Politik gültig sind und bleiben. Ich sage klar und deutlich: Mit uns, der CDU, ist eine Anpassung an den Zeitgeist nicht zu machen; damit lässt sich Zukunft nicht gewinnen. Wer dem Zeitgeist hinterherläuft, wird immer hinterherlaufen. Das ist die Erfahrung der Geschichte. Das heißt, ungeachtet der Tagespolitik und auch ungeachtet mancher Schwierigkeiten, unsere Ideale klar und deutlich zu vertreten, ist es notwendig, dass wir für unsere Grundwerte und die Fundamente unserer Politik kämpferisch eintreten und dass wir fähig sind, für sie auch dann kämpferisch einzutreten, wenn das nicht so populär zu sein scheint. Ich sage das ganz bewusst auch mit Blick auf die Diskussion in unserer Partei über den Schutz des Lebens ungeborener Kinder. Es gibt Fragen, bei denen man sich nicht nach der Demoskopie verhalten kann, sondern nach dem, was der Kompass unserer Grundsätze anzeigt.

Ich glaube, angesichts der Veränderungen, von denen ich sprach, ist es wichtig, dass wir jetzt damit begonnen haben, unser Grundsatzprogramm zu diskutieren, zu Überdenken und Überlegungen anzustellen, was wir jetzt verändern wollen. Wir wollen gestalten und nicht einfach reagieren; das ist unser Ziel bei dieser Diskussion. Der Zeitplan ist klar. Ende 1992/Anfang 1993 wird der Entwurf des fortgeschriebenen Grundsatzprogramms vorliegen. Das ganze Jahr 1993 steht dann für die Diskussion in den Orts-, Kreis- und Landesverbänden zur Verfügung. Ich denke, es wird uns gut tun, dass wir das Programm im Frühjahr des Jahres 1994 - also eines Jahres, in dem die Wahlen zum Europaparlament im Juni, zu vielen Kommunalvertretungen, die Bundestagswahlen im Oktober und viele Landtags wählen stattfinden werden - auf einem eigenen Bundesparteitag verabschieden. Es tut uns gut, unsere Prinzipien ungeachtet all dieser Anstrengungen in einem solchen Wahljahr vor der deutschen Öffentlichkeit deutlich zu machen, und ich lade Sie alle herzlich ein, an der Diskussion in den Kreis- und Ortsverbänden mitzuwirken. Das ist wichtig für den Kompass der Partei für die Zukunft.

Dabei gewinnen wir eine gute Chance, in den Orts- und Kreisverbänden abseits der Routine über das zu sprechen, was die CDU ausmacht. Dazu gehören unsere Defizite bei der Mitgliedschaft junger Leute und von Frauen. Beschlüsse haben wir genug gefasst. Wenn ich die Essener Beschlüsse zum Thema Frauen betrachte, müssten wir aus diesem Problembereich längst heraus sein. Es geht also nicht darum, neue Beschlüsse zu fassen, sondern sie endlich ernst zu nehmen, auch dort, wo es unbequem wird. Dazu gehört auch die Arbeit vor Ort, die Arbeit in der Kommunalpolitik. Ich kann dies nicht oft genug sagen: Wir dürfen nicht zulassen, dass sich die kommunalpolitische Ebene von der Gesamtpolitik etwa nach dem Motto absondert: Für die Landes- und Bundespolitik sind andere zuständig; im Rathaus wissen wir schon, was geht. Die Bürger machen diese angeblich gescheite Unterscheidung nicht. Die Bürger sehen uns als Ganzes, und sie haben damit recht. Als Ganzes haben wir unsere Politik zu vertreten.

Nach den Landtagswahlen im April haben wir die für deutsche Verhältnisse ungewöhnliche Chance, nahezu zwei Jahre keine Wahl auf der Ebene der Landtage und des Bundestages zu haben. Natürlich werden in der Zwischenzeit Kommunalwahlen stattfinden; das weiß ich. Ich finde jedenfalls, wir sollten diese Zeit nutzen, und ich selbst will das auch tun. Ich will mich dabei voll einsetzen, damit wir uns, was die Organisation der Partei angeht, für die Zukunft fit machen. Wir müssen dabei flexibler werden. Nicht nur die programmatische Arbeit muss vorankommen, sondern wir müssen fähig sein, auch auf die Menschen zuzugehen, damit sie erfahren, dass wir ihre Sprache sprechen und dass wir ihre Probleme kennen. Am Beispiel der neuen Landesverbände sehen wir ja, dass es in unserer Bevölkerung sehr viel mehr junge Talente gibt, als in unseren Kreisverbänden gemeinhin angenommen wird. Nur müssen sie eben das Gefühl haben, dass sie erwünscht sind.

Wir sind hierher nach Dresden gekommen, um ganz offen über die Frage des Zusammenwachsens unserer Partei zu sprechen - was ja ein Problem ist, wie es sich nicht allein bei uns stellt. Ich finde das, was andere in diesem Zusammenhang in den letzten Monaten gesagt haben, ziemlich überheblich. Ich erinnere mich an einen Parteivorsitzenden, der beschworen hat, das Problem gäbe es überhaupt nicht. Na ja, dann war er auf dem FDP-Parteitag und hat erlebt, dass ihn die Probleme eingeholt hatten. Ich glaube also, es ist sehr viel besser, wenn sich jeder zunächst um sich selbst kümmert und versucht, seiner eigenen Verantwortung gerecht zu werden. Ich sage das übrigens auch im Blick auf die deutsche Sozialdemokratie; denn so einfach, wie es jetzt in Bonn gelegentlich dargestellt wird, war der Ablauf der Geschichte nach 1945 nicht. Auch dazu lässt sich sehr, sehr viel sagen.

Seit dem 1. Oktober 1990 sind wir ein gutes Stück vorangekommen. Aber wir wissen auch, dass noch viel zu tun ist. Unser Umgang untereinander muss geprägt sein von gegenseitigem Verständnis und Geduld. Wie wir miteinander umgehen - das sollten wir uns immer wieder klarmachen -, ist exemplarisch für den Umgang der Deutschen untereinander. Das Wichtigste ist, dass wir uns dabei nicht von vorgefassten Meinungen leiten lassen. Dies gilt nicht zuletzt im Blick auf die Vergangenheit. Es ist richtig, dass die Vergangenheit der CDU in den neuen Bundesländern Teil der Geschichte der CDU Deutschlands ist und dass wir uns gemeinsam dieser Geschichte zu stellen haben. Dabei rate ich all denen, die - wie ich - in den westlichen Bundesländern gelebt haben, zur Zurückhaltung. Es geht vor allem darum, in den Orts-, Kreis-, Bezirks- und Landesverbänden der neuen Bundesländer das fortzuführen und, wie ich hoffe, zu einem guten Ende zu bringen, was nicht erst jetzt - ich blicke Lothar de Maiziere an -, sondern schon 1989/1990 begonnen wurde. Es geht darum, dass man vor Ort darüber diskutiert, wie sich der einzelne in der Vergangenheit verhalten hat, und ob das Konsequenzen haben sollte oder nicht.

In unserer Dresdner Erklärung, die wir am Dienstag verabschieden wollen, heißt es: „Das Verhalten und die Konflikte unter den Bedingungen einer Diktatur können am ehesten diejenigen beurteilen, die unter solchen Bedingungen zu leben hatten. Pauschale Urteile versperren den Zugang zur Wahrheit ebenso wie Versuche, notwendigen Diskussionen auszuweichen und Klärungen zu verschleppen. Erforderlich sind daher ein fairer Umgang mit Personen und eine differenzierte Bewertung von Fakten." Diese Sätze halte ich für sehr, sehr wichtig. Ich will es so formulieren, wie ich es für mich ganz persönlich im Bundestag schon einmal formuliert habe. Ich glaube, es ist wichtig, Ihnen dies als die Meinung des Parteivorsitzenden zur Kenntnis zu geben. Ich hatte das Glück, 1930 am Rhein geboren zu werden. Als ich zu Weihnachten 1946 als Schüler zur Partei kam, lag meine Heimatstadt Ludwigshafen in der französischen Besatzungszone, im westlichen Teil Deutschlands. Wenn ich in jenen Tagen in Leipzig gelebt hätte, wäre ich aufgrund meines Elternhauses mit größter Wahrscheinlichkeit ebenfalls in die CDU eingetreten, vor allem schon deswegen, weil für mich und meine Freunde die CDU damals die Partei von Jakob Kaiser und Andreas Hermes war. Das waren für uns leuchtende Vorbilder. Es war die Partei jenes Andreas Hermes, der unmittelbar vor seiner Wahl zum Parteivorsitzenden aus der Todeszelle von Plötzensee herausgekommen war. Es war die Partei Jakob Kaisers und Ernst Lemmers.

In jener Zeit sind Hunderttausende in die CDU eingetreten. Viele haben die Partei später wieder verlassen. Nicht wenige sind wegen ihrer politischen Überzeugung geflohen. Nicht wenige wurden verhaftet oder verschleppt. Wir wissen bis heute nicht genau, wie viele von ihnen in Workuta oder in Buchenwald umgekommen sind. Ein beachtlicher Teil der Gründergeneration ist in der sowjetischen Besatzungszone, später der DDR, in der CDU geblieben. Ich sage ganz einfach: Ich wehre mich leidenschaftlich dagegen, dass sie pauschal verdächtigt und diffamiert werden. Und ich füge für mich persönlich hinzu: Ich weiß nicht, welchen Weg ich genommen hatte. Ob ich in jenen Tagen, als die Chance noch dazu bestand, in den Westen gegangen wäre, ob ich die Kraft zum Widerstand gehabt hätte, ob ich Bautzen riskiert hatte - oder ob ich mir eine Nische gesucht hätte und Kompromisse eingegangen wäre: Ich weil? es nicht. Aber weil ich es nicht weiß und viele es für sich ebenfalls nicht wissen können, rate ich uns, nicht mit Besserwisserei oder gar mit Arroganz an diese Frage heranzugehen. Das gehört ebenso zur Aussöhnung wie das Aussprechen der Wahrheit. Dazu gehört noch etwas, nämlich unser Respekt vor jenen, die den Mut hatten, mit allen Konsequenzen dem SED-Regime entgegenzutreten, und die zum Teil schwerste Opfer haben bringen müssen.

Wer nun das zurückliegende Jahr überblickt, wird zustimmen müssen, wenn ich sage: Die Vereinigung ist unserer Partei in vielfältiger Form zugute gekommen. Es ist doch ein Gewinn, dass der Mitgliederanteil in der Altersgruppe der 25- bis 40jährigen in den Landesverbänden der neuen Bundesländer fast doppelt so groß ist wie in den alten Bundesländern, dass der Anteil der weiblichen Mitglieder dort doppelt so groß ist wie jener in den alten Bundesländern. Ich weiß nicht, worauf das beruht. Vielleicht ist das paschahafte Verhalten unter dem Eindruck des Sozialismus früher abgebaut worden. Gewonnen hat auch die Bundestagsfraktion. Wenn Sie heute das Bundestagshandbuch zur Hand nehmen und die Vielfalt der Berufe sehen, so stellen Sie fest, dass eine erfreuliche Entwicklung zu registrieren ist. Dass in diesem technisch und naturwissenschaftlich geprägten Zeitalter endlich wieder viele Abgeordnete aus naturwissenschaftlichen Berufen kommen, finde ich gut. Dass Mediziner zu uns kommen, nicht um über dieses oder jenes Gesetz zu klagen, sondern um mitzuarbeiten, finde ich sehr gut, um ein weiteres Beispiel hinzuzufügen.

Ist es nicht eine phantastische Chance für uns alle, dass wir jetzt in den neuen Bundesländern mehr als 7000 Mandatsträger und überwiegend die Bürgermeister und Landräte stellen? Sie sind natürlich nicht so routiniert, natürlich nicht so ausgebufft, dass sie jede Finanzierungsquelle sofort auszuschöpfen wissen. Eines haben sie im Regelfall freilich schon gelernt, nämlich zu sagen: Der Bund muss mehr tun. Das ist eine Sache, die Bürgermeister und Landräte auch in den neuen Bundesländern längst gelernt haben. Man muss sich aber einmal vorstellen, was dort von Männern und Frauen geleistet wird, die vor zwei Jahren nicht im Traum daran dachten, dass sie Bürgermeister oder Landräte werden würden. Wenn man sieht, wie manchmal - mehr oder minder elegant - die Planung kommunalpolitischer Karrieren in der alten Bundesrepublik erfolgt, wie in der KPV - ich schaue jetzt Horst Waffenschmidt an - sorgfältig besprochen wird, wer zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung steht und was man für ihn tun kann, dann hat man um so größeren Respekt vor denen, die über Nacht Bürgermeister oder Landrat geworden sind und jetzt voll gefordert werden.

Voneinander lernen ist keine Einbahnstraße. Das gilt auch für das Gespräch mit jungen Leuten. Ich war vor einigen Wochen bei einer Tagung des RCDS in Jena. Die Begegnung mit diesen jungen Leuten, die einen völlig neuen Horizont haben, die sich verständlicherweise natürlich auch schwertun, sich unter den veränderten Bedingungen zurechtzufinden, ist immer eine großartige Erfahrung. Ich finde überhaupt, dass - trotz aller Probleme - die deutsche Einheit eine Riesenchance eröffnet: dass so etwas wie Aufbruchs Stimmung herrscht; dass wir ausgetretene Pfade verlassen können, um etwas Neues zu tun, was noch nicht dagewesen ist; dass wir uns wieder etwas zutrauen, dass wir sagen: Wir packen es und wir schaffen es.

Damit bin ich beim Thema Maastricht, beim Thema Europa. Wenn Sie sich die Pressekommentare in Europa und weltweit anschauen, dann können Sie - bei aller Kritik in diesem oder jenem Punkt - einen Tenor feststellen: Die Deutschen haben den entscheidenden Beitrag zum Durchbruch nach Europa geleistet. Die Deutschen wollen nicht zurück zum nationalstaatlichen Denken, das uns in der ersten Hälfte des Jahrhunderts soviel Elend gebracht hat. Die Deutschen sind engagierte Europäer, weil sie einen Beitrag zum Frieden leisten wollen. Natürlich ist auf diesem Weg noch manches zu tun. Natürlich gibt es auch Risiken. Wenn Konrad Adenauer zu Beginn der Diskussion über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft eine Volksabstimmung hätte durchführen lassen, hätte er womöglich keine Mehrheit bekommen. Wenn er über die Wiederbewaffnung hätte abstimmen lassen, hätte er keine Mehrheit bekommen. Sie machen sich doch hoffentlich keine Illusionen: Beim Stationierungsbeschluss 1983 wäre es mit einer Mehrheit auch nicht ganz einfach gewesen. Wir wollen uns jetzt nichts in die Tasche lügen. Wir wissen doch, wie es war.

Führen heißt: eine Vision in die Realität umsetzen. Die deutsche Einheit, die europäische Einigung waren immer unsere Visionen. Jetzt realisieren wir die europäische Einigung, weil es dem Frieden, weil es der Freiheit, weil es der Zukunft dient. Dieses Europa darf keine Festung werden, in der wir uns vor den anderen abschotten. Es muss offen sein. Deswegen wollen wir, dass die Schweden - ich habe bereits unseren Freund Carl Bildt angesprochen -, deswegen wollen wir, dass die Österreicher, deswegen hoffen wir, dass die Finnen bis 1995 in die Gemeinschaft aufgenommen werden. Für einen späteren Zeitpunkt, der in nicht allzu weiter Ferne liegen sollte, wünsche ich mir, dass Polen, die CSFR und Ungarn der Gemeinschaft beitreten können, sobald sie - auch mit unserer Hilfe - die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft erfüllen.

Krakau liegt nicht in Osteuropa, Krakau liegt in Mitteleuropa. Man kann es gar nicht oft genug sagen. Deshalb wollen wir Hilfe zur Selbsthilfe geben - den Menschen in der bisherigen Sowjetunion jetzt, mitten im Winter, vor allem Hilfe gegen Hunger und Elend. Als ich im Sommer mit Michail Gorbatschow in Kiew war, gab es neben vielem, was mich beeindruckt hat, eine Begegnung mit einer ganzen Zahl alter Frauen, die sich für die deutsche Hilfe im Winter 1990/1991 bedankt haben. Diese Frauen haben dann erzählt, wie es war, als die Deutschen im Krieg dort waren, sie haben erzählt, wie es war, als sie nächste Familienangehörige verloren haben. Ich habe erzählt, wie es in meiner eigenen Familie war. Dabei konnte man erkennen, dass die Brücke der Menschlichkeit, die wir jetzt schlagen können, nicht nur für den Tag wichtig ist, sondern dass sich hier in beide Richtungen ein Strom von Sympathie und Zuneigung zwischen den Völkern bewegt - und das ist ein Werk des Friedens. Der Satz „Von deutschem Boden soll Frieden ausgehen" gefällt mir gut, aber er darf nicht in der Theorie steckenbleiben. Wenn wir gefordert sind, in bitterer Not zu helfen, dann müssen wir wissen: Wir sind eines der reichsten Länder dieser Erde und wollen das tun, was wir tun können.

In meiner ersten Regierungserklärung 1982 - das habe ich schon erwähnt - sagte ich: „Wir wollen Frieden schaffen mit weniger Waffen!" Wir haben in den letzten Jahren großartige Erfolge bei Abrüstung und Rüstungskontrolle erzielt. Bis 1994 wird die Bundeswehr zeitgleich mit dem Abzug der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte auf 370 000 Mann vermindert, alle Mittelstreckenwaffen weltweit sind bereits verschrottet, Kurzstreckenwaffen werden jetzt um 80 Prozent vermindert, auf deutschem Boden wird es künftig keine landgestützten Nuklearwaffen mehr geben, alle chemischen Waffen - die Amerikaner haben Wort gehalten - sind von deutschem Boden abgezogen. Trotzdem spüren wir gerade in diesen Tagen, dass wir die Nato auch in Zukunft brauchen, dass Sicherheitsrisiken bleiben, dass neue Sicherheitsrisiken hinzukommen können und dass es eine absolute Torheit wäre, auf Forderungen nach Abschaffung der Bundeswehr einzugehen. Wir brauchen auch als vereintes Deutschland im Rahmen der neuen europäischen Sicherheitsidentität, die wir in Maastricht beschlossen haben, eine einsatzfällige Bundeswehr, und wir sagen ja zu dieser Bundeswehr.

Denn ohne unseren Beitrag zur Lastenteilung innerhalb des Bündnisses werden die Amerikaner nicht bei uns in Europa bleiben. Wir brauchen auch in Zukunft die amerikanische Präsenz in Europa. Das, was wir jetzt in der Gemeinschaft im Blick auf eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und schließlich auch Verteidigungspolitik der Europäer diskutiert und beschlossen haben, ist ja nicht gegen die Nato gerichtet, sondern darauf, dass wir den europäischen Pfeiler innerhalb der Nato gemeinsam mit unseren Freunden stärken. Dies erfordert nicht zuletzt, dass wir auch weiterhin zu unseren Soldaten stehen. Es kann nicht angehen, dass nur die Gegner der Bundeswehr sich zu Wort melden. Sie können ihre Meinung doch deshalb frei zum Ausdruck bringen, weil die Soldaten der Bundeswehr, die Armee unserer Söhne, in den vergangenen Jahrzehnten ihre Pflicht getan haben.

Wir wollen auch zu weltweiter Partnerschaft unseren Beitrag leisten und uns an der Lösung globaler Aufgaben der Zukunft aktiv beteiligen. Die Armut in den Ländern der Dritten Welt, Krankheit, Hunger, Umweltzerstörung zu bekämpfen, das ist doch nicht irgendein Thema, das ist für Christliche Demokraten ein zentrales Thema. Wer zu Recht feststellt, dass wir die Probleme der Welt nicht in Deutschland lösen können, der muss eben auch bereit sein, die Probleme dort losen zu helfen, wo sie entstehen - vor Ort in den Entwicklungsländern. Ich fand es außerordentlich gut und sympathisch, dass sich die Junge Union auf ihrem diesjährigen Deutschlandtag mit dieser menschlichen und moralischen Verpflichtung befasst hat. Es ist wichtig, dass die junge Generation immer wieder deutlich macht: Es geht um ihren Globus, um ihre Zukunft. Wir haben gemeinsam das Notwendige dazu beizutragen.

Die Bewahrung der uns Menschen anvertrauten Schöpfung, diese Herausforderung können wir nur in weltweiter Partnerschaft lösen. In einem sind wir uns als Partei der Mitte hoffentlich einig: Es ist eine zutiefst wertkonservative Aufgabe für unsere Partei, dass wir die Schöpfung bewahren. Keine Generation hat das Recht, diesen Globus verkommen zu lassen. Wir haben vielmehr die Pflicht, den Schatz der Natur in bestmöglichem Zustand an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Die Vernichtung der tropischen Regenwälder, das Ozonloch über der Antarktis, die Gefahr weltweiter Klima Veränderung betreffen die Menschen überall in der Welt, hier in Dresden an der Elbe genauso wie am Amazonas. Meine herzliche Bitte ist: Überlassen wir dies nicht einer Handvoll - oft selbsternannter - Spezialisten! Es geht um eine Aufgabe für uns alle! Alle Kreis verbände, alle Landesverbände, alle Vereinigungen sind hier angesprochen. Vor über 46 Jahren, am 26. Juni 1945, wurde die Christlich-Demokratische Union Deutschlands in Berlin auch für die sowjetische Besatzungszone gegründet. Das war rund 50 Tage nach der Kapitulation. Die Gründung geschah mit dem Ziel, eine neue Ordnung in demokratischer Freiheit für unser Vaterland aufzubauen.

Fast alle der 35 Unterzeichner dieses Aufrufs waren Verfolgte des Naziregimes; 15 von ihnen waren Beteiligte, Eingeweihte und dann auch Verfolgte im Zusammenhang mit dem Attentat vom 20.Juli 1944. Sie kamen zum großen Teil aus Zuchthäusern und Lagern des NS-Regimes. Sie standen, wie sie in ihrem Aufruf schrieben, „vor einem Trümmerhaufen sittlicher und materieller Werte". Sie wollten mit ihren Freunden in allen damaligen Besatzungszonen den geistigen und materiellen Wiederaufbau Deutschlands beginnen. Doch nur in den westlichen Besatzungszonen konnte dieses Werk konsequent verwirklicht werden. Nicht nur die Christlichen Demokraten, sondern unser ganzes Volk wurde gegen seinen Willen über vierzig Jahre auseinandergerissen.

Heute sind wir mit diesem Parteitag in Dresden zum ersten Mal in einem neuen Bundesland. Halten wir einen Moment inne und vergegenwärtigen wir uns, was das heißt! Es ist in Erfüllung gegangen, wofür die Gründergeneration damals angetreten ist: eine neue Ordnung in demokratischer Freiheit für unser Vaterland und für Europa. Deutschland ist heute ein wichtiges, ein geachtetes Glied in der Gemeinschaft freier Völker. Es war ein weiter Weg dorthin - aus Trümmern, aus weltweiter Verachtung. Wir, die Christlich-Demokratische Union, haben diesen Weg entscheidend mitprägen dürfen. Das Erbe Konrad Adenauers, Ludwig Erhards und Jakob Kaisers bleibt eine Verpflichtung auch für die Zukunft. Wir haben in Schicksals stunden unseres Volkes immer den Mut und die Kraft zu den notwendigen Entscheidungen gehabt. Ich bin sicher, wir werden sie auch jetzt haben bei der Gestaltung der inneren Einheit, bei der Wahrnehmung unserer größer gewordenen Aufgaben für eine friedlichere Welt, für Freiheit und Zukunft. Ich möchte uns dazu einladen, mit Mut und Entschiedenheit gemeinsam diesen Weg zu gehen.

Quelle: Parteitagsprotokoll, hrsg. von der Bundesgeschäftsstelle der CDU, Bonn o. J., S. 25-45.