15. Mai 1997

Laudatio des britischen Verlegers George Lord Weidenfeld anlässlich der Verleihung des Leo-Baeck-Preises 1997 des Zentralrates der Juden in Deutschland an Bundeskanzler Kohl in Bonn

 

Ich bin mir der großen Ehre bewußt, heute als Redner vor Ihnen zu stehen, und hoffe, daß ich diese Ehre und das festliche Ereignis nicht mißbrauche, wenn ich gestehe, daß es den Verleger in mir zu einer Buchidee anregt. Mich reizt die Vorstellung eines Symposions imaginärer Dialoge, in dessen Rahmen ein Gespräch zwischen Leo Baeck und Helmut Kohl zustande käme, ein Gespräch zwischen zwei Männern, die über ihre gänzlich verschiedenen Herkünfte und Lebenswege hinweg das leidenschaftliche Engagement für ein breites Spektrum von Werten und Visionen verbindet; es wäre ein Gespräch, das heute, fünfzig Jahre nach dem Krieg, stattfände, und beinahe fünfzig Jahre nach der Gründung des Staates Israel und der Bonner Republik.

 

In der Weltanschauung des deutsch-jüdischen Gelehrten Leo Baeck und des deutschen christlich-demokratischen Politikers Helmut Kohl gibt es viele gemeinsame Leitmotive und Berührungspunkte. Sie machen die Verbindung, die durch diese Preisverleihung symbolisiert wird, nicht nur glaubhaft und zeitgemäß; sie geben ihr auch eine historische Bedeutung.

 

Leo Baeck war ebenso treuer Deutscher wie tief gläubiger Jude, ebenso europäischer Intellektueller wie Weltbürger. Durch das Studium am jüdisch-theologischen Seminar von Breslau hatte er sich ganz in die Wissenschaft des Judentums versenkt. Er war aber auch an den Universitäten von Breslau und Berlin ausgebildet worden. So betrachtete er in den Worten seines Biographen Albert Friedlander "die Tradition Goethes und Kants genauso wie die von Hillel und Akiba, von Halevi und Maimonides als sein eigenes Patrimonium". Er pflegte sich jeden Tag eine Seite des Talmuds vorzunehmen, las aber nebenher auch Platon auf Griechisch, Tertullian auf Lateinisch und Hobbes auf Englisch. Zum Doktor promovierte er bei Dilthey mit einer Arbeit über Spinozas Einfluß auf Deutschland.

 

Leo Baeck war ein deutscher Patriot, der im Ersten Weltkrieg als Feldrabbiner an der Westfront und der Ostfront diente. Er durchlebte die deutsche und jüdische Geschichte der Kaiserzeit, der Weimarer Republik, der Nazi-Ära und des Holocaust. Jeder Strom der deutschen und der jüdischen Tragödie floß durch seine Adern, dennoch verzweifelte er selbst in den schrecklichsten Stunden nie an der Menschheit oder an den Deutschen.

 

Ihm war die Kollektivschuld als Begriff verhaßt. Waren die Juden nicht durch die ganze Geschichte der Diaspora hindurch eine Zielscheibe kollektiver Schmähung gewesen? Andere jüdische Theologen, die den Krieg außerhalb des Höllenkreises erlebten, sind dem tiefen Pessimismus über die Menschheit erlegen. Aber Baeck war kein "Gott-ist-tot"-Theologe. Er bewahrte sich den Glauben an die Humanität.

 

Als Gefangener in Theresienstadt war er viel mehr als jüdischer Seelsorger. Er lehrte die Bibel und gab Vorlesungen über die deutschen Klassiker. Als die alliierten Befreier endlich kamen, wollten sie ihm den Vorzug geben. Sie boten ihm einen Transport mit einem Sonderflugzeug nach London an. Aber Baeck bestand darauf, mit den anderen auszuharren. Er hielt seine Mitgefangenen sogar von Racheakten an den Gefängniswärtern ab.

 

Zeitlebens glaubte er an die Einheit des jüdischen religiösen Lagers. Er litt unter dem Bruderzwist im Hause Israel. Bei der Jahrhundertwende war er einer der ersten Rabbiner, die sich weigerten, den aufstrebenden Zionismus zu verurteilen. Obwohl selber kein engagierter Zionist, war ihm bewußt, daß die Gründung eines Heimatlandes für verfolgte Juden wünschenswert sei und sich mit den Auffassungen des Judaismus vereinbaren lasse.

 

Leo Baeck hatte in vielen Bereichen der deutschen Gesellschaft zahlreiche Freunde außerhalb der jüdischen Gemeinde. Wenn wir heute zurückblicken, vergessen wir leicht, daß es eine Zeit gab, in der es in Deutschland Schichten eines aufgeklärten Bürgertums gab, die mit ihren jüdischen Mitbürgern einig waren und teilweise deren leidenschaftlichen Patriotismus erwiderten.

 

Andererseits muß man der historischen Wahrheit halber sagen, daß sich diese Gefühle nicht die Waage hielten. Gewiß hat die linke Intelligenz in Deutschland den Antisemitismus als den Sozialismus des dummen Kerls abgetan. Doch brachte sie dem religiösen Judentum wenig Sympathie entgegen und predigte vielmehr die Assimilierung. Sie verurteilte den Zionismus nach den abweisenden Worten von Karl Kraus als Versuch, "den Jordan in den Rhein umleiten zu wollen". Leider war das antisemitische Element des Bürgertums und der nationalistisch gesinnten Intelligenz sehr viel lauter zu vernehmen.

 

Die Proteste gegen den Antisemitismus von seiten deutscher Liberaler und Christen haben die Nachdrücklichkeit und die Wirksamkeit des klingenden "J'accuse" von jenseits des Rheines nie erreicht. Es gab keinen Emile Zola, keinen Anatole France und keinen Georges Clemenceau, der sich in den Ring stürzte. Aber dann könnte man wiederum auch sagen, daß das Wilhelminische Deutschland nie eine Cause célèbre wie die Dreyfus-Affäre hatte. Und was das Gewicht und die Häufigkeit der innerdeutschen Proteste gegen die Judenverfolgung des Hitler-Regimes angeht, muß man zugeben, daß das Dritte Reich über wirksamere Unterdrückungsmethoden verfügte als die Dritte Republik.

 

Leo Baeck hat den Holocaust überlebt. In den rund zehn Jahren, die ihm noch blieben, konnte er sich jenen herausragenden wissenschaftlichen Zentren zur Förderung von Forschungen über das deutschsprachige Judentum widmen, die seinen Namen tragen. Als das Schicksal ihn nach Amerika führte, hinterließ er ein vom Krieg verwüstetes Europa und ein dezimiertes europäisches Judentum, von dem er eine Zeitlang glaubte, es sei der Erneuerung nicht mehr fähig. Doch mit der Zeit hat er sich anders besonnen. Er hielt den Kontakt zur winzigen deutschen Gemeinde, bestehend aus Hinterbliebenen und unseligen Neuankömmlingen aus den Todeslagern, und er sprach ihnen Mut zu. Zugleich behielt er die Juden jenseits des Eisernen Vorhanges im Blick.

 

Bei einer Tagung im Jahre 1949, wo es ihm um neue Wege zur Verständigung zwischen Juden und Christen ging, sprach er aber auch die prophetischen Sätze: "Der Islam ist wieder in die unmittelbare, die unvermeidliche Nähe des jüdischen Geistes gerückt. Es besteht die große Hoffnung, daß sie sich vielleicht in der fernen Zukunft - aber die Menschheit lebt von solchen fernen Hoffnungen - verbinden und gemeinsame Wege gehen, sich gemeinsamen Aufgaben widmen, in gemeinsamem Vertrauen. Der Judaismus könnte somit der Brückenbauer werden, der Pontifex zwischen Ost und West."

 

Der Aufstieg des neuen Deutschlands aus der Asche, die Bonner Republik, die Bildung einer neuen politischen Klasse, das Wiederaufkommen eines neuen freiheitlichen Geistes und pragmatischen Humanismus - diese Entwicklungen haben ein eindeutig neues Kapitel in den Beziehungen zwischen Deutschen und Juden geöffnet. Langsam und zögernd wurde der Versöhnungsprozeß eingeleitet. Aber wie so oft in der Geschichte kam diese positive Entwicklung nicht von alleine zustande. Es standen ihr viele Hürden, Hemmungen und unermeßliche Bitterkeit im Weg. Daß dieser Prozeß überhaupt zustande kam, ist zum großen Teil dem Einsatz von zwei großen Männern zu verdanken: Konrad Adenauer und David Ben-Gurion, denen Nahum Goldmann als Mittler diente.

 

Konrad Adenauer diesen Prozeß als "eine vornehme Pflicht" bezeichnet. Die nachfolgenden deutschen Regierungen haben die Herausforderung aufgegriffen, unterstützt von einer willigen politischen Klasse sowie zunehmend breiten Teilen der Bevölkerung, insbesondere der jüngeren Generation. Niemand hat jedoch so viel Entschlossenheit, Engagement, Durchhaltevermögen und Wirksamkeit an den Tag gelegt wie der Mann, den wir heute ehren: der am längsten dienende Bundeskanzler des demokratischen Deutschlands. In der Ära Kohls sind die Beziehungen zwischen Deutschen und Juden wärmer gewesen denn je zuvor in ihrer tausendjährigen Geschichte - und ich sage dies mit voller Überzeugung.

 

Der Bundeskanzler hat all die Kräfte in diesem Land, die für Versöhnung und den Neuanfang stehen, eingespannt und gefördert - eine Versöhnung, die auf Gedenken, auf mitfühlendem Verständnis beruht. Wenn ich ihn zitieren darf, verdankt Helmut Kohl seiner Mutter, daß sie ihm Werte eingeflößt hat, die abwichen von dem, was ihm in der Schule auferlegt wurde. Er hat es so formuliert: "Sie war eine fromme katholische Frau, und sie erzog mich zur Achtung vor dem Judentum - in einer Zeit, in der an den Schulen etwas ganz anderes gelehrt wurde. Mit ihr habe ich damals das erste Mal den Wormser Judenfriedhof besucht; von weitem haben wir die zerstörte Synagoge gesehen. Nach dem Krieg - als ich Martin Buber kennenlernte - habe ich begriffen, welch wunderbares Geschenk es ist, daß deutsche Juden auch nach der Katastrophe bereit waren, den Traum einer gemeinsamen Zukunft von Juden und Christen in diesem Land zu träumen."

 

Das Studium der Geschichte hat in Helmut Kohl den Glauben an eine pluralistische Gesellschaft genährt und ihn von den Übeln des Nationalismus überzeugt. In Anlehnung an Martin Buber sagt er, daß Humanismus und Nationalismus wie Feuer und Wasser sind. Das ist der Kern seiner europäischen Vision. In einem vereinten Europa gibt es keinen Platz für den virulenten Nationalismus.

 

Wer seine Reden kennt oder sich mit ihm unterhalten hat, weiß, wie tief Helmut Kohl davon überzeugt ist, daß ein fragmentiertes, unvereintes Europa nicht in der Lage wäre, den Turbulenzen des kommenden Jahrhunderts zu begegnen. Es würden sich alte Wunden öffnen, es würden ethnische Spannungen wieder aufflammen. Alte Dämonen würden durch die politische Landschaft spuken. In der neuen Machtkonstellation des 21. Jahrhunderts könnte nur ein vereintes Europa die nötige Stärke zeigen, um sich gegen die neuen Gefahren und Bedrohungen zu behaupten.

 

Ein vereintes Europa wäre nicht nur gut für die Deutschen, sondern auch für die Juden. Durch eine Verkettung des Schicksals von Deutschen und Juden haben das Ende der Trennung von Europa und die Deutsche Einheit auch zum Abbau der Barrieren zwischen dem West- und dem Ostjudentum geführt. Das jüdische Gemeindeleben lebt wieder auf, die Menschen haben Bewegungsfreiheit nicht nur im demokra-tischen Westen des Kontinents, sondern auch in den Ländern des einst kommunistischen Ostens, denen die Bürgerrechte erst vor kurzem erteilt worden sind.

 

Wenn es heute von Manchester bis Moskau, von Riga bis Baku so etwas wie ein europäisches Judentum gibt, ist es der Deutschen Einheit - Helmut Kohls großer Leistung - zu verdanken. Gewiß ist das osteuropäische Judentum noch fragil und von existentiellen Fragen bedrängt. Aber kein objektiver Beobachter kann leugnen, daß für die Juden dort heute viel mehr Hoffnung besteht auf ein würdiges Dasein, auf bürgerliche Freiheit und auf die Möglichkeit zu entscheiden, ob sie in ihrer gegenwärtigen Umgebung bleiben wollen, ob sie nach Israel auswandern, nach Übersee oder nach Deutschland ziehen sollen.

 

Gerade diese Fähigkeit zu wählen, wird jetzt im Gegensatz zu früher von differenziert denkenden Juden überall anerkannt, sogar unter überzeugten Zionisten in Israel. In den Anfangsstadien des jüdischen Staates gab es dort einen völlig verständlichen Drang, "sämtliche Exilierte einzusammeln". Man sah dem Wiederaufbau oder der bloßen Existenz jüdischer Gemeinden in Deutschland mit Mißtrauen entgegen. Aber diese Gefühle sind einem größeren Verständnis für die Vorteile der Flexibilität gewichen.

 

Seitdem Helmut Kohl Bundeskanzler ist, hat sich die deutsch-jüdische Gemeinde verdoppelt. Von 30000 Mitgliedern im Jahre 1990 ist die Zahl auf mehr als 60000 Personen gestiegen. Das hat natürlich zum großen Teil mit der Einwanderung aus Rußland zu tun. Es bestehen fast 40000 zusätzliche Aufnahmezusagen der Länder. Die Zahl der Gemeinden ist von fünfundsechzig auf mehr als achtzig angewachsen, und die siebzig Synagogen sind in vollem Einsatz. Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, daß diese Stätten nicht Museen sind. Vielmehr müßten sie wieder eine zentrale Rolle im jüdischen Leben einnehmen.

 

Die pädagogischen und wissenschaftlichen Einrichtungen haben auch einen bemerkenswerten Zuwachs erlebt. In den wichtigsten Zentren gibt es jüdische Grund- und höhere Schulen: Heidelberg hat eine Hochschule für Jüdische Studien; Berlin hat ein Gymnasium und eine Realschule.

 

In allen neuen Bundesländern, wie auch im Altbundesgebiet, sind Repräsentanten jüdischer Gemeinden in das öffentliche Leben einbezogen. In den neuen Bundesländern, insbesondere in Sachsen und in Thüringen, haben jüdische Kulturtage schon einen festen Platz im Kulturleben des Landes. Vielfältige Gruppierungen werden im christlich-jüdischen Bereich zur Förderung jüdischer Kultur und Tradition zunehmend wirksam. Das gilt auch für neue Universitätsstrukturen, so zum Beispiel das Einstein-Forum und das Moses-Mendelssohn-Zentrum, das Simon-Dubnow-Institut in Leipzig und die neuen Lehrstühle für Judaistik in Potsdam und in Halle.

 

Gemessen an ihrer Größe hat die kleine jüdische Gemeinde Erstaunliches geleistet, indem sie eine neue Generation ausgebildet und das Interesse am kulturellen jüdischen Erbe wieder erweckt hat. Die zweite Generation deutscher Juden, die seit dem Krieg in Deutschland geboren worden sind, hat eine bemerkenswerte Zahl ausgezeichneter Männer und Frauen in den akademischen Berufen und im künstlerischen Bereich, in der Wirtschaft und im öffentlichen Leben hervorgebracht.

 

Daß die deutsch-jüdische Gemeinde heute den Respekt ihrer Mitbürger und der jüdischen Gemeinde weltweit gewonnen hat, ist zu einem nicht geringen Anteil Ignatz Bubis zu verdanken. Er ist ein unermüdlicher Brückenbauer, der, wo es sein muß, furchtlos gegen Vorurteile kämpft, aber zugleich ein verständnisvolles Entgegenkommen von seiten der nichtjüdischen Mitbürger anerkennt.

 

Der deutsche Bundeskanzler hält enge Verbindungen zur jüdischen Gemeinde aufrecht. Ihm liegt viel daran, daß diese Gemeinde gedeiht. Kaum ein wichtiger Gedenktag oder ein großes Ereignis im jüdischen Leben vergeht, ohne daß sie von Bundeskanzler Kohl wahrgenommen werden. Bei Auslandsreisen trifft er sich mit führenden Juden, und deutsche Botschaften pflegen freundschaftliche Kontakte zu verschiedenen Bereichen der jüdischen Gemeinden.

 

Der Historiker in Kohl hat einen tiefen Sinn für die Rolle des jüdischen Bildungsbürgertums als wesentlichem Bestandteil der deutschen Kultur seit der Aufklärung. Für ihn ist, wie er hervorhebt, die Geschichte der Juden in Deutschland Teil der ganzen deutschen Geschichte - und zwar ein sehr wichtiger Teil. Und er fügt hinzu: "Es sind gerade die besten, die freiheitlichen Traditionen unseres Landes, zu denen zahlreiche Juden maßgeblich beigetragen haben."

 

Diese Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und dem Staate Israel sind einzigartig, "nicht normal" im engeren Sinne des Wortes. Wie könnte es anders sein? Unter der Ägide Helmut Kohls hat sich ein derart freundliches und warmes Verhältnis entwickelt, daß Deutschland heute neben den Vereinigten Staaten der wichtigste Partner und Verbündete Israels ist. Das wird auch von israelischer Seite hervorgehoben.

 

In die Fußstapfen Konrad Adenauers tretend, setzt der Bundeskanzler drei Prioritäten: die Freundschaft zu Frankreich, Aussöhnung mit Polen und die Versöhnung mit den Juden und dem Staate Israel. Es gibt viele Marksteine in dieser deutsch-jüdischen Beziehung. Wir wissen alle über die beträchtlichen materiellen Wiedergutmachungen auf verschiedenen Gebieten Bescheid.

 

Wissenschaftliche Zusammenarbeit wächst ständig, und die Arbeit wird immer intensiver. Was Wirtschaft und Industrie betrifft, ist der Bundeskanzler die treibende Kraft hinter dem wachsenden Handelsvolumen und den Investitionen. Bei seinem Israel-Besuch hat er eine Gruppe führender deutscher Industrieller mitgenommen und starken Anteil an ihren Projekten und Verhandlungen genommen.

 

In der jüdischen Welt, insbesondere im amerikanischen Judentum, weiß man vielleicht nicht zu schätzen, welchen Beitrag Bundeskanzler Kohl als Fürsprecher der Interessen Israels in der Europäischen Union geleistet hat. So hat er in dem Kampf um die Anerkennung Israels als außerordentlichem wirtschaftlichen Mitglied eine führende Rolle eingenommen. Er hat sich für eine europaweite Gesetzgebung gegen einen Wirtschaftsboykott Israels eingesetzt. Als ihm dieser Versuch mißlang, hat er sich für einen Alleingang entschieden, trotz der Widerstände aus der Industrie.

 

Helmut Kohl beschäftigt sich auch mit der israelischen Sicherheitspolitik. Schon 1973, als er noch Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz war, aber schon Vorsitzender der CDU, ist er energisch für Israel eingetreten. Während des Golfkrieges 1991 hat er ähnliches Verständnis für die Bedürfnisse des israelischen Verteidigungsapparates gezeigt. Dennoch hat er sich mit seiner offenkundig aufrichtigen Friedenspolitik im Nahen Osten das Vertrauen nicht nur Israels, sondern auch der meisten arabischen Staaten bewahrt.

 

Die Völker im Nahen Osten sehen ihn heute als den wohl wirksamsten europäischen Gesprächspartner an. Und es ist bezeichnend, daß Israelis und Araber sich oft einen deutschen Treffpunkt aussuchen, wenn sie sich in Krisensituationen zu informellen Diskussionen versammeln. Aber die Versöhnung ist eine zarte Pflanze, die noch harten Witterungen ausgesetzt sein könnte. Israel und die Bundesrepublik sind pluralistische Gesellschaften, und Pluralismus heißt manchmal Nichtübereinstimmung.

 

Die große Debatte über das Dritte Reich und den Holocaust setzt sich von einer Generation in die andere fort. Es treten unvermeidlicherweise immer neue Tatbestände auf, neue Interpretationen und Einsichten, die sich nicht nur auf Deutschland beziehen. Sie betreffen das Verhalten fast jeder Nation in Ost und West, sei sie am Krieg beteiligt oder neutral gewesen in der schrecklichen Zeit der Diktaturen. Die Debatten sind ebenso notwendig wie nützlich. Und solange sie mit wissenschaftlicher Objektivität geführt werden und solange eine verantwortliche Berichterstattung in den Medien stattfindet, können diese Debatten einen wichtigen Beitrag leisten.

 

Die Welt hat anerkannt, daß die Flammen des Extremismus im Deutschland Helmut Kohls viel schwächer flackern als in anderen europäischen Ländern. Heute ist kein einziger Führer der extremen Rechten im Bundestag. Dank einer funktionierenden Bürgergesellschaft und einer humanistischen Regierung hält das moralische Immunsystem der Deutschen gegen die Viren des brutalen Rassismus und des anarchischen Terrors stand.

 

Als Untertan Ihrer Britannischen Majestät kann ich mich natürlich nicht in die deutsche Innenpolitik einmischen. Doch als Europäer und als Jude kann ich Helmut Kohls Entschluß nur begrüßen, sich noch einmal zur Wahl zu stellen, um sein Land durch die nächsten Stufen des großen europäischen Unternehmens zu steuern. Denn ich gehöre zu denen, die glauben, seine europäische Vision ruht auf der Überzeugung, daß die großen Ideale der Menschheit, die Durchsetzung der Menschenrechte, die Toleranz und die Akzeptanz ethnischer und religiöser Minderheiten, in einem vereinten Europa wirksamer verankert und gesichert werden können als in einem fragmentierten System nationalistischer Staaten.

 

In dieser Hinsicht trifft sich die Vision des Bundeskanzlers mit den wahren Interessen des jüdischen Volkes und mit den Hoffnungen und Zielen, die Männer wie Leo Baeck ihr Leben lang gehegt haben. Wäre dieser illustre deutsch-jüdische Weise heute hier zugegen, würde zwischen ihm und dem deutschen christlich-humanistischen Staatsmann tiefe Übereinstimmung herrschen. Wer kann daran zweifeln? Zu diesen zwei Männern, deren Namen in dieser Feier verbunden sind, fallen mir die Worte eines berühmten Historikers ein. In seinen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" hat Jacob Burckhardt geschrieben: "Sprichwörtlich heißt es: ,kein Mensch ist unersetzlich' - aber die wenigen, die es eben doch sind, sind groß". Diese Worte gelten für Leo Baeck. Sie gelten auch für Helmut Kohl.

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 41. 26. Mai 1997.