15. Januar 1997

Rede anlässlich der Verleihung der Förderpreise im Gottfried Wilhelm Leibniz-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft in der Aula der Universität Bonn

 

Lieber Herr Präsident Frühwald,

meine Herren Minister, Magnifizenz,

meine Damen und Herren Abgeordnete,

vor allem: liebe Preisträgerinnen und Preisträger,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

im Laufe meines Arbeitstages ist eine Veranstaltung wie diese ausgesprochen erfreulich. Wir ehren Repräsentanten der deutschen Wissenschaft, die durch ihre Arbeit, durch ihren Einsatz, durch ihr persönliches Engagement wichtige Ziele erreicht haben und dafür heute ausgezeichnet werden.

Ich möchte zuallererst den 14 Preisträgerinnen und Preisträgern sehr herzlich zu dieser großartigen Auszeichnung gratulieren. Es ist schon gesagt worden, daß der Leibniz-Preis höchstes Ansehen genießt. Er ist eine Auszeichnung für herausragende Forschungsleistungen in der deutschen Wissenschaft. Es ist gut, daß es diesen Preis in der deutschen Wissenschaftslandschaft gibt.

In diesem Jahr werden zum 12. Mal Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gefördert, die sich mit ihrer Arbeit an die Spitze ihres Fachgebiets gesetzt haben. Das ist kein bequemer Weg. Er ist gekennzeichnet durch ungewöhnliches Engagement und ein hohes Maß an persönlichem Einsatz. Die Preisträger geben ein hervorragendes Beispiel dafür, wie mit Kreativität und Initiative vieler einzelner eine gute Zukunft für unser Land gestaltet werden kann.

Der Leibniz-Preis - auch das möchte ich heute betonen - ist Ausdruck der Freiheit, die Wissenschaft und Forschung in Deutschland ganz selbstverständlich garantiert ist. Diese Freiheit ist wesentliche Voraussetzung für die persönliche Entfaltung von Wissenschaftlern, für Wettbewerb und damit für Spitzenleistungen.

Meine Damen und Herren, wer Herausragendes leisten kann und will, muß seine Fähigkeiten entwickeln und einsetzen können. Er braucht dafür die Unterstützung der Gesellschaft. Dies gilt sicherlich für Sie, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, aber insbesondere auch für die Nachwuchswissenschaftler von heute, aus denen die Spitzenforscher von morgen hervorgehen. Nachwuchsförderung ist deshalb eine Investition in die Zukunft unseres Landes.

Begabtenförderung in Schule und Hochschule, Nachwuchsförderung in Wissenschaft und Forschung sind auch und gerade für eine Demokratie von existentieller Bedeutung: Sie dienen dem Gemeinwohl. Sie ermöglichen und mehren Wissen, Können, Initiative und Verantwortungsbewußtsein für kommende Generationen im Dienste der Allgemeinheit.

Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten eine törichte Diskussion um den Elite-Begriff geleistet. Das hat uns geschadet. Wir stehen in weltwirtschaftlicher Konkurrenz mit Ländern, die gezielt eigene Eliten fördern, um sich im globalen Wettbewerb besser behaupten zu können.

Wir brauchen in Deutschland mehr denn je ein klares Ja zu Eliten. Damit meine ich Leistungseliten - Frauen und Männer, die in allen Bereichen unserer Gesellschaft über das gewöhnliche Maß hinaus Verantwortung übernehmen und Überdurchschnittliches leisten. Dies gilt in ganz besonderer Weise für den Bereich von Wissenschaft und Forschung, aber auch für den Sport, die Jugendarbeit oder den sozialen Alltag.

Meine Damen und Herren, Forschung ist immer auch Ausdruck prinzipieller Offenheit des Denkens und Erkennens. Wissenschaft und Forschung eröffnen neue Handlungsmöglichkeiten. Sie schaffen auch die Voraussetzungen für Wandel und Veränderungsfähigkeit.

Zu Beginn des Jahres 1997 - an der Schwelle zum nächsten Jahrhundert - ist es nicht schwer festzustellen, daß wir nicht einfach so weitermachen können wie bisher. Vieles, was sich bewährt hat, muß erhalten bleiben. Aber nicht alles, was in der Vergangenheit gut war, ist ein taugliches Rezept für die Zukunft. Dies gilt um so mehr angesichts der großen Aufgaben, vor denen wir heute stehen. Ich nenne hier nur die langfristige Sicherung unserer natürlichen Lebensgrundlagen, den verantwortlichen und verantwortbaren Umgang mit neuartigen Technologien - etwa im Bereich der Biotechnik -, den Erhalt der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit durch Innovationen und vor allem die Schaffung zukunftsfähiger Arbeitsplätze durch neue technologische Entwicklungen.

Die Politik muß hier nach Kräften helfen. Aufgabe des Staates ist es, die Rahmenbedingungen für eine leistungsfähige Wissenschafts- und Forschungslandschaft zu schaffen. Mit den Leitlinien zur strategischen Orientierung der deutschen Forschungslandschaft und der Neuausrichtung der Technologieförderung an Leitprojekten führen wir neue Elemente in die staatliche Forschungsförderung ein.

Selbstverständlich ist Forschungspolitik auch eine Frage des verfügbaren Geldes. Darüber können und sollten wir offen reden. Damit stellt sich die Frage der Prioritäten in unserem Lande. Mit dem jetzigen Zustand können wir nicht zufrieden sein. Ich kann hier und heute keine Versprechungen machen. Gerade ich weiß, wie schwer es ist, angesichts der enormen Anforderungen an die Staatskasse Mittel umzuschichten oder neu einzustellen. Ich weiß aber auch, daß wir noch mehr tun müssen, um den gestellten Anforderungen gerecht zu werden.

Die Leistungsfähigkeit unserer Forschung ist unbestritten. Wir haben - der heutige Anlaß unterstreicht dies - hervorragende Forscherinnen und Forscher, exzellente Teams und traditionsreiche Forschungseinrichtungen. Unsere Forschung kann sich mit ihren Ergebnissen international sehen lassen.

Wir müssen uns aber fragen, auf welchen Feldern wir noch besser werden können. Dies gilt zum Beispiel für die heute noch vielfach unzureichende Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft. Wir benötigen eine bessere und schnellere Umsetzung von Forschungsergebnissen in Markterfolge und damit in Arbeitsplätze. In Deutschland ist der Weg von der Erfindung bis zum Produkt oft noch zu lang. Ich denke, hier muß insbesondere die Wirtschaft noch stärker auf die Wissenschaft zugehen. Bei meinen Reisen nach Asien und Lateinamerika habe ich vielfach bestätigt gefunden, daß die Wirtschaft oft noch gar nicht die Schätze erkannt hat, die es an unseren Universitäten und Forschungseinrichtungen zu entdecken und zu heben gibt. Hier ist noch ein offenes Feld, das es zu bestellen gilt.

Erfreulicherweise erleben wir in der Biotechnologie - einer der Schlüsseltechnologien für das 21. Jahrhundert - eine Trendwende: So steigt in Deutschland die Bereitschaft für eine erfolgreiche Nutzung dieser Zukunftstechnologie. Ausländische Investoren verfolgen mit wachsendem Interesse die dynamische Entwicklung der Biotechnologie bei uns. Unternehmen, die noch vor kurzem dem Standort Deutschland auf diesem Felde den Rücken kehrten, investieren wieder bei uns; 1997 werden weitere Gentechnik-Produktionsanlagen ihren Betrieb aufnehmen und Arbeitsplätze schaffen. Auch in der Bevölkerung verzeichnen wir einen Klimawechsel: Die Anwendung der Gentechnik in der Medizin wird bereits von einer breiten Mehrheit befürwortet. Neue Umfragen zeigen zunehmende Aufgeschlossenheit gegenüber weiteren Anwendungen der Biotechnologie.

Meine Damen und Herren, auch in anderen Bereichen müssen wir umdenken und die eingefahrene Praxis verändern. Dies gilt in besonderem Maße für die Hochschulen in Deutschland. Bundesminister Rüttgers hat hierzu bereits Eckwerte für eine grundlegende Reform vorgestellt. Mit dieser Initiative wollen und werden wir die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Hochschulen stärken und sie auf ihre Aufgaben im 21. Jahrhundert vorbereiten. Voraussetzungen dafür sind mehr Leistungsorientierung, Deregulierung und größere Entscheidungsspielräume. Wir müssen unsere Hochschulen fit für den internationalen Wettbewerb machen! Deshalb plädiere ich nachdrücklich für Veränderungen.

Meine Damen und Herren, Deutschland steht angesichts der Globalisierung von Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung vor großen Herausforderungen, aber auch gewaltigen Chancen. Im internationalen Wettbewerb können wir mit provinziellem Geist nicht bestehen. Für unser Land ist es von entscheidender Bedeutung, daß unsere Nachwuchswissenschaftler Erfahrungen im Ausland gewinnen und die Arbeit unserer Einrichtungen durch Studien- und Arbeitsaufenthalte ausländischer Wissenschaftler bereichert wird. Durch Austausch von Wissenschaftlern leisten Wissenschaft und Forschung vorbildhafte Pionierarbeit auch für andere Bereiche. Dies gilt vor allem mit Blick auf das Zusammenwachsen Europas. Das Europa von heute und das Europa von morgen brauchen den verstärkten - gerade auch wissenschaftlichen - Austausch.

In wenigen Monaten werden wir, wenn alles planmäßig verläuft, in Amsterdam den sogenannten Maastricht-II-Vertrag abschließen. Das ist ein weiterer gewaltiger Abschnitt beim Bau des Hauses Europa. Wir werden die europäische Währung bekommen, auch wenn es noch Probleme zu lösen und Widerstände zu überwinden gilt. Wir werden den Prozeß der europäischen Einigung in den nächsten Jahren weiter vorantreiben. Dieser Prozeß ist irreversibel. Wenn wir dieses einige Europa in Frieden und Freiheit erreichen wollen, dann brauchen wir gerade auch in der Europäischen Union den wissenschaftlichen Austausch auf breiter Front.

Meine Damen und Herren, viele von Ihnen leben auf vorbildliche Weise vor, was wir für morgen erreichen und festigen wollen: einen Kontinent der offenen Grenzen, der Freundschaft und der Zusammenarbeit. Gerade auch der Name Gottfried Wilhelm Leibniz steht für die internationale Zusammenarbeit in Wissenschaft und Forschung. Für ihn war es selbstverständlich, Grenzen zu überschreiten, europäisch zu denken und zu handeln. Er wirkte nicht nur in Deutschland, sondern arbeitete auch in den Niederlanden, Frankreich, England und in Rußland.

Seit der Antike haben Wissenschaft und Forschung gegenseitiges Verständnis der Völker gefördert, haben dazu beigetragen, daß Grenzen und Barrieren überwunden werden konnten. Diese fruchtbare und friedensstiftende Tradition der Wissenschaft ist ein großes Kapital. Sie ist weder in den Jahrhunderten zunehmender nationalstaatlicher Isolierung abgerissen, noch konnte sie durch die Katastrophen der beiden Weltkriege und der anschließenden Teilung Europas zerstört werden. Auf dieser guten Tradition können und müssen wir nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes aufbauen. Sie hilft uns, im Europa des 21. Jahrhunderts ein Leben in Frieden und Freiheit zu sichern.

Auf meinen Reisen erhalte ich diesen Eindruck immer wieder bestätigt. Wenn man an der Universität von Kiew erlebt, welche Aktivitäten entfaltet werden, um den Kontakt zur deutschen und europäischen Forschung zu intensivieren, oder wenn man in Kiew oder Odessa das Interesse der Studenten spürt, die deutsche Sprache zu erlernen, dann merkt man, daß wir an diese gute Tradition des Miteinanders in Europa anknüpfen können. Wenn wir auf diesem Weg weiter voranschreiten, werden wir großartige Ergebnisse erzielen.

Dieser Gedanke liegt auch der "Gemeinsamen Erklärung zur Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Studienstandortes Deutschland" zugrunde, die die Regierungschefs der Länder und ich am 18. Dezember 1996 verabschiedet haben. Mit dieser Initiative wollen wir die Attraktivität unserer Hochschulen, insbesondere auch für die künftigen Führungskräfte aus den wirtschaftlich dynamischen Schwellenländern, erhöhen. Für die künftige Stellung Deutschlands in der Welt ist dies von zentraler Bedeutung.

Meine Damen und Herren, ein Blick über die Grenzen lehrt uns auch, daß es Frauen in Deutschland nach wie vor besonders schwer haben, eine akademische Karriere zu machen. Es gibt - das sage ich ganz bewußt hier in einer deutschen Universität - noch immer viel zu wenig Frauen in unserem Wissenschaftsleben. Ich erinnere mich noch an eine Befragung an den deutschen Universitäten Mitte der 50er Jahre, die die Einstellung zu weiblichen Hochschullehrern klären sollte: 89 Prozent der männlichen Befragten lehnten Hochschullehrerinnen ab. Die Begründungen beruhten auf tiefschürfenden Einsichten wie "Geistigkeit ist ein Privileg der Männer", "Frauen können nicht logisch denken" oder "Zum Hochschullehrer gehört die ganze Fülle der männlichen Begabung".

Niemand würde es heute noch wagen, öffentlich solche Kommentare abzugeben. Tatsache ist gleichwohl, daß nicht einmal fünf Prozent der Lehrstühle in den alten Ländern von Frauen besetzt sind. Dies ist ein Armutszeugnis. Wir sollten deshalb den anstehenden Generationenwechsel in Wissenschaft und Hochschule auch dazu nutzen, die Chancen hochqualifizierter Frauen noch stärker zu fördern. Ich denke, daß dies auch ein probates Mittel gegen akademisches Mittelmaß in manchen Bereichen ist. Mir geht es nicht darum, um auch dies klarzustellen, Quoten für Wissenschaftlerinnen und Lehrstuhlinhaberinnen einzuführen. Mir geht es in erster Linie darum, Frauen in Berufungsverfahren eine faire Chance zu geben.

Sie, sehr verehrter Herr Professor Frühwald, haben sich konsequent und sehr offen für die Nachwuchsförderung und die Förderung von Frauen eingesetzt. Der Erfolg, den die Graduiertenförderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft in den letzten Jahren zu verzeichnen hat, spricht für sich und für Ihre Arbeit.

Während der Zeit Ihrer Präsidentschaft hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft Herausragendes geleistet: Dies gilt besonders für die Integration der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den neuen Ländern in das nationale und internationale Wissenschaftssystem. Die deutsche Wissenschaft ist stärker als je zuvor in den europäischen und internationalen Austausch eingebunden. Sie haben die Weichen gestellt, daß viele Wissenschaftler und Forscher aus den Ländern Mittel- und Osteuropas den Weg in unsere Universitäten und Forschungsstätten fanden.

Ich nehme gerne die Gelegenheit wahr, Ihnen, Herr Professor Frühwald, für Ihre Arbeit für die deutsche Forschung zu danken. Als ich erfuhr, daß Sie nicht wieder für das Amt des Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft kandidieren wollen, war das für mich eine ausgesprochen schlechte Nachricht. Sie haben Ihre Gründe, und diese sind selbstverständlich zu respektieren. Aber Sie müssen uns auch zubilligen, daß wir Ihre Entscheidung bedauern.

Die Art, wie Sie Ihr Amt geführt haben, wie Sie auf zurückhaltende und zugleich zupackende Art für die Anliegen der deutschen Forschung geworben und gekämpft haben, war für mich immer wieder beeindruckend. Bedanken möchte ich mich auch für den persönlichen Rat und die Unterstützung, die Sie mir haben zuteil werden lassen. Ich hoffe, daß Sie noch möglichst lange der Wissenschaft dienen werden.

Wenn Sie, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, mit Freude auch an Ihre Aufgaben als Universitätslehrerinnen und Universitätslehrer herangehen, wird sich das auf die jungen Menschen an unseren Hochschulen übertragen. Zu einer entsprechenden Atmosphäre an unseren Universitäten können Sie in Ihren Instituten und in Ihren Lehrveranstaltungen einen wichtigen Beitrag leisten.

Ihnen, liebe Leibniz-Preisträger, wünsche ich für Ihren persönlichen und beruflichen Lebensweg viel Glück und Erfolg. Lassen Sie sich anregen und leiten von der Maxime Gottfried Wilhelm Leibniz': als Gelehrte in freier Selbstbestimmung die selbstgesteckten wissenschaftlichen Aufgaben zum Nutzen der Allgemeinheit zu verfolgen.

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 11. 4. Februar 1997.