15. Juni 1997

Rede anlässlich des Kneipp-Jubiläumsjahres in Bad Wörishofen

 

Herr Bürgermeister,
lieber Theo Waigel, liebe Irene,
lieber Herr Goppel,
meine Damen und Herren Abgeordneten,
Herr Bischof, Frau Vizepräsidentin,
liebe Kneippianerinnen und Kneippianer,
verehrte Kurgäste, meine Damen und Herren,

 

sicher haben Sie Verständnis dafür, daß ich zuerst ein Wort zu den Bauern sage, die hier im Augenblick demonstrieren und auch zu denen, die nicht demonstrieren. Das Demonstrationsrecht, meine Damen und Herren, ist ein Grundrecht unserer Republik. Wenn die Menschen nicht mehr demonstrieren können, dann ist es immer die erste Stufe auf dem Weg zum Verlust der Freiheit. Wer ein Amt wie ich innehat, der weiß, daß angesichts der dramatischen Veränderungen in der Welt, in Europa und bei uns in Deutschland es für viele große Probleme und Herausforderungen gibt, die man im eigenen Beruf, in der eigenen Existenz über Generationen hinweg vorher überhaupt nicht kannte.

 

Daß das in den Gefühlen und in den Reaktionen der Betroffenen deutlich wird, ist ein ganz normaler Vorgang. Deswegen sage ich auch hier in dieser Runde mit sehr vielen Kurgästen, die uns aus anderen Sälen zuhören können, die aus anderen Städten und Regionen Deutschlands kommen, daß wir alle hoffentlich Solidarität mit denen empfinden, die von diesen Veränderungen besonders betroffen sind - und das sind in Deutschland im Moment ganz bestimmt die Bauern. Das gilt auch speziell für die Bauern in dieser Region.

 

Ich habe auf dem Weg hierher mit den verantwortlichen Persönlichkeiten des Bauernverbandes und den lokalen Autoritäten sprechen können. Ich habe keine Versprechungen zu machen - das ist überhaupt nicht meine Art -, aber ich habe ihnen gesagt, daß wir sehr wohl erkennen, wo in dieser Region der Schuh drückt. Es ist unser Interesse - und das hat sehr viel mit der Entwicklung dieser Stadt, mit den Lehren von Sebastian Kneipp, mit unserem, wie ich hoffe, in dieser Stunde gemeinsamen Denken zu tun -, daß auch künftig im Allgäu lebensfähige bäuerliche Familienbetriebe ihre Zukunft finden und daß junge Bauern eine Perspektive für ihr Leben vor sich sehen. Denn es kann keinen Zweifel daran geben: Einer der großen Schätze unseres Vaterlandes sind unsere Landschaften, so wie wir sie hier in einer wunderbaren Weise erleben können - eine Landschaft, in der Menschen auch Erholung und zu sich selbst finden können.

 

Viele sehen - und das geht nicht mit amtlichen Anordnungen - ihre Lebensaufgabe darin, die Höfe ihrer Väter an die kommenden Generationen weiterzugeben. Deswegen werden wir im Rahmen unserer Möglichkeiten alles tun, um zu helfen, aber es muß Hilfe zur Selbsthilfe sein. Auch die Betroffenen müssen sich überlegen, was sie in einer veränderten Situation unseres Landes tun müssen.

 

Ich habe dabei noch ein sehr persönliches Empfinden. Eine Gesellschaft ohne Bauern wird eine arme Gesellschaft. Bauern verkörpern Kontinuität, sie haben etwas zu tun mit dem Prinzip Eigentum. Eine Erfahrung dieses Jahrhunderts hat uns gelehrt, wenn das Eigentum abgeschafft wird, verschwindet bald auch die Freiheit. Auch wenn die Bauern jetzt mit ihrer Demonstration kräftig auf mich und Theo Waigel schimpfen, geht meine Sympathie für sie nicht verloren. Wir tun das Menschenmögliche in Brüssel, aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß sich die Verhältnisse in Europa und bei uns in Deutschland geändert haben.

 

Ich möchte mich bei Ihnen, Herr Bürgermeister, sehr herzlich für dieses freundliche Willkommen bedanken. Sie haben in Ihrer Rede auch ein freundliches Wort des Dankes an Theo Waigel gesagt. Sehen Sie, meine Damen und Herren, Finanzminister zu sein, das ist nie eine besonders leichte Aufgabe. Das ist eine der schwierigsten Ämter, und in schwierigen Zeiten ist es ein besonders schwieriges Amt. Dies gilt vor allem in einer Zeit, wie wir sie jetzt erleben, wo jeder sagt - alle Umfragen bestätigen das -, wir müssen uns ändern. Aber wenn es dann darum geht, wann und wie wir uns ändern, dann ist es immer zunächst der Nachbar, der sich zuerst ändern soll.

 

Es kommt jetzt darauf an, kreativ zu sein und weiterzudenken, was wir tun können, um die Zukunft Deutschlands im 21. Jahrhundert zu sichern, damit die jungen Leute, beispielsweise die Schulkinder, die uns draußen freundlich begrüßt haben, ein glückliches, friedliches und sozial gesichertes Leben führen können. Das ist jetzt unsere Aufgabe. Da wird man gelegentlich mehr beschimpft, als daß man ein Wort des Dankes hört. Auch da kann man etwas von den Schriften Sebastian Kneipps lernen: Daß das Dankeschönsagen nicht altmodisch geworden ist. Wenn wir das verlernen, werden wir ein armes Land. Deswegen, Theo, ein herzliches Dankeschön für Deine Arbeit.

 

Nun ein Wort zu Ihrer Arbeit, sehr geehrte Frau Vizepräsidentin des Kneipp-Bundes. Sie haben eine wichtige Aufgabe, die viel zu selten erwähnt und mit einem Wort des Dankes verbunden wird: ein Ehrenamt. Daß der Kneipp-Bund sich so gut entwickelt hat, ist nur möglich, weil es viele Männer und Frauen gibt, die mit einer großen Leidenschaft zur Sache und einer großen Überzeugungsfähigkeit andere ansprechen und gewinnen. Dafür möchte ich Ihnen, Ihren Kollegen und Freunden im Kneipp-Bund und all denen, die mittun, ein herzliches Wort des Dankes sagen.

 

Meine Damen und Herren, ich bin heute sehr gern zu Ihnen nach Bad Wörishofen gekommen. Dafür gibt es zunächst einen sehr persönlichen Grund. Meine Mutter war über eine 50jährige Ehe hindurch mit meinem Vater immer bemüht, ihn zum Kneippianer zu machen. Die Erfolge waren mittelmäßig, wenn ich das ehrlich bekenne. Aber wir, die Kinder, haben in früher Jugend schon diese Lehren gehört und auch einige davon mitgenommen. Wenn meine Mutter noch leben würde, hätte sie ihre helle Freude daran, daß ich heute zum Andenken an Sebastian Kneipp hierher gekommen bin.

 

Es ist gut, daß wir uns anläßlich seines 100. Todestages dieser Persönlichkeit in so würdiger Weise erinnern. Sebastian Kneipp ist ein hervorragendes Vorbild und Beispiel für eine glückliche Verbindung von seelsorgerischem Engagement und einer ganz praktischen gesundheitlichen Hilfe für Tausende von Menschen. Er hat viele gestärkt und getröstet, ihnen neuen Lebensmut gegeben. Er hat vielen geholfen, ihre Gesundheit wiederzuerlangen.

 

Es ist ein besonderes Verdienst, das Vermächtnis von Sebastian Kneipp lebendig zu erhalten. Ich möchte alle ermutigen - nicht zuletzt Ihre Stadt, Herr Bürgermeister - sich auch in Zukunft für die Verwirklichung seiner Ideen und seiner Ideale einzusetzen. Dann tun sie nicht nur etwas Gutes für Bad Wörishofen, sondern für die Menschen unseres Landes. Ohne den Einsatz der vielen ehrenamtlich Tätigen, ohne diejenigen, die Kranke pflegen und Hilfsbedürftigen helfen, wäre unsere Gesellschaft um vieles ärmer. Was für Wörishofen gilt, kann man noch deutlicher sagen: Es wäre ohne dieses innere Engagement, diese gelebte Menschlichkeit nicht das geworden, was es heute ist: eine Kurstadt mit Weltruf, eines der größten und bedeutendsten Heilbäder in Deutschland. Ich möchte Sie alle - ob Sie in der Pflege, in der Seelsorge oder im organisatorischen Bereich tätig sind - ermutigen, diese Arbeit mit Überzeugung und Zuversicht fortzusetzen.

 

Meine Damen und Herren, das Vermächtnis von Sebastian Kneipp hat auch 100 Jahre nach seinem Tod nichts von seiner Aktualität verloren. Im Gegenteil - es ist lebendiger denn je. Es spricht für sich, daß die "Kneippianer" heute die größte Gesundheitsbewegung in der Welt sind. Heute sind die Kneippschen Ideen und Methoden weit über diesen Kreis hinaus ein Begriff. Auch Wissenschaft und Forschung haben sich der Erkenntnisse des Pfarrers und Naturheilpraktikers Kneipp angenommen. In den vergangenen 100 Jahren sind sie kontinuierlich weiterentwickelt worden.

 

Die Person Sebastian Kneipps lebt in der Erinnerung vieler Menschen als Vorbild weiter. Er stammte aus sehr bescheidenen Verhältnissen - wenn man seinen Lebensweg nachliest, ist das sehr eindrucksvoll. Seine Kindheit und Jugend waren von Armut und Entbehrung geprägt. Doch Widerstände und demütigende Erfahrungen hielten den einfachen Hütejungen und Webersohn nicht davon ab, seinen Traum wahrzumachen. Ihm war es nicht einfach in die Wiege gelegt, daß 100 Jahre nach seinem Tod ein solcher Festakt stattfindet. Er war eine Kämpfernatur. Er hat nicht aufgegeben und wußte, er muß sich selbst helfen.

 

Auf dem Weg zum Theologiestudium hat er in einem Maße Mut und Ausdauer, Kraft und Stärke bewiesen, das uns auch heute große Bewunderung abverlangt. Er schaffte es mit 23 Jahren, ins Gymnasium nach Dillingen zu kommen. Trotz Krankheit konnte er schon nach vier Jahren die Reifeprüfung ablegen, um am Dillinger Priesterseminar und schließlich am Herzoglichen Georgianum in München Theologie zu studieren. 1852 wurde er mit 31 Jahren zum Priester geweiht. Er war dann Kaplan und kam 1855 nach Wörishofen. Ich denke, das war ein wahrer Glücksfall für Wörishofen und für ihn selbst.

 

Es folgten 40 Jahre seines Wirkens in dieser Stadt, und er hat in diesen Jahren in vielen Bereichen Maßstäbe gesetzt. Er war ein eifriger Bauherr sozialer Einrichtungen. Er war ein ideenreicher Förderer von moderner Kloster- und Landwirtschaft. Er war - und das scheint mir eine wunderbare Verbindung zu sein - ein charismatischer Seelsorger und ein großer Gesundheitslehrer. Er hat dies alles auf den Weg gebracht und war zugleich ein Vorbild an Demut und Bescheidenheit. Er hat - und das gefällt mir ganz besonders gut - seine einfache Herkunft nie vergessen oder verleugnet. Er blieb sich selbst stets treu. Auch in dieser Hinsicht könnte er für viele heute ein Beispiel sein.

 

Sebastian Kneipp tat seine Pflicht. Er half ganz einfach denen, die zu ihm kamen - gleichgültig, ob sie ein seelisches oder leibliches Gebrechen hatten. Schon als junger Kaplan hatte er durch Behandlungserfolge mit seinen ungewöhnlichen Wasseranwendungen viel Aufmerksamkeit erregt. Er half jedem - ohne Unterschiede hinsichtlich des Standes und Ansehens der Person.

 

Sebastian Kneipp verband Heilung mit persönlichem Gespräch. In einer Zeit, in der wir uns leider viel zu sehr daran gewöhnen, über jemanden statt mit jemandem zu reden, ist eine seiner entscheidendsten Botschaften: miteinander zu sprechen. Seine Therapie umfaßte auch die Seelsorge. Er sah den Menschen als Ganzes, als einen Dreiklang von Körper, Geist und Seele. Und das ist wieder ganz hochmodern. In einer Zeit, in der der Begriff der Psychosomatik noch weitgehend unbekannt war, hatte Kneipp schon erkannt, daß Krankheit nicht allein Sache eines einzelnen Organs ist, sondern immer den ganzen Menschen betrifft.

 

Diese ganzheitliche Sicht brauchen wir heute mehr denn je. Auch und gerade in Zeiten eines beachtlichen wirtschaftlichen Wohlstandes auf der einen und großen Veränderungen auf der anderen Seite sollten wir nicht vergessen, daß es Werte und Prinzipien gibt, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt unverzichtbar sind.

 

Es gibt in unserem Volk einen großen Reichtum an Menschen, die zum Beispiel über die Gabe verfügen, auf andere einzugehen, ihnen zuzuhören und ihnen Geborgenheit zu vermitteln. Nächstenliebe erwächst aus einem solchen Tun. Es ist ein großes Werk der Nächstenliebe, wenn man für andere Zeit hat und darin auch Zuneigung erkennen läßt. Ich wehre mich mit großer Entschiedenheit dagegen - das möchte ich gerade hier vor der Büste von Sebastian Kneipp und in Erinnerung an ihn sagen -, daß diese menschlichen Tugenden und Fähigkeiten, die am Markt vielleicht nicht gefragt sind, geringgeschätzt werden.

 

Nicht jeder hat die Begabung, Höchstleistungen in Wissenschaft und Wirtschaft zu vollbringen. Wir wären jedoch ein armes Land, wenn es nicht die vielen Menschen gäbe, die für andere da sind. Wir sollten in allen Bereichen - angefangen von den Elternhäusern bis hin zu den Schulen, aber auch in unserem beruflichen Alltag, in unserem Freundeskreis, in den Vereinen und den Vereinigungen, die auch Lebensfreude miteinander vermitteln - dafür Sorge tragen, daß die menschlichen Qualitäten wieder stärker herausgestellt werden. In einer Gesellschaft, in der Prestige sehr viel gilt - das Deutschland von heute ist eine solche Gesellschaft -, ist es wichtig, nicht nur den materiellen Erfolg herauszustellen, sondern auch das, was menschliches Beispiel ausmacht. Das scheint mir ebenfalls eine der Lektionen Sebastian Kneipps zu sein.

 

Das Leben von Sebastian Kneipp ist auch ein Beispiel dafür, daß für den gläubigen Menschen Christenpflicht und Bürgerpflicht nicht voneinander zu trennen sind. Es war damals richtig, und das ist es heute: Die Bindung an Gott und die Öffnung gegenüber der Welt mit all ihrer Unvollkommenheit bilden eine Einheit. Was immer jemand denken und fühlen mag - dieses Land und unser Volk haben eine gute Zukunft, wenn eine hinreichend große Zahl bei uns bereit ist, zu sagen: Wir sind verpflichtet, unsere Welt mitzugestalten. Wir sind nicht Zuschauer, die von der Loge aus zusehen, was auf der Bühne geschieht, sondern wir sind selbst - jeder auf seinem Platz - Akteure auf dieser Bühne. Der Mut, die Zuversicht und die Tatkraft, die den Lebensweg und das Wirken von Sebastian Kneipp auszeichnen, weisen uns auch heute den richtigen Weg. Deshalb ist dies heute ein guter Tag. Ich hoffe, daß diese Botschaft von hier hinausgeht.

 

Sebastian Kneipp appellierte bei seinen Therapien an die Eigenverantwortung der Menschen für den Erhalt und die Bewahrung der Gesundheit. Damit vertrat er den Grundgedanken einer modernen Gesundheitspolitik, in der die Eigenverantwortung des einzelnen eine wesentliche Voraussetzung für die Erhaltung seiner Gesundheit ist, in der jeder von uns erkennen muß, daß das System nicht funktionieren kann, wenn man sich auf den Standpunkt stellt: Ich habe in die Krankenkasse soviel eingezahlt, jetzt muß ich dies mindestens - nach Möglichkeit aber sehr viel mehr - wieder herausholen. Solidarisches Miteinander muß aber vor allem auch diejenigen einschließen, die das Unglück erleben, sich schon in jungen Jahren gesundheitliche Schäden zuzuziehen.

 

Meine Damen und Herren, wir haben im Laufe der Jahre - das ist der Erfolg vieler Generationen - eines der besten Gesundheitssysteme der Welt aufgebaut. Das gilt nicht nur für die Qualität der medizinischen Versorgung, sondern vor allem auch für den sozialen Schutz der Versicherten.

 

Wir haben Glück und Probleme zugleich. Eine der erfreulichen Folgen der medizinischen Entwicklung ist, daß die Menschen in Deutschland immer älter werden. Als Otto von Bismarck vor über 100 Jahren, also zu Zeiten von Sebastian Kneipp, die Sozialversicherung einführte, lag - das muß man sich immer wieder vor Augen führen - die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen bei 44 Jahren und von Männern bei 41 Jahren. Heute beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen fast 80 Jahre und die der Männer fast 74 Jahre, und sie steigt weiter an. Die Konsequenzen daraus kann jeder absehen. Sie müssen weder Ökonomie noch Mathematik studiert haben, um das zu begreifen.

 

Ich möchte hier nur einen Zahlenvergleich nennen, der die ganze Dramatik der Entwicklung zum Ausdruck bringt: In Deutschland leben heute über drei Millionen Menschen, die über 80 Jahre alt sind. Wir haben 13 Millionen Menschen, die 65 Jahre alt und älter sind; im Jahre 2030 werden es über 19 Millionen sein. Der Anteil der über 65jährigen und älteren Menschen an der Gesamtbevölkerung wird sich damit von heute 15 Prozent bis zum Jahre 2030 auf 26 Prozent nahezu verdoppeln. Ich möchte das noch an einer weiteren Zahl verdeutlichen: Zu Beginn der 80er Jahre lag die Zahl der über 100jährigen bei unter 1000; sie wird in wenigen Jahren bei 5000 liegen. Diese Zahl nennen heißt das Problem erkennen. Es ist überhaupt keine Frage von politischen Streitereien. Wenn ich noch eine andere Tatsache hinzunehme, nämlich die, daß wir in Europa mit die niedrigste Geburtenrate haben, dann kann jeder erkennen, daß diese Zahlen ganz zwangsläufig zu Veränderungen führen müssen.

 

Das hat weitreichende Auswirkungen bis hin zu den sozialen Sicherungssystemen. Deshalb brauchen wir zwingend den Umbau unseres Sozialstaates. Es geht dabei nicht um den Abbau des Sozialstaates, sondern darum, ihn auf Dauer zu erhalten. Gerade unser Gesundheitssystem steht vor großen Herausforderungen. Deshalb muß es unser Ziel sein, daß unser Gesundheitssystem leistungsfähig und finanzierbar bleibt - auch unter den sich verändernden Bedingungen. Um dies zu gewährleisten, müssen wir die Ausgaben immer wieder auf das medizinisch Notwendige überprüfen.

 

Meine Damen und Herren, lassen Sie sich die Zahlen einfach durch den Kopf gehen: 1991 haben die gesetzlichen Krankenkassen 173 Milliarden D-Mark für kranke Menschen ausgegeben. 1996 - fünf Jahre danach - waren es bereits 235 Milliarden D-Mark, also fast 36 Prozent mehr. Der Anstieg war deutlich stärker als die Zunahme unseres Bruttoinlandsprodukts. Nie wurde in Deutschland soviel für die medizinische Versorgung aufgewandt wie heute. Die Zahlen nennen heißt, daß wir mit alten Rezepten nicht weitermachen können. Bei der jetzt notwendigen Reform ist entscheidend, daß der medizinische Fortschritt auch künftig allen zugute kommt. Auch in Zukunft muß niemand auf Leistungen verzichten, die für ihn persönlich medizinisch notwendig sind. Wir wollen nicht, daß es zum Beispiel - wie in anderen Ländern - ab einem bestimmten Lebensalter keine Dialyse mehr auf Krankenschein gibt.

 

Wenn die Selbstbeteiligung der Versicherten bei uns in sozial vertretbarer Weise erhöht wird, dann ist das nicht das Ende der sozialen Sicherung. Der Schutz der sozial Schwachen, der Schutz der chronisch Kranken ist und bleibt auch weiterhin gewährleistet. Wir haben über diese Reform viel diskutiert. Sie wird viel angegriffen. Das ist bei einer solchen Veränderung ganz natürlich. Die sogenannten Härtefallregelungen haben wir zugunsten derer, die ich eben angesprochen habe, erheblich verbessert und ausgebaut. Rund 20 Millionen Deutsche sind von den jetzt beschlossenen höheren Zuzahlungen überhaupt nicht betroffen. Das ist eine Tatsache, die in der Diskussion häufig verschwiegen wird. Ich weiß auch, daß mit der Reform Härten verbunden sind. Wenn ich mir jedoch den internationalen Vergleich beispielsweise bei der Selbstbeteiligung ansehe, dann können wir uns mit dem, was wir jetzt machen - ich stelle mich hier nicht hinter jemanden, sondern ich sage: meiner Überzeugung nach - sehr wohl sehen lassen.

 

Natürlich werden mehr Gestaltungsfreiräume der Krankenkassen und das Recht der Versicherten, in eine günstigere Kasse zu wechseln, auch zu einem stärkeren Wettbewerb führen. Das ist durchaus zu begrüßen. Dies ist eine Herausforderung, die sicherlich auch dem Kunden, der eine Versicherung abschließt, zugute kommen wird.

 

Bei alledem müssen wir auch sehen, daß die Bundesrepublik Deutschland heute in einem völlig veränderten wettbewerblichen Umfeld steht. Die Globalisierung der Wirtschaft schreitet voran. Wir haben ein weltweites Angebot für weltweite Nachfrage. Wer wie wir nach den Amerikanern die Exportnation Nummer zwei in der Welt ist, der muß sehen, daß er auf seinem Platz bleibt.

 

Man kann dies am besten in der Sprache des Fußballs deutlich machen. In diesen Tagen ist die Bundesliga für dieses Jahr zu Ende gegangen. Es gab Aufsteiger und Absteiger. Am Beispiel meines Heimatvereins, dem 1. FC Kaiserslautern, konnten Sie erleben, daß er es in einer Saison geschafft hat, wieder in die 1. Liga aufzusteigen. Man steigt sehr viel schneller ab - auch im Vergleich der Völker -, als man wieder aufsteigt. Wir sind gewohnt, mit unserer Nationalmannschaft und mit Vereinsmannschaften seit vielen Jahren international erfolgreich zu sein. Aber man kann in der ersten Liga nur spielen mit erstklassigen Spielern, mit der entsprechenden Strategie und vor allem mit der Bereitschaft, auch gewinnen zu wollen.

 

Das ist vor allem deswegen wichtig, weil die innenpolitische Aufgabe Nummer eins - die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit - nur zu meistern ist, wenn wir konkurrenzfähig bleiben. Unsere Volkswirtschaft lebt entscheidend von dem - das ist die Säule unserer Volkswirtschaft -, was wir in die Welt verkaufen: Erstklassige Produkte "made in Germany" zu vernünftigen Preisen und zu vernünftigen Wartungsbedingungen. Deswegen müssen wir jetzt die notwendigen Reformen durchsetzen. Dazu gehört, daß wir Steuern und Abgaben senken und die Lohnzusatzkosten begrenzen.

 

Wir haben eine gute Chance, in diesem Jahr in der Wirtschaft ein Stück voranzukommen. Wir haben alle Chancen, im nächsten Jahr ein noch größeres Stück voranzukommen. Aber dies bedeutet nicht, daß gleichzeitig die Arbeitslosigkeit zurückgeht. Es ist eine neue, nicht erfreuliche Erfahrung, daß mit der Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts nicht automatisch mehr Arbeitsplätze entstehen, sondern daß wir darüber nachdenken müssen, wie wir neue Arbeitsplätze schaffen können. Das gilt vor allem für die Schwächeren in der Gesellschaft. Von den über vier Millionen Arbeitslosen, die wir in der Bundesrepublik im Augenblick haben, sind über eine Million Langzeitarbeitslose. Da liegt das eigentliche Problem. Mehr als 40 Prozent dieser Menschen haben keine abgeschlossene Berufsausbildung.

 

Was wir jetzt bei Auszubildenden investieren, ist eine Investition in die Zukunft. Es wäre eine Schande für unser Land, wenn wir der bis zum Jahr 2007 steigenden Zahl von Ausbildungsplatzsuchenden keine Chancen geben. Danach geht die Zahl wegen der Geburtenentwicklung der vergangenen Zeit langsam zurück. Ich bleibe bei meiner These: Es wäre schlecht um unser Volk bestellt, wenn der 16jährige oder der 17jährige keine offene Tür der Gesellschaft finden würde, wenn er gleichzeitig mit 18 oder 19 Jahren - ich spreche jetzt von dem jungen Mann - seinen Dienst in der Bundeswehr oder seinen Ersatzdienst in einem Krankenhaus leisten soll. Beides gehört zusammen. Junge Leute sollen wissen: Dies ist unser Land, und unser Land schenkt mir Zukunft. Das muß eine der wichtigen Visionen sein.

 

Das alles heißt: Wir müssen jetzt handeln und die notwendigen Entscheidungen treffen. Wir bauen den Sozialstaat nicht ab, sondern wir müssen ihn zukunftsfähig machen. Wenn Sie einmal überlegen, daß wir heute schon über ein Drittel unseres Sozialprodukts für soziale Zwecke ausgeben, dann sehen Sie, daß wir hier an eine Grenze gekommen sind. Daraus müssen wir entsprechende Konsequenzen ziehen. Wir müssen heute handeln, um unseren sozialen Sicherungssystemen ihre finanzielle Grundlage auf Dauer zu erhalten. Dies gilt für unser Gesundheitswesen ebenso wie für die Rentenversicherung.

 

Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen: Sowohl in der gesetzlichen Rentenversicherung als auch in der gesetzlichen Krankenversicherung sind die Ausgaben für Kuren und Rehabilitation seit Anfang der 90er Jahre sprunghaft angestiegen. Auch hier sprechen die Zahlen Bände: Im Bereich der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten und der Knappschaftlichen Rentenversicherung sind die Ausgaben von 1991 bis 1995 für Kuren und Rehabilitation um rund 50 Prozent und in dem Bereich der Krankenversicherung im gleichen Zeitraum sogar um 70 Prozent gestiegen. Angesichts solcher Zahlen müssen wir - ich sage das auch hier in Bad Wörishofen - die Kosten für das Kurwesen auf ein vertretbares Maß absenken. Ich weiß, daß dies für die Beteiligten ein schwieriger Prozeß ist.

 

Der deutliche Rückgang bei den Kuranträgen hat allerdings - für jeden leicht nachvollziehbar - viele Ursachen und könnte zum Teil auch dazu führen, daß die Einsparziele überschritten werden. Deswegen - Sie haben das schon angesprochen, Herr Bürgermeister - wollen wir mit den Beteiligten die daraus entstehenden Schwierigkeiten in den Kurorten lösen. Ich glaube, daß die jetzt laufenden Gespräche bereits einen Stand erreicht haben, daß ich heute - mit aller Vorsicht - sagen kann, daß wir Wege finden, um Schritt für Schritt an dieses Thema heranzugehen und die Probleme nicht eskalieren zu lassen. Das ist kein Versprechen, sondern das ist eine Feststellung. Ich werde mich dafür einsetzen.

 

Auf jeden Fall muß es dabei bleiben: Jeder, der eine Rehabilitationsmaßnahme braucht, soll sie auch in Zukunft bekommen. Jeder, der zur Kur fahren muß, um nach einer Krankheit wieder auf die Beine zu kommen, soll das auch in Zukunft tun können. Der gesetzliche Anspruch der Versicherten auf diese Leistungen wird nicht angetastet.

 

Dennoch - das füge ich hinzu, weil es zur Ehrlichkeit gehört - können die Heilbäder in Deutschland nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Steigungsraten wie in der Vergangenheit zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung und Rentenversicherung wird es in dieser Form nicht mehr geben. Das muß man aussprechen, wenn man ehrlich miteinander umgeht, weil dies schlichtweg nicht mehr finanzierbar ist. Deshalb muß es das Ziel der Heilbäder und ihrer Verbände sein, neue Marktanteile auch durch privat finanzierte Angebote zu gewinnen. Dies erfordert verstärkt Kreativität und Eigeninitiative. Wenn ich das richtig sehe, Herr Bürgermeister, dann waren Sie auf den Spuren von Sebastian Kneipp in dieser Stadt schon etwas weitschauender als einige andere.

 

Meine Damen und Herren, Bad Wörishofen hat alles, was ein Heilbad braucht - eine wunderschöne Natur, eine große Tradition, die die Menschen dieser Stadt durch Generationen hindurch pfleglich behandelt haben, und einen weltweiten Ruf. Sie haben deswegen allen Grund - auch in einer veränderten Zeit mit veränderten Bedingungen -, mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken. Die Erinnerung an Sebastian Kneipp ist nach 100 Jahren gerade in dieser Stadt allgegenwärtig. Das, was er hier schuf, hat Bestand - auch für kommende Generationen. Wir sollten uns - in einer Zeit großer Herausforderungen und knapper finanzieller Ressourcen - die eigentlichen und wesentlichen Gedanken Sebastian Kneipps zueigen machen: Neues anpacken und umsetzen, um damit Zukunft zu gestalten.

 

Meine Bitte an Sie alle ist, daß Sie diese Botschaft Sebastian Kneipps mit weitertragen - seine Botschaft im engeren Sinne auf die Gesundheit bezogen, was der Kneipp-Bund und diese Stadt als Heilbad in besonderer Weise tun. Darüber hinaus aber auch etwas von dem, was ich eigentlich lieber als seine Lebensphilosophie bezeichnen möchte, die etwas zu tun hat mit ganzheitlichem Denken, mit einer Werteordnung, mit einem Koordinatensystem von Tugenden und von dem, was das Leben des einzelnen wie auch das Leben eines Volkes entscheidend mitbestimmt. Wenn wir das Gedenken an den 100. Todestag Sebastian Kneipps so verstehen, dann ist es eine wichtige Botschaft - weit über die heutige Veranstaltung hinaus. Dann können wir - neben der körperlichen Gesundheit - auch ein Stück seelische Gesundheit aus den Lehren von Sebastian Kneipp gewinnen. Das möchte ich uns allen wünschen.

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 58. 7. Juli 1997.