15. Juli 1997

Laudatio des Bundesministers der Finanzen Theo Waigel anlässlich der Verleihung des Europäischen St.-Ulrichs-Preises 1997 an Bundeskanzler Kohl in Dillingen an der Donau

 

Verehrte Festversammlung,

sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

 

I.

 

nach einer mehr als wechselvollen Geschichte neigt sich das 20. Jahrhundert aus deutscher Sicht einem versöhnlichen Ende entgegen. Erstmals in diesem Jahrhundert hat Deutschland mit all seinen Nachbarn nicht nur gut nachbarliche, sondern freundschaftliche Beziehungen. Wir sind umgeben von Partnern und Freunden.

 

Trotz zweier verheerender Weltkriege und trotz des unseligen Nazi-Regimes kann sich Deutschland heute zu den Gewinnern der Geschichte zählen. Unser Vaterland ist wiedervereinigt und fest im europäischen Staatenverbund verankert.

 

Als gleichberechtigtes Mitglied der westlichen Gemeinschaft sind wir heute ein weltweit angesehener und geschätzter Partner.

 

Entscheidend beigetragen zu diesem Erfolg hat der seit 1982 amtierende Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Dr. Helmut Kohl. Als "Kanzler der Einheit" hat er sich bleibende Verdienste für unser Vaterland erworben. Und wenn der Prozeß der europäischen Einigung in den vergangenen 15 Jahren entscheidend vorankam, so ist dies seinem politischen Einsatz zu verdanken.

 

Seit 1976 ist es mir vergönnt, mit Helmut Kohl persönlich zusammenzuarbeiten - zunächst auf den harten Oppositionsbänken im Bundestag, dann als Vertreter der CSU in den Bonner Koalitionsgremien und schließlich in den zurückliegenden Jahren am Bonner Kabinettstisch. In all diesen Jahren habe ich ihn als einen "Europäer mit Herz und Verstand" kennen- und schätzengelernt.

 

Für seine europapolitischen Erfolge verleiht ihm die Europäische St.-Ulrichs-Stiftung aus Dillingen an der Donau den diesjährigen Europäischen St.-Ulrichs-Preis. Hierzu, lieber Helmut Kohl, möchte ich herzlichst gratulieren. Er hat diese Auszeichnung fürwahr verdient!

 

II.

 

Das Projekt der europäischen Einigung resultiert aus der Einsicht in das Versagen nationaler Machtstaatspolitik. Europas Geschichte ist bekanntlich geprägt durch die Herausbildung von Nationalstaaten. Deren gegenseitige Beziehungen waren über Jahrhunderte hinweg durch kriegerische Auseinandersetzungen geprägt. Daran konnte auch die mit dem Wiener Kongreß geschaffene Friedensordnung nichts ändern. Das vom früheren US-Außenminister und Politikwissenschaftler Henry Kissinger analysierte "Gleichgewicht der Großmächte" stand von Anfang an auf einer brüchigen Grundlage.

 

Die verheerenden Auswirkungen der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert gaben den Anstoß zu einem grundlegenden Bewußtseinswandel. Sprach im vergangenen Jahrhundert Carl von Clausewitz noch vom Krieg als einer "Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln", so scheidet der Krieg im Jahrhundert der Massenvernichtungswaffen als Instrument rationaler Konfliktlösung aus.

 

Im August 1914 konstatierte der damalige britische Außenminister Sir Edward Grey: "Die Lichter gehen aus in Europa, sie werden in unserer Lebenszeit nicht mehr erstrahlen". Wenn diese Lichter heute wieder Glanz verbreiten, so ist dies vorrangig das Verdienst jener Europäer der ersten Stunde, die die Lehren aus der Geschichte zogen und die Zeichen der Zeit erkannt hatten.

 

III.

 

Als Initiator der europäischen Einigung gilt hin und wieder Winston Churchill, der in seiner berühmten Rede am 19. September 1946 in Zürich - angesichts der Bedrohung Westeuropas durch das Vordringen des sowjetischen Kommunismus - zur Bildung der "Vereinigten Staaten von Europa" aufrief.

 

Die Idee eines europäischen Staatenbundes ist jedoch weit älter. Das Projekt Europa war schon früher Gegenstand von Erörterungen bedeutsamer Philosophen, unter anderem von Immanuel Kant und Jean-Jacques Rousseau.

 

Konkrete politische Initiativen zur europäischen Einigung gingen erstmals von christlichen Demokraten aus. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts war es der Italiener Don Luigi Sturzo. Und in der Stunde Null nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren es die Christdemokraten Alcide de Gasperi, Robert Schuman und Konrad Adenauer sowie der dem französischen Zentrum angehörende Liberale Jean Monnet, die das Projekt der politischen Einigung in Angriff nahmen. Schon 1947 kam es zur Gründung der "Nouvelles Equipes Internationales", aus der später die "Europäische Union Christlicher Demokraten" hervorging.

 

Heute können wir stolz auf die Leistungen dieser Männer der ersten Stunde sein. Ihr Werk ist für uns Auftrag und Verpflichtung. Die Aufgabe unserer Generation ist es, politische und institutionelle Rahmenbedingungen zu schaffen, die - um an die Worte von Sir Edward Grey anzuknüpfen - ein erneutes Erlöschen der Lichter in Europa dauerhaft verhindern!

 

Einer, der sich diesem Erbe besonders verpflichtet weiß, ist Helmut Kohl. Ein Leben in Frieden und Freiheit, in Demokratie und Rechtsstaat zählt für die junge Generation zu jenen Selbstverständlichkeiten, die nicht mehr hinterfragt werden. Demgegenüber hat Helmut Kohl - übrigens wie auch sein langjähriger französischer Weggefährte François Mitterand - die Schrecken des Zweiten Weltkriegs noch persönlich miterlebt. Deshalb wurde und wird er nicht müde,die friedenstiftende Wirkung des Projekts Europa hervorzuheben.

 

Die europäische Einigung hat uns 50 Jahre Frieden in Europa ermöglicht. Dies hat es in der europäischen Geschichte zuvor nicht gegeben. Das Projekt Europa hat sich mithin als die erfolgreichste Friedensbewegung aller Zeiten erwiesen.

 

Helmut Kohl fühlt sich als Vorkämpfer dieser Bewegung. Er sieht in der europäischen Einigung "die wirksame Versicherung gegen einen Rückfall in den unheilvollen Chauvinismus des vergangenen Jahrhunderts". Und aus diesem Grunde hat er auch sein persönliches politisches Schicksal an den Erfolg dieses europäischen Projekts geknüpft.

 

IV.

 

Die Zukunft Europas hängt unwiderruflich vom Bekenntnis zur gemeinsamen Verantwortung ab. Diese gemeinsame Verantwortung, der Wille zum Miteinander und zur Zusammenarbeit, gründet im gemeinsamen Erbe der europäischen Nationen als einer Wertegemeinschaft. Und diese Wertegemeinschaft ist durch Aufklärung und Christentum begründet worden.

 

Im ersten gemeinsamen Hirtenwort erklärt die Bischofskonferenz Europas: "Das Christentum ist eine der Kräfte, die Europas Geschichte, seine Entwicklung und seine Kultur gestaltet haben. Von dem Evangelium ... haben die Völker dieses Kontinents ihre Bindung an Gott und ihr Menschenbild empfangen." Der verstorbene Augsburger Bischof Josef Stimpfle hat dies wie folgt kommentiert: "Eine dauerhafte politische Einigung der Völker Europas bedarf des geistigen Grundes: Der christliche Glaube bietet ihn."

 

In diesem Sinne möchte ich auch den Initiatoren der europäischen St.-Ulrichs-Stiftung ein herzliches Wort des Dankes sagen, indem sie mit dieser Stiftung auf einem christlichen Verständnis aufbauend "Brücken der Versöhnung" schaffen wollen.

 

Die europäische Wertegemeinschaft manifestiert sich in der Orientierung am christlichen Menschenbild, im unverbrüchlichen Bekenntnis zu den Grundrechten der Person, zur Demokratie als Herrschaftsform und zum Rechtsstaat als der Grundlage einer bürgerlichen Gesellschaft. Das gemeinsame Erbe zeigt sich auch in einem kulturellen Band:

 

- Zu Europas Literatur gehören nicht nur Goethe und Schiller, sondern auch Dante und Shakespeare.

 

- Europas Musik umfaßt nicht nur Bach und Händel, sondern auch Mozart und Strauß.

 

- Europas Malerei verdankt ihre bleibenden Werke nicht nur Dürer und Holbein, sondern genauso Rubens und Rembrandt.

 

- Und schließlich verdankt Europas Philosophie nicht nur Kant und Hegel, sondern auch Descartes und Voltaire entscheidende Impulse.

 

Auf der Grundlage dieses gemeinsamen Erbes ist es unsere Aufgabe, das von Konrad Adenauer beschworene "gemeinsame Haus für alle Europäer" zu schaffen, zu festigen und gegen künftige Gefahren wetterfest zu machen.

 

V.

 

Helmut Kohl hat immer wieder und zu Recht hervorgehoben: Zur europäischen Einigung gibt es keine verantwortbare und erfolgversprechende Alternative. Die Wege des Nationalismus haben sich historisch allesamt als Irrwege erwiesen. Die Zahl der politischen und ökonomischen Probleme, die mit den Mitteln nationaler Politik nicht mehr effizient gelöst werden können, nimmt zu - von der Umweltpolitik über die Wirtschafts- und Währungspolitik bis hin zur Steuerung der Wanderungsbewegungen und zur Bekämpfung der internationalen Kriminalität. Ohne wirtschaftliche Zusammenarbeit können unsere Volkswirtschaften im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr standhalten. Und in der sich abzeichnenden Phase einer multipolaren Weltordnung wird Europa sein politisches Gewicht nur aufrechterhalten können, wenn es mit einer Stimme spricht; nur die politische Einigung wird es - in den Worten von Franz Josef Strauß - ermöglichen, daß Europa im kommenden Jahrhundert die Rolle des handelnden Subjekts und nicht die des behandelten Objekts spielen wird.

 

Aufs Ganze gesehen war die politische Einigung Europas eine Erfolgsgeschichte. 50 Jahre Frieden wären ohne die europäische Einigung genausowenig möglich gewesen wie der historisch einmalige Zuwachs an Wohlstand und sozialer Sicherheit in allen Mitgliedstaaten. Und für uns Deutsche kommt - Helmut Kohl hat es oft hervorgehoben - hinzu: Die Gründung der Gemeinschaft "hat uns die Chance gebracht, als gleichberechtigtes Mitglied der europäischen Staatenfamilie die Einigung unseres Kontinents mitzugestalten". Und "ohne eine konsequente Politik der europäischen Einigung wäre die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit und mit der Zustimmung aller unserer Nachbarn und Partner nicht möglich gewesen".

 

Die europäische Erfolgsgeschichte war immer wieder von Rückschlägen betroffen. Als Helmut Kohl die politischen Geschicke der Bundesrepublik Deutschland im Herbst 1982 übernahm, befand sich die Gemeinschaft an einem solchen Tiefpunkt. In Politik und Wirtschaft machte sich das Wort von der "Eurosklerose" breit.

 

Es ist und bleibt ein Verdienst Helmut Kohls, zusammen mit seinen Mitstreitern - vor allem in Frankreich und den Benelux-Staaten - den europapolitischen Stillstand überwunden und den Prozeß der europäischen Einigung auf ein qualitativ neues Niveau gestellt zu haben. Heute geht von der Europäischen Union eine historisch einmalige Anziehungskraft aus, die vor 20 Jahren noch undenkbar gewesen wäre und die heute nahezu den ganzen Kontinent umfaßt.

 

Die europapolitische Zwischenbilanz in seiner Amtszeit als deutscher Bundeskanzler kann sich sehen lassen. Ich beschränke mich auf die wesentlichen Punkte:

 

- Im Dezember 1985 wurde die "Einheitliche Europäische Akte" verabschiedet, die das Fundament des europäischen Binnenmarktes bildet.

 

- Das Abkommen von Schengen öffnete den Weg zum Abbau der Grenzkontrollen.

 

- Im Februar 1992 wurde der Vertrag über die Europäische Union in Maastricht unterzeichnet.

 

- Integraler Bestandteil der Maastrichter Beschlüsse sind die Vereinbarungen über die Errichtung einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion.

 

- Vor wenigen Wochen wurden in Amsterdam weitreichende Abkommen zur Vertiefung der politischen Zusammenarbeit und zur Absicherung der Währungsunion durch den sogenannten Stabilitätspakt geschlossen.

 

- In die Amtszeit Helmut Kohls fällt auch die Erweiterung der Gemeinschaft - zunächst um Spanien und Portugal, dann um Schweden, Finnland und Österreich.

 

- Bei der genannten Konferenz in Amsterdam wurden auch die Voraussetzungen zur Öffnung der Union für beitrittsfähige und beitrittswillige Reformstaaten aus Mittel- und Osteuropa geschaffen.

 

- Ohne die Freundschaft Helmut Kohls zu Boris Jelzin wäre dies nicht möglich gewesen.

 

Es ist sicherlich nicht übertrieben, wenn ich behaupte:

 

Die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft in den zurückliegenden 15 Jahren trägt die Handschrift Helmut Kohls!

 

VI.

 

Der Prozeß der europäischen Einigung ging innenpolitisch in den Mitgliedstaaten nicht immer reibungslos vonstatten. Auch und gerade in der Bundesrepublik stieß die Westbindung anfänglich auf harten Widerstand - sowohl in sicherheitspolitischer Hinsicht beim NATO-Beitritt als auch in ökonomischer Hinsicht bei der Verabschiedung der Römischen Verträge.

 

So war und ist es auch nicht verwunderlich, wenn die Verträge von Maastricht und insbesondere deren währungspolitischer Teil - obwohl in Bundestag und Bundesrat mit sehr großer Mehrheit angenommen - innenpolitisch auf Bedenken und Widerstände getroffen sind und die Diskussion bis heute anhält. In den anderen Mitgliedstaaten erleben wir das gleiche.

 

Selbstverständlich nehmen Helmut Kohl und ich als zuständiger Fachminister die Sorgen und Bedenken im Hinblick auf Maastricht und die Währungsunion sehr ernst. Aber ich möchte daran erinnern: Bei nahezu allen Grundsatzentscheidungen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gab es in breiten Schichten der Bevölkerung starke Vorbehalte - so bei Ludwig Erhards Einführung der Sozialen Marktwirtschaft, bei der Einführung der Bundeswehr durch Franz Josef Strauß, beim Vollzug des NATO-Doppelbeschlusses durch Helmut Kohl, bei der von mir bewerkstelligten innerdeutschen Währungsunion und nun auch bei Maastricht.

 

Die Sorgen vieler Bürger um die Stabilität der europäischen Währung sind aus historischen Gründen verständlich. Aber wir haben alles Erdenkliche unternommen, um die Stabilität der künftigen Währung sicherzustellen - von den überaus harten Konvergenzkriterien über die völlige Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank bis zum Stabilitätspakt mit seinen Sanktionsmechanismen. Und ich bin sicher: Mit diesem Regelwerk haben wir die Grundlagen für eine wirksame und dauerhafte Stabilitätsgemeinschaft geschaffen.

 

Jenseits aller aktuellen Diskussionen über Haushaltsdefizite und der Inflationsraten müssen wir jedoch Maastricht im Gesamtzusammenhang betrachten. Im Zeitalter der Globalisierung von Wirtschaft und Finanzmärkten und der weltweiten Bildung von Wirtschaftsblöcken braucht Europa einen einheitlichen Wirtschaftsraum mit gemeinsamer Währung, um seine Weltmarktanteile und seine Wettbewerbsfähigkeit und damit auch sein Wohlstandsniveau zu erhalten. Wem "die ganze Richtung" in der Europapolitik nicht paßt, der riskiert bei den heutigen weltweiten Interdependenzen nicht nur den wirtschaftlichen, sondern auch den politischen Abstieg der europäischen Staaten. Und wer glaubt, die Verbrechensbekämpfung und die Wanderungsbewegungen auf der einen und die außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen auf der anderen Seite mit nationalstaatlicher Politik lösen zu können, der leidet an nationaler Selbstüberschätzung.

 

Eines der Hauptargumente gegen Maastricht ist immer wieder der Einwand: Das kommt zu früh; das geht zu schnell. Dem kann ich nur entgegnen: Hoffentlich ist es nicht einmal zu spät. Wann, wenn nicht jetzt - nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Marxismus und dem Ende des Systems von Jalta - ist es an der Zeit, Europa neu zu ordnen und eine dauerhafte Friedensordnung zu schaffen? Wann, wenn nicht jetzt - im Zeitalter der Globalisierung der Güter- und Finanzmärkte - ist es an der Zeit, einen echten Binnenmarkt mit einheitlicher Währung zu schaffen? Es geht doch letztlich in den Worten Helmut Kohls um die Frage: "Sind wir Europäer fähig, die sich uns bietende Chance für eine gute Zukunft unseres Kontinents in Frieden und Freiheit zu nutzen? Oder gewinnen dümmlicher Kultur-Pessimismus und Euro-Skeptizismus die Oberhand - mit der Folge, daß wir Europäer einen Rückzug in die nationale Isolierung antreten und eine Jahrhundertchance an uns vorbeiziehen lassen?"

 

VII.

 

Im Frühjahr dieses Jahres haben sich auch die Intellektuellen - vor allem in Frankreich und Deutschland - des Themas angenommen und eine heftige Diskussion entfacht. In Frankreich waren es beispielsweise der Soziologe Bourdieu, der im Gefolge von Maastricht eine Dominierung der Politik durch die Ökonomie befürchtet, oder der Sozialist Chevènement, der autonome europäische Instanzen als unvereinbar mit dem französischen Selbstverständnis des Primats nationaler Politik ansieht. In Deutschland hat der Politologe Hennis die Befürchtung geäußert, eine europäische Zentralbank werde zum "umstrittenen Zankapfel" einer von Frankreich dominierten Europäischen Union werden. Graf Kielmansegg gab zu bedenken, der Stabilitätspakt als "europäischer Oktroi" rufe bei unseren Partnern "Furcht vor einem hegemonialen Deutschland" hervor. Und Arnulf Baring empfiehlt Helmut Kohl einen Verzicht auf die Währungsunion, damit er nicht Gefahr laufe, "den glänzenden Platz in der deutschen Geschichte, den er bereits erworben hat, zu verdunkeln".

 

Die Kritik an Maastricht läßt sich dabei keineswegs an einem politischen Links-rechts-Schema festhalten. Deutliches Beispiel hierfür ist Jürgen Habermas, der gewiß nicht im Geruch steht, Helmut Kohl und den Bonner Unionsparteien nahezustehen. Aber es gibt doch sicherlich zu bedenken, wenn Habermas schreibt: "Rückblickend sehe ich die wirkliche Bedeutung der von Adenauer außenpolitisch betriebenen Westbindung der Bundesrepublik klarer als damals (nämlich in den 50er Jahren). ... Ein Glück, daß Kohl bis heute entschieden an einer schnellen europäischen Einigung festhält."

 

Recht besehen gründen nahezu alle Bedenken gegen das Projekt Europa in der vermeintlich leichtfertigen politischen Preisgabe all dessen, was wir alle mit dem Begriff der Nation beziehungsweise des Nationalen verbinden. Dazu zählen unter anderem die Sorgen vor einem Brüsseler Bürokratismus und Zentralismus, vor einem Machtverlust der nationalen Parlamente, vor der Gefahr eines demokratisch nicht legitimierten europäischen Machtapparats und vor dem Verlust nationaler Eigenständigkeit. Diese Einwände bedürfen einer sorgfältigen Analyse.

 

Es ist ein weltweites historisches Faktum, daß sich Menschen eines überschaubaren Raums, einer Stadt oder eines Landes, eines eigenen Stamms oder einer eigenen Religion besonders verbunden fühlen. Aus dieser Grundlage heraus entstand der Nationalstaat.

 

Im heutigen Zeitalter der zunehmenden Individualisierung der Lebensverhältnisse, eines kaum noch vorstellbaren Wertepluralismus und eines Nachlassens religiöser Bindungswirkungen müssen wir uns die Frage stellen, was hält das Ganze der westlichen Industriegesellschaften noch zusammen? Ich glaube nicht, daß es primär universalistische Wertvorstellungen sind. Die Zugehörigkeit zur Rechts- und Wertegemeinschaft ist wichtig, entscheidende Bindungswirkung kommt jedoch aus dem nationalen Zusammengehörigkeitsgefühl.

 

Auf absehbare Zeit ist mit der Herausbildung einer europäischen Identität nicht zu rechnen. Auch in Zukunft werden sich die Menschen in Toledo als Spanier, die in Ravenna als Italiener und die in Dillingen als Deutsche verstehen. Nur allmählich wird sich das entwickeln, was der Präsident der Tschechischen Republik, Václav Havel, in seiner Rede im April 1997 im Deutschen Bundestag historisch vorausgreifend als "europäische Heimat" bezeichnet hat - "nämlich das (gemeinsame) Bewußtsein, das wir miteinander eine gemeinsame Heimat der Gedanken, Werte und Ideale teilen".

 

Damit stehen wir vordergründig vor dem Dualismus von Zwang zu europäischer Zusammenarbeit einerseits und der Notwendigkeit des Festhaltens an der Nation andererseits. Aber gerade Europa bietet die Chance, dieses Dilemma zu lösen. Gerade das Projekt Europa bietet die Chance, durch die Errichtung eines Staatenverbundes den Bestand der Nation zu sichern und doch gleichzeitig das Wiederaufkommen eines pervertierten Nationalismus zu verhindern. Die entscheidende Antwort darauf bietet für mich der Föderalismus.

 

Der Föderalismus als architektonisches Strukturprinzip erlaubt den Aufbau eines "Europas der Einheit in Vielfalt", in dem

 

- alle Nationen ihre Identität bewahren,

 

- die Vielfalt der kulturellen Traditionen und regionalen Besonderheiten gesichert ist und

 

- die Kompetenzverteilung strikt dem Subsidiaritätsprinzip folgt, nachdem die höhere Ebene Kompetenzen nur dann erhält, wenn die niedrigeren Ebenen zur Problemlösung effektiv nicht in der Lage sind.

 

Das Ziel der Europäischen Politischen Union besteht deshalb nicht in einem Bundesstaat nach dem Muster der Vereinigten Staaten von Amerika, sondern in einem Staatenverbund, der die nationalen und regionalen Identitäten der Mitglieder und deren historische und kulturelle Eigenheiten garantiert. In diesem strategischen Blickwinkel weiß ich mich mit Helmut Kohl einig.

 

VIII.

 

Die Europapolitik steht gegenwärtig vor großen Herausforderungen. Nach dem Machtwechsel in London und Paris haben neue Akteure die Bühne der Europapolitik betreten. Aber die Regierungskonferenz von Amsterdam hat gezeigt: Alle Mitgliedstaaten stehen zum Konzept von Maastricht - und das heißt zur Währungsunion einschließlich Stabilitätspakt, zur politischen Vertiefung der Gemeinschaft und zur Öffnung der Union in Richtung Mittel- und Osteuropa.

 

Wir müssen das Projekt Europa als politisch offenen Prozeß begreifen. Europa muß offenbleiben im Hinblick auf

 

- die endgültige staatsrechtliche Konstruktion,

 

- die flexible Ausgestaltung der Institutionen sowie

 

- den Beitritt weiterer Kandidaten.

 

Historisch-politisch erfährt das Projekt Europa seine Legitimation durch den Auftrag, Frieden in Freiheit auf dem gesamten Kontinent dauerhaft zu sichern und den Wohlstand und die soziale Sicherheit der Bürger zu gewährleisten. Der jungen Generation bietet das Projekt Europa Chancen, von denen die älteren Generationen, die Verdun und Stalingrad miterleben mußten, nicht einmal zu träumen wagten. Unsere Väter waren im Krieg, unsere älteren Brüder fielen.

 

Konrad Adenauer hat seine europapolitische Vision einmal wie folgt umschrieben: "Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle." Helmut Kohl ist für mich der Garant dafür, daß diese Vision Adenauers mit Mut und Augenmaß in die Tat umgesetzt wird, und ich wünsche ihm von Herzen, daß er noch lange den Kurs des europäischen Zuges an entscheidender Position mitbestimmt! Herr Bundeskanzler, lieber Helmut Kohl, ich gratuliere herzlich!

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 67. 8. August 1997.