15. Februar 1984

Rede auf der 27. Kommandeurstagung der Bundeswehr in Travemünde

 

Lieber Herr Kollege Wörner,
Herr General Altenburg,
meine sehr verehrten Herren!

Ich habe gerne die Einladung des Generalinspekteurs angenommen, heute bei Ihnen zu sein. Daß ich zu Ihnen komme, ist für mich mehr als eine der täglichen Pflichten, die natürlich auch zu meinem Amt gehören. Es ist in der Bundesrepublik Deutschland bei manchen Mitbürgern inzwischen üblich geworden, ihre Gefühle in Demonstrationen gegen etwas zum Ausdruck zu bringen. Ich bringe meine Einstellung gegenüber der Bundeswehr dadurch zum Ausdruck, daß ich heute durch meine Anwesenheit für unsere Soldaten demonstriere.

Man muß keine großen Vorträge im Jahre 1984 halten, um deutlich zu machen: diese Bundeswehr ist ein Teil unseres Volkes, sie ist ein Teil des Ganzen. Das ist inzwischen so selbstverständlich geworden, daß man es kaum zu erwähnen braucht. Die deutsche Geschichte hat uns auf diesem Feld nicht eingeholt. Auch in diesem Punkt ist Bonn ganz gewiß nicht Weimar. Deswegen bin ich froh, daß wir heute früh miteinander sprechen und diskutieren können; und ich hoffe, daß Sie die Chance wahrnehmen. Ich freue mich auf diese Diskussion. [...]

Meine Herren, lassen Sie mich jetzt auf die Perspektiven deutscher Sicherheitspolitik eingehen. Nach den Debatten zum NATO-Doppelbeschluß mit all ihren Begleiterscheinungen braucht unsere Sicherheitspolitik eine Phase der Konsolidierung, die zwei Zielrichtungen haben muß:

Erstens muß das INF-Problem auf das ihm zukommende politisch-strategische Gewicht zurückgeführt werden, und zweitens müssen jetzt die Zukunftsaufgaben aufgenommen werden, die nach einer politischen Antwort verlangen:

- Die Atlantische Allianz muß den Bedingungen und den Anforderungen der Zukunft angepaßt werden.
- Der europäische Pfeiler in der transatlantischen Partnerschaft muß gefestigt werden; und wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, hier ist noch viel zu tun.
- Die NATO braucht stärkere konventionelle Streitkräfte. Das bedeutet, daß die Bundeswehr an Gewicht gewinnen wird.
- Die Ost-West-Beziehungen müssen so konstruktiv wie möglich gestaltet werden.

Dabei kommt uns, der Bundesrepublik Deutschland, zugute, daß wir und damit auch das Bündnis gestärkt aus der INF-Debatte hervorgegangen sind. Es hat sich deutlich gezeigt, dieses ist einer der wichtigsten Faktoren in einer kritischen weltpolitischen Lage, daß die Bundesrepublik Deutschland wie das Bündnis durch unser konsequentes Festhalten am NATO-Doppelbeschluß berechenbarer geworden sind.

Berechenbarkeit ist nach der geschichtlichen Erfahrung des 20. Jahrhunderts eine der wichtigsten Zielsetzungen, die deutsche Politik immer vor Augen haben muß - in den Beziehungen zu unseren Partnern und Freunden im Westen genauso wie gegenüber unseren Gesprächspartnern im Osten.

Der Vollzug des Doppelbeschlusses in seinen beiden Teilen hat die Festigkeit und Stabilität des Atlantischen Bündnisses erwiesen. Die Sowjetunion mußte erkennen, daß sie ihre Ziele nicht durchsetzen kann. Die Sowjetunion hatte versucht,

1. einen Interessengegensatz zwischen den Vereinigten Staaten und ihren europäischen Verbündeten als Druckmittel gegenüber den USA einzusetzen,
2. über die europäische und nicht zuletzt über unsere Öffentlichkeit die Standfestigkeit der Regierungen auszuprobieren und auszuhöhlen und dadurch den NATO-Doppelbeschluß zu Fall zu bringen,
3. durch Drohungen mit zusätzlichen militärischen Maßnahmen das politische Klima im Bündnis zu beeinträchtigen.

Diese Versuche sind gescheitert. Die Bundesregierung hat gemeinsam mit den Verbündeten in der NATO diesem Streben nach Übermacht standgehalten.

Meine Herren, wir haben unsere Kraft bewiesen, allen Prophezeiungen zum Trotz unsere demokratische Freiheits- und Friedensordnung im Inneren zu bewahren und nach außen zu verteidigen.

Und noch etwas ist in diesem Herbst 1983 offenbar geworden, was für die innere Statik unserer Bundesrepublik Deutschland von größter Bedeutung ist. Das zeigt die Tatsache, daß über Wahlentscheidungen Parlamentsmehrheiten im Sinne einer gelebten Demokratie zustande kommen und daß aus diesen Parlamentsmehrheiten kraftvolle Regierungen entstehen können.

Ferner ist offenbar geworden, daß das Freiheitsrecht, das in Demonstrationen mit friedlichen Mitteln für jedermann in der Bundesrepublik gewährleistet ist, als ein lebendiger Beweis für die These gilt: Unter der Herrschaft der freiheitlichsten Politik wird durch die zuständige gewählte Regierung und durch Verfassungsorgane entschieden und bestimmt und nicht auf dem Wege von Demonstrationen auf der Straße. Auch insofern ist damit die Frage, ob Bonn nicht doch Weimar ist, entschieden.

Unsere Entscheidung war sicherheitspolitisch notwendig, aber sie war und ist auch ethisch sorgsam bedacht und begründet. Wir lassen uns nicht erpreßbar machen. Nur wenn wir standfest bleiben, werden wir als Vertrags- und als Gesprächspartner ernst genommen. Mir wie Ihnen wäre es sicherlich lieber gewesen, wenn im Vorfeld der Stationierungsentscheidung sowjetische Kompromißbereitschaft die Nachrüstung überflüssig gemacht hätte. Aber selbstverständlich gilt das, was ich immer wieder in diesen Monaten öffentlich gesagt habe: Wirkliche Abrüstung, wirkliche Entspannung, wirkliche Rüstungskontrolle behalten für uns eine hohe Priorität.

Ich habe auch gestern dem neugewählten Generalsekretär der KPdSU in Moskau gesagt: Gerade weil wir berechenbare Partner sind, gerade weil wir ganz selbstverständlich und ohne Wenn und Aber unser gegebenes Wort eingehalten haben, ist uns eine besondere moralische Verantwortung und Autorität für Abrüstung und Entspannung zugewachsen. Dies erlaubt uns, die notwendigen Schritte immer wieder zu fordern und die Verhandlungspartner voranzutreiben. Das gilt auch gegenüber unseren amerikanischen Freunden. Ich habe vorgestern in Moskau darüber gesprochen, und ich werde in ein paar Tagen anläßlich meines Besuches in Washington das Gespräch auch über diese Themen mit Präsident Reagan fortsetzen.

Die Sowjetunion überprüft zurzeit offenkundig die Ost-West-Situation und ihre zukünftige Politik. Dies ergibt sich auch ganz selbstverständlich durch den Wechsel an der Spitze. Ein ermutigendes Zeichen - und auch darüber haben wir gestern gesprochen - ist die sowjetische Bereitschaft, die Wiener MBFR-Verhandlungen am 16. März fortzusetzen. Das ist ein wichtiges Zeichen angesichts mancherlei Prophezeiungen, die es hierzulande gab. Für die Bundesregierung und für die Allianz gilt: Wir sind bereit, alle Verhandlungsmöglichkeiten zu nutzen. Wir sind bereit, uns jederzeit an jeden Verhandlungstisch zu setzen.

Aber Fortschritte bei der Rüstungskontrolle setzen voraus, daß das allgemeine Ost-West-Verhältnis und das gegenseitige Vertrauen verbessert werden. Deshalb werden wir, wo immer dies möglich ist, einen Beitrag leisten, den Ost-West-Dialog auf eine breite Basis zu stellen.

Die Verengung auf die Raketenfrage muß überwunden werden. Ein Netz von Verhandlungen muß geknüpft werden, das alle Aspekte der Zusammenarbeit einschließt. Dazu gehören selbstverständlich auch die wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit.

Die am 17. Januar 1984 begonnene Konferenz über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa (KVAE) ist der Versuch des Westens, erstmals einen offenen und umfassenden politischen Dialog zwischen allen Staaten in Europa und Nordamerika in Gang zu setzen. Dieser Dialog ist in seiner ersten Phase auf Vertrauensbildung und Entspannung, in seiner zweiten Phase auf Abrüstung und Rüstungskontrolle gerichtet.

Das Konferenzmandat verlangt konkrete Maßnahmen, die militärisch bedeutsam, politisch verbindlich, angemessen verifizierbar sind und in ganz Europa angewandt werden. Der Beginn der Stockholmer Konferenz zeigt, daß sich Beharrlichkeit, Berechenbarkeit und Kontinuität der deutschen Sicherheitspolitik auszahlen.

Auch angesichts der neuen Aufgaben bleiben die Grundprinzipien gültig, die unsere Sicherheitspolitik bisher bestimmt haben. Ich nenne diese Prinzipien:

Erstens: Die Erhaltung des Friedens in Freiheit bleibt oberstes Ziel der Bundesrepublik Deutschland.

Zweitens: Das Nordatlantische Bündnis, die Freundschaft und Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten sind das Fundament deutscher Sicherheitspolitik. Nur ein starkes und einiges Bündnis kann den Frieden in Freiheit sichern. Das Bündnis verbürgt unsere Unabhängigkeit. Es dient dem Frieden in Europa und in der Welt und bleibt Grundlage für eine wirkliche Entspannungspolitik. Gute, vertrauensvolle und partnerschaftliche Beziehungen zu den USA bleiben für uns Deutsche auch in Zukunft lebenswichtig.

Deswegen will ich noch einmal unterstreichen, was ich so oft in diesen Wochen gesagt habe: Jede Form des Antiamerikanismus ist in Wahrheit, ob gewollt oder nicht, das muß man bei manchem, der diese Politik vertritt, genau unterscheiden, ein Einstieg zur Neutralisierung Mitteleuropas und damit auch der Bundesrepublik Deutschland. Antiamerikanismus ist mit Sicherheit der Virus oder der Keim der Auflösung der Allianz und damit der Gefahr der Neutralisierung Mitteleuropas und vor allem auch der Bundesrepublik Deutschland.

Drittens: Die europäische Einigung stärkt die westliche Sicherheit und die Stabilität in Europa.

Wenn ich dies sage, weiß ich, was eine nüchterne Bestandsaufnahme zeigt: Wir können mit dem jetzigen Zustand der europäischen Einigung nicht zufrieden sein. Wir haben im Juni Wahlen zur zweiten Legislaturperiode des Europäischen Parlaments. Ich bin mit nicht wenigen Freunden in Europa fest entschlossen, nach diesen Wahlen einen neuen Anlauf zur europäischen Integration zu wagen.

Der jetzige Zustand der Europäischen Gemeinschaft ist für eine solide politische Zukunftsperspektive nicht ausreichend. Der Geist von Messina, der die Römischen Verträge ermöglicht hat, ging immer von der Verwirklichung einer politischen Integration, von einer politischen Einigung Europas aus. Das ist etwas ganz anderes als eine irgendwie geartete Form einer europäischen Freihandelszone, in der dann der eine oder andere denken mag, er könne möglichst wenig Geld einbezahlen und möglichst viel an der Kasse abholen. Das ist das genaue Gegenteil einer europäischen Gesinnung und Überzeugung, wie sie meiner Vorstellung entspricht.

Wir werden sehr bald neue Vorschläge für die politische Integration vorlegen. Wir werden dann zu prüfen haben, wer bereit ist, auf diesem Weg mitzugehen, und wer nicht. Jedenfalls gilt für mich der Satz, daß in diesem Fall nicht das langsamste Schiff des Geleitzuges das Tempo der Entwicklung bestimmen darf. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit für die europäische Integration.

Viertens: Die deutsch-französische Freundschaft und die enge sicherheitspolitische Zusammenarbeit beider Staaten vergrößern das Gewicht Europas in der Nordatlantischen Allianz und fördern die Verteidigungskraft.

Fünftens: Die politische Konzeption der Allianz, politische Solidarität und hinreichende militärische Stärke mit dem Bemühen um Fortschritte im Ost-West-Dialog und in der Rüstungskontrolle zu verbinden, bleibt gültig.

Sechstens: Die Stabilisierung und der Ausbau der Ost-West-Beziehungen, Dialog und Zusammenarbeit sind Grundlage und Voraussetzung für erfolgreiche Rüstungskontrolle und Abrüstung. Die Verantwortungsgemeinschaft der beiden Staaten in Deutschland hat dabei eine ganz besondere Bedeutung für den Frieden in Europa.

Siebtens: Für die Kriegsverhütung bleibt glaubwürdige Abschreckung ein legitimes und moralisch gerechtfertigtes Mittel. Sie umfaßt die Gesamtheit der politischen, militärischen, wirtschaftlichen und sonstigen Kräfte.

Achtens: Die bewährte Strategie der flexiblen Antwort, eine Strategie, die ausschließlich auf Verteidigung angelegt ist, bleibt gültig. Die Bundesrepublik Deutschland wird auch künftig einen starken NATO-Beitrag leisten - leisten wollen und leisten müssen -, um die Durchführbarkeit der Bündnisstrategie noch zu verbessern.

Meine Herren, wesentlich für die Glaubwürdigkeit der Strategie ist das, was Europa selbst für seine Sicherheit tut. Das bedeutet für mich, die Europäer müssen ihre Verteidigungsanstrengungen so zusammenfügen, daß endlich eine europäische Sicherheitspolitik entsteht. Es gilt, das europäische Widerlager der Brücke Nordamerika-Europa zu stärken.

Diesem Ziel dienen auch die deutsch-französischen Bestrebungen, die Krise der Europäischen Gemeinschaft zu überwinden und die sicherheitspolitische Zusammenarbeit unserer beiden Länder zu vertiefen.

Die heutigen Bedingungen für die Sicherheit in Europa und weltweit verlangen, daß Westeuropa auch überregional das ihm zustehende Gewicht beansprucht und erhält. Dies gilt nicht nur für das Verhältnis zu den USA und die Dialogfähigkeit mit dem Warschauer Pakt, sondern auch für die Beziehungen zu Japan und für die Verpflichtungen gegenüber der Dritten Welt.

Die vertiefte deutsch-französische Verteidigungskooperation hat bereits bemerkenswerte Erfolge ermöglicht: die Abstimmung strategisch-operativer Fragen und der Rüstungskontrolle, die enge Rüstungskooperation und die vielfältigen wechselseitigen Unterrichtungen in Verteidigungsfragen. Alles dies ist Ausdruck unserer gemeinsamen Überzeugung, daß wir die Zukunft unserer Völker nur gemeinsam sichern können. Ich denke, das ist auch ein wichtiger Beitrag für eine gesamteuropäische Verantwortung.

Die Bundesregierung ist darum bemüht, daß sich möglichst viele europäische Freunde dieser Kooperation auf dem Weg zur europäischen Einheit anschließen.

Meine Herren, dabei wollen wir aber nicht vergessen, daß wir Europäer unsere Sicherheit nur gemeinsam mit den Nordamerikanern gewährleisten können. Wir Europäer brauchen den Schutz der Welt- und Seemacht USA. Umgekehrt wissen die Amerikaner und Kanadier, daß ihre Freiheit schon in Europa verteidigt wird. Wir müssen alles tun, daß dieses Bewußtsein auch in den Vereinigten Staaten erhalten bleibt.

Mit einem Satz: Es kann keine Politik geben des Entweder-Oder zwischen Europa und den Vereinigten Staaten, sondern nur eine Politik des Sowohl-Als-auch.

Unsere Bündniskonzeption für Abschreckung und Verteidigung beruht auf dem Gleichgewicht der Kräfte. Abschreckung soll einen möglichen Aggressor in der Entscheidung zwischen Krieg und Frieden zum Frieden bestimmen. Abschreckung ist daher ein friedenserhaltendes Mittel - militärisch vernünftig und moralisch begründet.

Militärisches Gleichgewicht muß gesehen werden im Rahmen politischer, geostrategischer, wirtschaftlicher und demographischer Faktoren.

Sie alle, meine Herren, wissen, daß die Bedingungen für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts und für eine funktionsfähige Abschreckung schwieriger geworden sind. Ich nenne nur einige Faktoren:

1. Die Sowjetunion verbessert ständig ihre konventionellen Fähigkeiten für weltweite strategische Interventionen. Sie forciert ihre Nuklearrüstung bei den Kurz- und Mittelstreckenwaffen - dies unter den Bedingungen nuklearstrategischer Parität.

2. Die Abhängigkeit des Westens von Energie und Rohstoffen aus Krisengebieten der Welt bleibt bestehen. Zugleich hat unsere Fähigkeit abgenommen, in solchen für uns lebenswichtigen Regionen Stabilität herbeizuführen oder einen entscheidenden Beitrag zu leisten.

3. Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltsprobleme erschweren in allen Ländern der Allianz die notwendigen Verteidigungsausgaben - und dies in einer Zeit, die höhere Aufwendungen für stärkere konventionelle Kräfte und die Nutzung moderner Technologien verlangt.

In dieser Situation kommt es nach meiner Überzeugung auf zweierlei an:

Zum einen müssen wir das Ost-West-Verhältnis durch ein Geflecht vielfältiger Beziehungen, vertrauensbildender Maßnahmen und Rüstungskontrolle weiter stabilisieren.

Zum anderen müssen wir unsere Fähigkeit zur Verteidigung konsequent stärken. Wir müssen vor allem auch die Überzeugung vermitteln, daß der demokratische und soziale Rechtsstaat, daß unsere Freiheit es wert sind, verteidigt zu werden.

Ich bin mir über den Alltag eines Unteroffiziers, eines Feldwebels, eines Leutnants und Zugführers und eines Kompaniechefs durchaus im Klaren, dem Rekruten anvertraut sind, die aus unseren Schulen, unseren Familien, aus unseren Kirchengemeinden und aus den Vereinigungen unserer Gesellschaft hervorgegangen sind. Diese jungen Soldaten gehören zu jener glücklichen Generation, die zeit ihres Lebens Freiheit ganz selbstverständlich genießen konnte. 60 Prozent der heute lebenden Bürger sind nach Hitler geboren oder aufgewachsen. Für sie ist Freiheit selbstverständlich. Sie stellen sich nicht die Frage nach der Dimension der Freiheit, wie etwa ein Angehöriger meines Geburtsjahrgangs 1930, der in Leipzig geboren ist und ohne, daß er es zu vertreten hat, zunächst die Hitler-Diktatur erlebte und der auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs die rote Diktatur bis zum heutigen Tag erlebt.

Dieses Bewußtsein, daß wir Freiheit wie die Luft zum Atmen brauchen, aber daß man sie erst vermißt, wenn man sie nicht mehr hat, stellt gerade auch die Unterführer unserer Bundeswehr vor große Probleme - zumal nicht wenige in unserer Gesellschaft ja auch so tun, als sei wahrer Friede auch ohne Freiheit möglich. Deswegen ist es besonders wichtig, daß über die Frage der materiellen Ausstattung der Bundeswehr diese geistig-moralische Herausforderung steht und angenommen wird, die das Ideal der Freiheit immer bedeutet.

Wir müssen begreifen, daß es überfällig ist, die Diskussion darüber in allen Teilen unserer Gesellschaft, in den Schulen, in den Kirchen und in allen anderen Bereichen, die für die Heranbildung dieses Bewußtseins prägend sind, zu führen. Das gilt vor allem für das Beispiel der eigenen Eltern. Denn auch der Lehrer in der Schule ist kaum in der Lage, Ersatz zu schaffen für das, was nicht das Elternhaus vermittelt. Deswegen ist es wichtig, daß wir diese Diskussion über den Zusammenhang von Frieden und Freiheit nicht nur führen, sondern daß wir sie auch offensiv führen.

Wir müssen den jungen Menschen in unserer Gesellschaft deutlich machen, daß Freiheit auch für sie eine große Chance für privates Glück bedeutet. In einer Zeit mit hoher Arbeitslosigkeit, mit Einheiten in der Bundeswehr, in denen ein beachtlich hoher Prozentsatz der Rekruten Arbeitslose sind, ist das nicht einfach. Ich sehe dieses Problem, und hier liegt der Grund für mein entschiedenes Eintreten, daß Lehrstellen zur Verfügung gestellt werden.

Dank des Patriotismus - denn etwas anderes ist es letztlich nicht - von Gewerkschaften, Arbeitgebern, Handwerkern und Einzelhändlern konnten wir ein großartiges Ergebnis erzielen. Ich glaube nicht, daß es möglich ist, einem 19-Jährigen, der Ja sagen soll zum Dienst in der Bundeswehr, dieses Ja verständlich zu machen, wenn er als 16-Jähriger beim Abgang von der Hauptschule erlebt hat, daß die Gesellschaft für ihn verschlossene Türen und keinen Ausbildungsplatz hat. Dieses ist der eigentliche Zusammenhang. Wir müssen die Notwendigkeiten der Allianz und der Bündnisstrategie wieder stärker unseren Bürgern verdeutlichen. Ich gebe zu, hier hatte die Politik in manchen Jahren ein Defizit. Ich denke, daß Sie, wenn Sie aufmerksam unser, mein Handeln verfolgen, erkennen, daß ich dabei bin, dieses Defizit aufzuarbeiten.

Die Bürger der Bundesrepublik Deutschland müssen wissen, daß ihre Bundeswehr in der Allianz Garant für Frieden und Freiheit ist. Sie müssen auch wissen, und das ist sehr viel schwieriger, dem einzelnen Bürger nahezubringen, daß dies auf strategischen Grundlagen beruht, die weder ausschließlich noch in erster Linie auf nukleare Waffen ausgerichtet sind.

Eine angemessene konventionelle Verteidigungsfähigkeit ist unabdingbar für glaubwürdige Abschreckung. Sie ist notwendig, damit wir die politische Entscheidungsfreiheit auch im Falle einer akuten Bedrohung bewahren.

Bei uns gelten drei elementare Kriterien für die Bündnisstrategie:

1. Absolute Priorität für die Bundesrepublik Deutschland hat der Schutz des gesamten Territoriums. Ich nenne nur die Stichworte zusammenhängende, grenznahe Vorneverteidigung und Luftverteidigung als Raumschutz.

2. Schnelle Konfliktbeendigung und Schadensbegrenzung sind weitere Kernelemente.

3. Das Prinzip der Multinationalität ist nicht nur Ausdruck der NATO-Solidarität, es ist für uns auch aus grundsätzlichen politischen Erwägungen unverzichtbar. Kernelemente der Multinationalität sind die Stationierung von Truppen aus sechs NATO-Staaten auf unserem Boden und die multinationale integrierte NATO-Luftverteidigung.

Die Forderung an das deutsche Territorialheer, die Operationsfreiheit aller auf unserem Territorium operierenden NATO-Streitkräfte sicherzustellen, hat in diesem Zusammenhang allergrößte Bedeutung.

Bei aller Konzentration unseres strategischen Denkens und unserer Verteidigungsanstrengungen auf Mitteleuropa dürfen wir nicht übersehen, daß Konflikte heute zunehmend in anderen Teilen der Welt entstehen, die für uns, auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, von größtem Interesse sind. Dabei spielt auch die expansive Flottenpolitik der Sowjetunion eine Rolle, die zunehmend an Bedeutung gewinnt.

Ich habe im Deutschen Bundestag in meiner Regierungserklärung nach der Neuwahl im Mai gesagt:

Jeder weiß, daß unsere vitalen Interessen über den NATO-Vertragsbereich hinausreichen. Krisenhafte Entwicklungen in anderen Teilen der Welt wirken sich auch auf uns aus. Deshalb brauchen und üben wir Solidarität und enge Abstimmung mit den Verbündeten, die weltweite Verantwortung übernommen haben.

Meine Herren, ich möchte mich nun den eigentlichen Problemen des Alltags unserer Streitkräfte zuwenden.

Die Bundeswehr ist eine gut ausgebildete, modern ausgerüstete Armee, die in jedem internationalen Vergleich gut abschneidet.

Aber Sie wissen alle, daß unsere Bundeswehr, und Sie erleben das in Ihrer täglichen Arbeit, vor einer ganzen Reihe von schwierigen Problemen steht.

Der Rückgang der Jahrgangsstärken durch die demographische Entwicklung ist eines der schwierigen Probleme. Es gilt für viele Bereiche unserer Gesellschaft. Aber die Bundeswehr wird davon in besonderem Maße betroffen.

Wir haben uns am 1. Februar im Kabinett ausführlich mit dieser Frage befaßt. Wir sind uns darüber völlig klargeworden, daß es keine Einzelmaßnahme gibt, die das Problem lösen kann. Es gibt kein Patentrezept. Wir werden eine Reihe von Maßnahmen ergreifen müssen, um den von uns gewünschten Erfolg zu erzielen.

Die meisten dieser Maßnahmen werden Geld kosten. Es gilt also, trotz schwieriger Finanzlage diese Zusatzausgaben mit dem übrigen Finanzbedarf in Einklang zu bringen.

Einige dieser Maßnahmen werfen grundsätzliche politische und soziale Fragen auf. Wir werden uns daher auf eine innenpolitische Diskussion über diese Fragen einrichten müssen. Ich will es anders sagen: Ich will eine innenpolitische Diskussion über diese Fragen erzwingen, weil es einfach überfällig ist, darüber offen mit unseren Bürgern zu sprechen.

Priorität gebührt der Stärkung der konventionellen Verteidigungsfähigkeit. Für jedermann ist einsichtig, daß dieses Ziel nicht mit einer Reduzierung des Personalumfangs der Bundeswehr zu erreichen ist.

Ich habe dazu im Bundestag gesagt: Wir werden die personellen Probleme der Bundeswehr lösen, damit sie trotz schwächer werdender Jahrgänge ungeschmälert einsatzfähig bleibt. Es ist mein fester Wille, mehr Wehrgerechtigkeit zu schaffen. Es geht nicht an, daß mehr als ein Drittel unserer Soldaten, unserer Junge-Männer-Generation im wehrpflichtigen Alter, weder Wehr- noch Zivildienst leistet.

Ich kenne nicht die neuesten Daten, aber wenn es ungefähr richtig ist, daß von 100 jungen Männern, die zur Musterung antreten, etwa 54 bis 55 ihren Dienst bei der Bundeswehr leisten, sechs bis sieben Ersatzdienst und die anderen keinen Dienst leisten, dann führt das zu katastrophalen Folgen für die Grundeinstellung vieler gutwilliger Mitbürger. Ich sage: Es ist ein Skandal gegenüber denen, die bereit sind zu dienen. In manchen Diskotheken ist ja auch beispielsweise der Satz zu hören: "Die Dummen dienen ..." - die zweite Hälfte des Satzes kennen Sie sicher alle.

Das alles kann meinen Respekt vor der Grundgesetzentscheidung nicht schmälern, daß Kriegsdienst mit der Waffe in der Hand verweigert werden kann. Ich habe einen großen Respekt vor einem jungen Mann, der aus seiner Gewissensüberzeugung, aus seiner religiösen Überzeugung, vielleicht aus der Tradition seiner Familie, die in den vierziger Jahren in Plötzensee hingerichtet wurde, den Wehrdienst mit der Waffe verweigert und Ersatzdienst leistet. Wer zum Beispiel in einer psychiatrischen Klinik diesen Dienst auf Grund solcher Überzeugung leistet, der verdient unseren Respekt.

Aber wir bleiben in der Rangordnung unserer Verfassung. In dieser wird als erstes die Bundeswehr und der Dienst in der Bundeswehr genannt. Unsere Kinder, die diesen Dienst leisten, haben für dieses persönliche Opfer unseren Respekt verdient. Deshalb sind diese Zahlen unerträglich. Sie sind unerträglich, was die Zukunftschancen betrifft, denn wenn wirklich etwa 40 Prozent der jungen Männer-Generation eines jeden Geburtsjahrgangs nicht fähig sind, zur Bundeswehr zu gehen, dann kann der Kollege Blüm jede Hoffnung auf eine vernünftige Rentenreform am Ende dieses Jahrtausends begraben.

Eine andere Frage, die auf der Kabinettssitzung im Verteidigungsministerium am 1. Februar ausführlich diskutiert wurde, ist der sogenannte Verwendungsstau. Sie wissen, daß wegen der ungünstigen Altersstruktur bis in die neunziger Jahre nur wenige Berufssoldaten pensioniert werden. Deshalb können viele Unteroffiziere und Offiziere nicht befördert werden, obwohl jeder für sich die Voraussetzung des Laufbahnrechts erfüllt.

Die Folgen sind klar. Der Betroffene bleibt über das für bestimmte Verwendungen vernünftige Durchschnittsalter hinaus auf seinem Dienstposten. Der Betroffene ist keine statistische Größe, er ist beispielsweise ein Hauptmann in den besten Lebensjahren. Er kann sich ausrechnen, wie seine Beförderungschancen sind, wenn keine allgemeine Epidemie das Offizierskorps vorher ergreift. Der Betroffene ist ein Hauptmann, der mit einer Frau verheiratet ist, die Beamtin im gehobenen Dienst ist, die Lehrerin ist, die vor der Beförderung zum Rektor oder Konrektor steht, die auf Grund der allgemeinen Besoldungsentwicklung eine bessere Chance erhalten hat. Oder: Der Betroffene ist der Schwiegersohn eines Obermeisters in der chemischen Industrie und steht nun vor seinem Schwiegervater in unserer auf Prestige bedachten Gesellschaft, in der das Dienen nicht mehr so selbstverständlich ist und das Mehr-Scheinen häufiger als das Mehr-Sein geübt wird. Das alles kennzeichnet die Realität des Betroffenen.

Auf diese Weise entsteht ein überaltertes Korps von Führungskräften, und die Motivation bleibt auf der Strecke.

Aus alldem ergibt sich für mich, daß dies eine wichtige Frage ist, die gelöst werden muß. Der jüngere Offizier oder Unteroffizier muß wissen, daß das, was er tut, gewürdigt wird - und dies umso mehr, wenn er das Kasernentor nach 70 bis 80 Stunden verläßt und dann das Plakat vor sich sieht, das eine 35-Stunden-Woche fordert. Das ist seine Realität, auf die wir Rücksicht zu nehmen haben.

Das Kabinett hat im Rahmen der letzten Haushaltsberatungen für die Jahre 1983/84 insgesamt 600 zusätzliche Stellen bewilligt. Damit konnten 1983 etwa 1500 Soldaten zusätzlich befördert werden.

Ich mache als Bundeskanzler keine Versprechungen angesichts der schwierigen Finanzlage. Ich weiß, ich kann das Problem nicht über Nacht lösen, das in vielen Jahren entstanden ist. Aber wie ich darüber spreche und daß ich darüber spreche, sollte Ihnen deutlich machen, daß für mich dieses Problem der Bundeswehr ganz oben auf der Prioritätenliste steht.

Wir haben im Kabinett vereinbart, noch in diesem Jahr Überlegungen anzustellen, wie wir schrittweise, anders wird das nicht gehen, dieser unguten Situation zu Leibe rücken. Es geht mir dabei nicht um Kosmetik und schon überhaupt nicht um Entscheidungen vor irgendwelchen Wahlterminen. Ich habe mit Entscheidungen die besten Erfahrungen gemacht, die keinen breiten Beifall bei der verfaßten öffentlichen Meinung gefunden haben. Ich bleibe bei dieser Erfahrung. Es geht mir daher nicht um Kosmetik, es geht mir um die grundlegende oder prinzipielle Lösung des Problems.

Unabhängig von diesen Einzelfragen gibt es neben vielen anderen Fragen zwei Komplexe, die für unsere Arbeit besonders wichtig sind:

1. die Schaffung der personellen und materiellen Voraussetzungen dafür, daß die Bundeswehr ihren Auftrag uneingeschränkt erfüllen kann, und
2. die Verbesserung der Bedingungen, unter denen der einzelne Soldat seinen Dienst für unser Gemeinwesen zu leisten hat.

Der Generalinspekteur arbeitet an einem Gesamtkonzept für die neunziger Jahre. In diesem Konzept sollen die bündnispolitischen Anforderungen und die strategischen Zielsetzungen in Beziehung gesetzt werden zu den personellen, strukturellen und finanziellen Gegebenheiten. Dieses Vorhaben hat meine volle Unterstützung. Wir brauchen die Ergebnisse dieser Arbeit, wenn wir die notwendigen politischen Maßnahmen rechtzeitig einleiten wollen und wenn wir die notwendige öffentliche Diskussion, in der um mehr Verständnis für die Arbeit der Bundeswehr geworben werden muß, erzwingen wollen.

Bei aller Notwendigkeit der Planungsarbeit dürfen wir jedoch nicht vergessen, daß die innere Einstellung des jungen Soldaten zu seinem, zu unserem Staat und damit auch zu seiner, zu unserer Bundeswehr entscheidend ist für die Bereitschaft zum Dienen. Wir müssen alle Anstrengungen darauf konzentrieren, diese Bereitschaft zum Dienen, die Einsicht in die Notwendigkeit militärischer Sicherheitsvorsorge durch die moralische Unterstützung der Bevölkerung zu festigen.

Ich weiß, daß dies außerordentlich schwierig ist. Ich weiß, welch ein Zeitgeist weht - ein Zeitgeist, in dem nicht die Frage gestellt wird, was tue ich für andere, sondern, was tue ich für mich.

Meine Aufforderung, der Bundeswehr in der Gesellschaft einen möglichst starken Rückhalt zu geben, richtet sich an alle. Wir haben bei dem Gespräch auf der Hardthöhe auch Klagen über Diskriminierungen von Soldaten in öffentlichen Einrichtungen gehört. Es war auch die Rede von gelegentlichen Diskriminierungen in Kirchen. Ich bin nicht bereit, solche Vorkommnisse einfach stillschweigend hinzunehmen. Wir müssen wissen, wo so etwas vorkommt, und Sie dürfen meiner Unterstützung sicher sein, wenn Sie in solchen Fällen für Ihre Soldaten eintreten.

Es ist unerträglich, daß Mitbürger, deren Demonstration für Freiheitsrechte nur denkbar ist, weil es diese Bundeswehr und diese Allianz gibt, dann aber diejenigen, die ihren Dienst tun und von dem sie selbst den meisten Nutzen haben, noch diskriminieren. Dies kann nicht hingenommen werden.

Wehrdienst ist Dienst für den Frieden. Wer ihn leistet, hat Anspruch auf persönliche Achtung und auf die Anerkennung seiner Mitbürger. Ich weiß, daß das nach den Erfahrungen der letzten Monate nicht immer einfach an junge Soldaten zu vermitteln ist. Dennoch bitte ich Sie herzlich, in Ihren Bemühungen nicht nachzulassen.

Soldaten in Uniform sind Bürger in Uniform. Aber ihr Dienst ist eben kein Job wie jeder andere. Manche Probleme, die wir in den Kasernen beobachten, wie Langeweile, Einsamkeit und Verdrossenheit, haben allerdings auch ihren Grund darin, daß es natürlich wie überall in der Gesellschaft auch Offiziere und Unteroffiziere gibt, die ihren Dienst als Job wie jeden anderen auffassen.

Ich sprach bereits vom Verwendungsstau. Ich kenne die Besoldungsprobleme und die sozialen Folgeprobleme häufig versetzter Soldaten. Das alles hat Auswirkungen auf die Haltung des einzelnen. Wer sich für den Beruf des Offiziers entscheidet, muß wissen, daß ihm Verantwortung übertragen und Leistung abverlangt wird, denen auf Dauer nur derjenige gerecht wird, der im Offiziersberuf ein wesentliches Stück seiner Selbstverwirklichung findet.

Ich darf an dieser Stelle ein Wort zu den jungen Soldaten sagen, die unterhalb der Offiziersebene Führungsaufgaben wahrnehmen. Von ihnen wird ganz wesentlich das Bild geprägt, das unsere Wehrpflichtigen von der Bundeswehr gewinnen und nach ihrer Dienstzeit mit nach Hause nehmen. Das ist ihre alltägliche Erfahrung.

Wir tragen auch hier an der Last mancher Fehler der vergangenen Jahre, als wegen des Nachwuchsmangels - das muß man immer wieder zugunsten der Bundeswehr vortragen - die Anforderungen an die Qualifikation zurückgeschraubt wurden. Diese Fehler sollten wir heute trotz eines unverändert bestehenden Fehlbedarfs nicht wiederholen.

Was wir brauchen, ist eine möglichst gute fachliche Ausbildung der Unteroffiziere und eine entsprechende menschlich-psychologische Vorbereitung auf die anspruchsvolle Aufgabe, junge Soldaten, die ihnen anvertraut sind, umsichtig und mit Autorität zu führen. Aber man muß ehrlich hinzufügen: Man kann nicht erwarten, daß ein 25jähriger Unteroffizier das alles nachholt, was vorher in fast zwanzig Jahren versäumt wurde. Auch Lehrer werden überfordert, wenn das Elternhaus im Erziehungsprozeß völlig versagt.

Es muß ein Weiteres hinzukommen: In die Solidarität der Führung müssen gerade auch die Unteroffiziere eingebunden sein. Ich halte es für sehr wichtig, daß ihre Autorität von ihren Vorgesetzten gestützt und gestärkt wird.

Diese Aufgabe, Fürsorge und Förderung möchte ich lhnen heute ganz besonders ans Herz legen. Hier geht es schließlich ganz entscheidend um das Ansehen unserer Bundeswehr.

Meine Herren, Antworten auf die Grundfragen unserer Sicherheit werden auch von Ihnen täglich in der Truppe verlangt. Häufig müssen sich die Offiziere in Diskussionen mit den Bürgern bewähren. Das ist anders als in früheren Zeiten. Der Offizier von heute muß daher mit der Konzeption unserer Verteidigungspolitik und den Grundlagen unserer Strategie vertraut sein. Dies ist auch die Voraussetzung dafür, daß er nicht nur sich selbst, sondern auch anderen seine Aufgabe und die Funktion und den Auftrag der Bundeswehr erklären kann.

Wir brauchen Offiziere, deren Autorität auf Persönlichkeit, Wissen und Können und nicht zuletzt auf politischer Urteilsfähigkeit beruht. Unter politischer Urteilsfähigkeit verstehe ich überhaupt keine parteipolitische Polarisierung des Offizierskorps. Das gilt für Stabsoffiziere wie für Generale. Demokratische Parteien - lassen Sie das mich als Parteivorsitzender so sagen - sind gut beraten, wenn sie sich in Personalfragen immer für Qualität entscheiden. Das ist auch die beste Parteipolitik, wie die Erfahrung gezeigt hat. Der Offizier muß sich seiner Verantwortung für die ihm anvertrauten Menschen und die ihm auferlegte Aufgabe bewußt sein. In der direkten Bedeutung des Wortes Verantwortungsbewußtsein muß er fähig sein zu verantworten, also Antworten geben zu können.

Der Truppenoffizier wird auch künftig Menschen zu führen, zu erziehen und auszubilden haben. Clausewitz fordert vom Offizier die Legierung aus Gemüt und Verstand. Ich halte das für eine großartige Beschreibung des Sachverhalts unserer Tage. Aus dieser Legierung sollen Entschlossenheit, Festigkeit, Standfestigkeit und Charakterstärke erwachsen.

Das sind übrigens zeitlos gültige Forderungen. Wenn ich beispielsweise die heutigen Schülerdiskussionen betrachte, empfindet man das alles wieder als sehr progressiv. Sie sollten an der Spitze dieser progressiven Entwicklung stehen.

Wer führen will, muß glaubwürdig sein und das Vertrauen der Soldaten erringen können. Dies gelingt nur, wenn Autorität in Anspruch genommen wird - Autorität, die das genaue Gegenstück von autoritärem Gehabe ist. Eine moderne Massengesellschaft, in der sich die Prinzipien der französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit - immer mehr durchgesetzt haben und die im Großen und Ganzen von allen bejaht werden - eine solche Gesellschaft tut sich schwer mit Autorität. Nur das sind die falschen Propheten, die uns einreden wollen, es gebe einen Gegensatz zwischen Demokratie und Autorität.

Gerade eine freiheitliche Ordnung braucht Autorität. Amtsautorität und Personalautorität sind demokratische Tugenden, die notwendig sind. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß eine Armee in der Demokratie diese in ganz besonderer Weise braucht. Dies alles sind zeitlose Forderungen, die heute vielleicht in einer anderen Akzentuierung auch jedem Offizier zu stellen sind.

Die Bundeswehr ist zudem eine Bündnisarmee. Daher stellen wir an den Offizier der Bundeswehr, weil der Offizier in einer Bündnisarmee ist, zusätzliche Anforderungen.

Meine Herren, die Perspektive unserer Sicherheitspolitik hat nicht nur eine geopolitische, sondern selbstverständlich auch eine geschichtliche Dimension.

Ohne Frieden kann die Freiheit nicht bestehen. Richtig ist aber auch: Ohne Freiheit kann der Frieden nicht dauern. Freiheit ist die Bedingung des Friedens. Sie kann nicht sein Preis sein. Unsere Verteidigungsfähigkeit hängt entscheidend davon ab, daß wir dieses Bewußtsein in unserem Volk wachhalten und da, wo es abhandengekommen ist, wieder beleben. Wir verteidigen mit unserem Staat nicht nur materielle Güter und Wohlstand, sondern auch unverzichtbare Werte, die der Ertrag einer langen, oft bitteren und leidvollen Geschichte der Deutschen und des Reifens unserer politischen Kultur sind.

Uns allen muß klar sein: Die Bereitschaft, sich für diese Werte einzusetzen, die sich in unserer Verfassung wiederfinden, sie zu verteidigen und dafür Opfer zu bringen, setzt voraus, daß der Bürger im Alltag die Grundwerte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit auch erfährt.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß die Probleme, die wir in den nächsten Jahren zu lösen haben, nur zum Teil ökonomischer Natur sind. Ich sehe die entscheidenden Herausforderungen darin, daß wir uns wieder stärker auf die Grundwerte unseres Gemeinwesens besinnen, auch auf die Pflichten, die jeder zu tragen hat. [...]

Quelle: Bundeskanzler Helmut Kohl: Reden 1982-1984. Hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Bonn 1984, S. 318-338.