15. Mai 1998

Rede anlässlich des 13. Ordentlichen Bundesverbandstages des Verbandes der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten und Rentner Deutschland e.V. in Bonn

 

Lieber Herr Präsident Hirrlinger,
Herr Ministerpräsident,
meine Damen und Herren Abgeordneten,
verehrte Delegierte, meine Damen und Herren,

 

zunächst möchte ich mich für die Einladung bedanken, heute hier zu Ihnen zu sprechen. Ich bin immer gerne zu Ihrem Verbandstag gekommen. Es war auch immer ein gutes und intensives Gespräch. Wer mit Ihrem Präsidenten redet - ich habe das schon bei vielen Begegnungen, nicht nur bei Verbandstagen erlebt - der weiß: Da verbinden sich schwäbischer Charme und große Energie in der Vertretung der Interessen der Mitglieder Ihres Verbandes. So will ich Ihnen herzlich danken, Herr Hirrlinger - auch für manche Auseinandersetzungen. Auch das gehört zum politischen Leben. Ich möchte Ihnen auch zu Ihrem hervorragenden Wahlergebnis gestern gratulieren. Die hohe Stimmenzahl spricht sehr für Sie, für Ihre Arbeit und für das Vertrauen, das Sie sich erworben haben. Sie sitzen immerhin seit 1982 in der Verbandsspitze, in späteren Jahren dann als Präsident. Sie merken, das Jahr 1982 ist ein gutes Jahr.

 

Ich möchte mich auch bei den zahlreichen haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verbandes der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten und Rentner Deutschland e.V. (VdK) bedanken, ohne die eine solche Arbeit gar nicht möglich wäre. Man kann, meine Damen und Herren, gar nicht oft genug betonen: Ohne die vielen Frauen und Männer, die in Deutschland ein Ehrenamt ausüben - sei es im sozialen Bereich, sei es im Bereich der Kirchen, des Sports oder des kulturellen Lebens -, wäre unser Land um vieles ärmer und unser Gemeinwesen so nicht denkbar. Deswegen schulden wir Ihnen Respekt und Anerkennung. Das, was Sie hier tun, ist ein Stück gelebte Nächstenliebe, indem Sie schlicht und einfach für andere da sind, mit ihnen sprechen und helfen. Ein herzliches Dankeschön dafür!

 

Meine Damen und Herren, der VdK repräsentiert eine Generation unseres Volkes, die besonders schmerzlich erfahren hat, welches Elend und welches Leid der Verlust von Frieden und Freiheit über die Menschen bringt. Wenn ich die Zahl richtig behalten habe, Herr Präsident Hirrlinger, gehört immerhin etwas mehr als ein Drittel der Mitglieder des VdK - das wird beim Reichsbund ähnlich sein - jener Generation an, die wir die "Kriegsgeneration" nennen. Es ist wichtig - das ist mein Wunsch an Sie -, daß diese Generation ihre Erfahrungen an die Generation ihrer Kinder und - was vielleicht noch wichtiger ist - an die Generation ihrer Enkel weitergibt.

 

In zwei Jahren geht dieses Jahrhundert zu Ende. Dies ist ein Jahrhundert, das in Europa zwei Gesichter gezeigt hat, die unterschiedlicher nicht sein könnten. In der ersten Hälfte war es von den schlimmsten Kriegen gekennzeichnet, die die Menschheit je erlebt hat, von zwei Diktaturen - eine braune und nachfolgend eine rote, die auch noch in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts überging - und von zwei Inflationen, durch die viele Menschen ihr ganzes Vermögen verloren. Die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts aber ist - zunächst nur in einem Teil unseres Kontinents - geprägt von Frieden und Freiheit, von Partnerschaft und Offenheit und nicht zuletzt vom Geschenk der Deutschen Einheit. Heute hat die junge Generation die großartige Chance, daß das 21. Jahrhundert eine Zeit des Friedens und der Freiheit wird. Dafür dürfen wir dankbar sein.

 

Viele in diesem Saal haben dies alles miterlebt. Wir wissen: Diese tiefgreifenden Änderungen haben viele Gründe - an erster Stelle aber steht die Einigung Europas. Deswegen ist es wichtig, meine Damen und Herren, daß wir jetzt gemeinsam das Haus Europa bauen. Natürlich wird dieses Haus Europa vor allem den jungen Menschen zugute kommen. Europa ist aber nicht nur eine Sache der Jungen. Sie, die Älteren, die auch hier im Saal sind, haben daran mitgebaut, wie Sie auch am Wiederaufbau unseres Vaterlandes nach dem Krieg mitgearbeitet haben. Europa ist Ihr Vermächtnis an die Jugend, und ich bitte Sie mitzutun, daß die Erfahrungen weitergegeben werden.

 

Wir müssen jetzt den Bau des Hauses Europa voranbringen. Ein zentraler Baustein ist die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Ich sage es sofort zu Beginn klar und deutlich, weil ich weiß, daß es hier bei älteren Menschen manche Sorgen gibt: Die Währungsunion mit der Umstellung auf den Euro bedeutet keinerlei Veränderung Ihrer Rente. Die Renten werden auch nach der Einführung des Euro nicht weniger wert sein als davor. Auch die Ersparnisse behalten selbstverständlich ihren Wert.

 

Es ist unser gemeinsames Ziel in Europa, daß dieser Euro eine stabile Währung ist. Das ist gerade für uns Deutsche von elementarer Bedeutung. Wir haben noch jenen Sommer in Erinnerung, der sich in ein paar Wochen zum fünfzigsten Mal jährt, als die D-Mark kam und ihr als Währung von vielen keine Chancen gegeben wurden. Daß aber die D-Mark nach dem Dollar und dem Yen zu dieser stabilen Währung geworden ist, war das Ergebnis der Arbeit von Millionen Männern und Frauen aus den Generationen dieser Zeit. Deswegen haben wir - Herr Präsident, Sie haben dieses Thema bereits angesprochen - den Europäischen Stabilitätspakt durchgesetzt und die notwendigen Entscheidungen zur Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank getroffen, die zuallererst der Währungsstabilität verpflichtet ist.

 

Die Zeichen stehen gut, meine Damen und Herren. Als 1991 der Vertrag von Maastricht beschlossen wurde, hatten wir in Europa einen durchschnittlichen Preisanstieg von fast sechs Prozent. Jetzt liegt die Inflationsrate bei eineinhalb Prozent - ähnlich wie hier bei uns in der Bundesrepublik. Wer über Sozialpolitik redet, der muß vor allem davon reden, daß Preisstabilität Sozialpolitik im besten Sinne des Wortes ist: Millionen Rentner und Leute mit kleinen Einkommen können sich auf die stabile Kaufkraft ihrer Einkommen verlassen.

 

Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt, daß wir mit dem pünktlichen Start des Euro zum 1. Januar 1999 mit elf Teilnehmerländern in Europa - und vor allem auch mit der Erwartung, daß in den kommenden Jahren weitere Länder hinzukommen werden - eine riesige Chance haben. Dieser Markt Europa, dieses europäische Haus mit seiner ökonomischen und finanziellen Kraft, wird sogar größer sein als der US-Binnenmarkt. Der Euro ist die richtige Antwort der Europäischen Union auf die Globalisierung und schafft uns Zukunft in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht.

 

Es geht jetzt darum, daß Deutschland auf diese Entwicklungen gut vorbereitet ist. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß sich die Welt, in der wir leben, dieses Europa und unsere eigene Gesellschaft dramatisch verändern. Dies erfordert von uns allen ein Umdenken und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen. Wir müssen sehr klug abwägen - auch in der Sozialpolitik, die Sie angesprochen haben, Herr Präsident -, was wir in diesen Jahren und Jahrzehnten gemeinsam geschaffen haben und was tragfähig ist, was wir angesichts der Veränderungen in der Welt aber daran auch ändern müssen, um Zukunft zu haben.

 

Bei allen vor uns liegenden Problemen haben wir vor allem großartige Chancen, die es zu nutzen gilt. Aber nutzen müssen wir sie. Dazu brauchen wir neben Mut, Entschlossenheit und Fleiß vor allem auch realistischen Optimismus. Und ich bin sicher: Wir haben alle Voraussetzungen, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern.

 

Unser Standort hat wichtige Aktivposten. Unsere politische Ordnung ist stabil. Daß sich die beiden Vorsitzenden von SPD und CDU heute nicht gegenseitig mit Komplimenten überschütten, ist ganz klar. Das hat auch niemand erwartet. Aber die Grundpositionen unserer Gesellschaft in der freiheitlichen Demokratie sind doch ganz eindeutig. Deswegen sage ich ebenso klar: Auch wenn bei einer Landtagswahl eine rechtsradikale Gruppe aus irgendeiner Gesinnung oder Verbitterung heraus Unterstützung gefunden hat, ist dies nicht die Bundesrepublik Deutschland.

 

Im Hinblick auf die wirtschaftliche und damit auch auf die soziale Ordnung unseres Landes ist es wichtig, daß wir unseren Platz als eine der großen Industrienationen und - nach den USA - zweitgrößte Exportnation der Welt halten. Es ist eine der größten Erfolge der jüngsten Zeit, daß wir die Weltmarktanteile, die wir zum Teil verloren hatten, jetzt wieder zurückgewonnen haben. Investoren aus der Welt kommen wieder nach Deutschland zurück und produzieren vor allem wieder bei uns. Dies alles ist für mich ein entscheidendes Signal, daß das Vertrauen in den Standort Deutschland wächst.

 

Wir werden in diesem Jahr - auch das ist ein unübersehbarer Erfolg - eine Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts von zweieinhalb bis drei Prozent haben. Die Auftragseingänge nehmen - zunächst im Export - zu. Auch das ist erfreulich, denn ohne die Auftragseingänge im Export und im Gefolge davon auch in der Binnenkonjunktur können wir nicht das erreichen, was wir erreichen müssen: neue, sichere Arbeitsplätze.

 

Meine Damen und Herren, diese Erfolge wirken sich positiv auf den Arbeitsmarkt aus. Im vergangenen Monat hatten wir den stärksten Rückgang der Arbeitslosigkeit in einem April seit der Wiedervereinigung. Das Thema der Arbeitslosigkeit ist nicht ein Thema einer statistischen Größe. Wenn wir gemeinsam über Arbeitslose reden, verbinden wir mit dem Arbeitsplatz auch die Lebenschance von Menschen: für den eigenen Broterwerb, für die Stärkung ihres Bewußtseins, gebraucht zu werden. Das ist ganz wichtig. Das ist auch ein Stück des inneren Halts im sozialen Umfeld, in dem sie - zu Hause in ihren Familien, bei ihren Freunden - leben. Deswegen bleibt die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die innenpolitische Aufgabe Nummer eins. Wir haben bereits deutliche Fortschritte in den alten Bundesländern. Das kann jeder erkennen. Leider geht die Schere im Hinblick auf die neuen Bundesländer noch auseinander, obwohl sich die Dinge auch dort zu verbessern beginnen.

 

Meine Damen und Herren, damit mehr neue Arbeitsplätze entstehen, müssen wir die Wachstumsdynamik und Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes weiter stärken. Wir brauchen vor allem dringend eine umfassende Steuerreform. Sie ist schon deswegen zwingend, damit wir die notwendigen Investitionen ins Land bekommen. Ich habe mit großem Interesse gehört, was der Vorsitzende der SPD mit Hinweis auf Österreich gesagt hat. Wenn wir das, was die Österreicher im Steuerrecht getan haben, mit in unsere Perspektive einbeziehen, Herr Ministerpräsident, dann können wir uns annähern - ohne große Koalition, sondern als Akt der Vernunft. Denn jetzt haben wir ja das Ärgernis, daß die österreichische Landesregierung - etwa in der Nachbarregion Vorarlberg - württembergische Betriebe vor allem mit dem Hinweis auf günstigere Steuersätze dort abwirbt. Ich habe keinen Zweifel daran, daß die Steuerreform kommen wird. Sie, die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, werden dabei mit entscheiden, in welchem Umfang sie auch eine Steuerreform der politischen Mitte sein wird. Deswegen kämpfen wir für diese notwendigen Entscheidungen.

 

Herr Präsident Hirrlinger, ich möchte in diesem Zusammenhang noch einen Satz zu einem Thema sagen, das für Sie, wie ich weiß, sehr wichtig ist: Es muß dabei bleiben, daß auch in Zukunft die Kriegsopferrenten nicht besteuert werden. Das habe ich gleich zu Beginn der Arbeiten am Steuerreformkonzept so gesagt - und bei dieser Entscheidung bleibt es!

 

Meine Damen und Herren, ich bekenne mich zur Sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards und damit auch zum Sozialstaat deutscher Tradition. Das soziale Netz gewährleistet die Sicherheit, auf deren Grundlage der einzelne Wandel wagen kann. Wettbewerb auf der einen Seite, der notwendig ist, und sozialer Ausgleich auf der anderen Seite sind - wenn Sie so wollen - zwei Seiten derselben Medaille.

 

Ich bin stolz darauf, hier auch als Vorsitzender der Christlich Demokratischen Union Deutschlands zu stehen, die in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland alle grundlegenden Sozialgesetze geschaffen hat - angefangen von der Rentenreform unter Konrad Adenauer über die Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung bis hin zur Pflegeversicherung und zur Altersteilzeit. Das sind Beispiele einer gelebten Politik der Sozialen Marktwirtschaft.

 

Meine Damen und Herren, es ist auch wahr, daß wir den Sozialstaat in den vergangenen Jahren - entgegen manchen Parolen - nicht abgebaut, sondern ihn fortentwickelt und zukunftsfähig gemacht haben. Sie kennen die Finanzlage des Landes und wissen, was wir getan haben. Wenn wir über den Sozialstaat in Deutschland reden, dann rede ich auch über die soziale Leistung, die wir beispielsweise bei der Wiedervereinigung Deutschlands für die Rentner in den neuen Ländern erbracht haben. Auch das gehört zur Wirklichkeit. Wenn Sie zu diesem Punkt pfeifen, dann nehmen Sie bitte nicht das Wort "Solidarität" in den Mund. Denn Solidarität heißt für mich - ich bin für diesen Zwischenruf sehr dankbar -, daß wir eine gemeinsame deutsche Geschichte haben und daß unsere Landsleute in Frankfurt an der Oder nicht zu vertreten haben, daß sie wegen der Entwicklung nach dem Ende der braunen Diktatur und dem verlorenen Krieg auf die Schattenseite deutscher Geschichte geraten sind. Wir sind ein Volk und haben auch eine soziale Verpflichtung für das ganze Volk.

 

Meine Damen und Herren, jede dritte in der Bundesrepublik erwirtschaftete Mark wird im Bereich der Sozialpolitik ausgegeben. 1996 betrugen die Aufwendungen für soziale Leistungen von Staat und Arbeitgebern rund 1,24 Billionen D-Mark. Wenn Sie das mit den anderen Ländern Europas vergleichen, werden Sie unschwer erkennen, daß wir hier eine Spitzenposition haben. Angesichts dieser Zahlen von einer Zerstörung des Sozialstaates zu sprechen, ist geradezu absurd.

 

Ich sage es noch einmal: Solidarität und Eigenverantwortung sind unsere Prinzipien. Wer die Soziale Marktwirtschaft, wie wir sie verstehen, auch in Zukunft will, der will weder einen allumfassenden Versorgungsstaat noch eine kalte Ellenbogengesellschaft. Wir dürfen aber die wirtschaftlichen Grundlagen unseres Sozialstaates nicht gefährden. Deshalb waren die Maßnahmen und Reformen der letzten Jahre notwendig.

 

Meine Damen und Herren, die objektiven Tatsachen sind nicht wegzudiskutieren. An erster Stelle ist der demographische Wandel in unserer Bevölkerung zu nennen. Die Entwicklung der Bevölkerungspyramide bringt dramatische Konsequenzen mit sich. Es ist eine Tatsache, die die Deutschen in freier Entscheidung bewirkt haben - ich kritisiere sie auch nicht -, daß wir auf der einen Seite neben den Italienern und den Spaniern das Land mit der niedrigsten Geburtenrate sind und daß auf der anderen Seite - was höchst erfreulich ist - nicht zuletzt aufgrund medizinischer Entwicklungen die Menschen immer älter werden - und das bei beachtlicher Gesundheit. Die Lebenserwartung des Mannes liegt nunmehr bei 76 Jahren und der Frau bei 78 Jahren. Das alles muß Konsequenzen für die sozialen Sicherungssysteme haben. Wir müssen die Rente und den Lebensabend der Älteren sichern. Die Rente ist ja keine milde Gabe des Staates, sondern der Gegenwert einer Lebensleistung, die erbracht wurde. Auf der anderen Seite müssen wir heute den jungen Menschen die Frage beantworten: "Wie wird es bei mir, wenn ich jetzt 20 bin, im Jahr 2050 sein?"

 

In Deutschland leben heute 13 Millionen Menschen, die über 65 Jahre alt sind. In wenigen Jahrzehnten werden es 19 Millionen sein. Das heißt, daß dann mehr als ein Viertel der Bevölkerung zu dieser Generationsgruppe gehört. Gleichzeitig haben wir immer noch die Situation, daß der männliche Absolvent einer deutschen Hochschule in der Regel zwischen 29 und 30 Jahren ins Berufsleben eintritt - in diese Zeit fällt natürlich auch der Ersatzdienst oder Wehrdienst - und mit 60 oder 62 aus dem Berufsleben ausscheidet. Bei einer Lebenserwartung von 75 bis 76 Jahren heißt das, daß 45 Jahre Ausbildung und Rente oder Pension 30 Jahren Erwerbsleben und entsprechende Einkünfte gegenüberstehen. Jeder wird merken: Die Rechnung kann nicht aufgehen.

 

Deswegen war die Rentenreform mit der Einfügung des demographischen Faktors in die Rentenformel zwingend notwendig. Dieser Schritt hat das Ziel, die Lasten der gestiegenen Lebenserwartung zu gleichen Teilen auf Beitragszahler und Rentner zu verteilen. Ich bin dem VdK und seinem Präsidenten Hirrlinger dankbar dafür, daß er sich in der manchmal sehr aufgeregten öffentlichen Diskussion immer klar und deutlich zur Notwendigkeit einer solchen Korrektur bekannt hat. Um es jedoch noch einmal klar zu sagen: Die Renten werden nicht gekürzt, sondern sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit künftig langsamer steigen. Wer etwas anderes behauptet, meine Damen und Herren, der sagt nicht die Wahrheit.

 

Es gibt auch mit mir und mit uns keine sogenannte Minusanpassung. Das ist ausdrücklich im Gesetz so geregelt - und dabei wird es auch bleiben. Der Bund steht ohne Wenn und Aber zu seiner Verantwortung für die Rentenversicherung. Wir haben in diesen Jahren unser finanzielles Engagement zugunsten der Rentenversicherung sogar kräftig und aus guten Gründen, die zu verantworten sind, ausgeweitet. Der Bundeszuschuß erhöht sich dadurch um 9,5 Milliarden D-Mark in diesem Jahr und um mehr als 15 Milliarden D-Mark in den kommenden Jahren. Es wird heute viel über versicherungsfremde Leistungen gesprochen. Aber es wird nicht zur Kenntnis genommen, was wir als Bundeszuschuß bereits an die Rentenversicherung zahlen. In diesem Jahr sind dies über 96 Milliarden D-Mark und im nächsten Jahr 102 Milliarden D-Mark. Es kann keine Rede davon sein, daß der Bund oder die Bundesregierung sich von der öffentlichen Verantwortung für diesen wichtigen Teil der Sozialpolitik verabschiedet haben.

 

Meine Damen und Herren, ich weiß, wie sehr jetzt auch die Frage einer steuerfinanzierten einheitlichen Grundversorgung in die Diskussion gekommen ist. Ich war auf Ihre Ausführungen dazu sehr gespannt, Herr Ministerpräsident. Wenn das, was Sie jetzt sagen, die Meinung Ihrer Partei wird, dann werden wir das ja in den nächsten Wochen hören. Gegenwärtig lese ich jeden Tag anderes von dem - im Falle eines Wahlsieges - in Aussicht genommenen zukünftigen Arbeitsminister und auch von Ihrem Spitzenkandidaten. Wenn Sie dazu beitragen - das ist meine Bitte an Sie -, die Sache klarzustellen, kommen wir zu einer sehr viel besseren Diskussion dieser Fragen in den nächsten Wochen. Denn eine Grundrente - da sind wir uns einig - ist leistungsfeindlich. Sie bestraft diejenigen, die ihr Leben lang fleißig gearbeitet haben. Denn in einem solchen System - das muß man ehrlich aussprechen - erhalten sie im Alter nicht mehr als die Aussteiger, die nichts oder nicht so viel geleistet haben. Das ist zutiefst ungerecht.

 

Ich weiß, daß die Veränderungen im Bereich der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente und die Anhebung der Altersgrenze bei Ihnen auf Widerstand stoßen. Ich bitte Sie, aber auch folgendes zu bedenken: Die bisherige Rentenregelung bei eingeschränkter Erwerbsfähigkeit war in vielen Fällen nur eine verdeckte Form der Arbeitslosenversicherung. Das legen wir nun offen und weisen das Risiko der Arbeitslosigkeit der Bundesanstalt für Arbeit zu. Ich möchte Sie vor allem auch darauf hinweisen, daß es sehr schwer möglich war und ist, besondere Altersgrenzen für bestimmte Personengruppen, wie beispielsweise Arbeitslose, anzuheben, die Altersgrenze für Behinderte aber unangetastet zu lassen.

 

Wir haben in der Rentenreform auch eine zukunftsweisende Leistungsverbesserung beschlossen, von der allerdings viel zu wenig gesprochen wird. Ich denke an die Anrechnung der Kindererziehungszeiten, die verbessert wurde. Dies ist ein echter Fortschritt für acht Millionen Mütter, die Leistungen aufgrund von Kindererziehungszeiten erhalten. Diese Verbesserungen führen dazu, daß viele Frauen in Zukunft trotz der Einführung des demographischen Faktors eine Rente erhalten, die höher ist, als sie es ohne Rentenreform wäre.

 

Meine Damen und Herren, auch zur Gesundheitsreform gab es keine Alternative. Wir haben in Deutschland eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Das gilt für die Qualität der medizinischen Versorgung. Das gilt für den sozialen Schutz der Versicherten. Dank des medizinischen Fortschritts steigt - ich sagte es bereits - die Lebenserwartung. Wahr ist aber auch, daß die Beitragssätze nicht weiter steigen können. Deswegen war es unumgänglich, mit der Gesundheitsreform die Gestaltungsräume der Sozialversicherung zu erweitern, aber auch die Eigenverantwortung der Versicherten zu stärken. Die Reform ist erfolgreich. Ohne Gesundheitsreform hätten wir heute bereits ein Defizit von über zehn Milliarden D-Mark. Das Ergebnis wären steigende Beitragssätze gewesen. Diejenigen, die jetzt sagen, daß sie alle Reformschritte zurücknehmen - für den Fall, daß sie die Chance haben, das dann tun zu können -, müßten dann unter Beweis stellen, wie sie angesichts der gegebenen Fakten unser Gesundheitswesen in der Zukunft finanzieren wollen.

 

Daß es um Umbau und nicht um Abbau des Sozialstaates geht, haben wir mit der Einführung der Pflegeversicherung bewiesen. Ich will es hier einmal offen sagen, meine Damen und Herren: Das war ein harter Kampf. Ich bin dankbar, daß von Ihrer Seite, Herr Präsident Hirrlinger, immer Unterstützung kam. Gerade weil Norbert Blüm anwesend ist, will ich auch sagen: Das ist auch sein großes Werk: Dafür danke ich ihm ganz besonders herzlich. Ich habe die Diskussion um die Pflegeversicherung letztlich nie verstanden. Wenn wir mit Recht bei der Rentenversicherung auf die enormen Veränderungen durch die Geburtenentwicklung hinweisen, dann muß man auch sehen, wie sich unsere Gesellschaft - wenn der jetzt 35jährige 65 ist - entwickelt.

 

1,7 Millionen Pflegebedürftige haben den Nutzen davon, Menschen, die zu den Schwächsten in unserer Gesellschaft gehören und unsere ganze Hilfe brauchen. Man mag das eine oder andere kritisieren. Aber der große Wurf - das behaupte ich - ist gelungen. Übrigens sind durch die Pflegeversicherung bis heute weit über 70000 neue Arbeitsplätze entstanden. Selbstverständlich müssen wir bei denen, die in diesem Bereich arbeiten, eine hohe fachliche Qualität voraussetzen. Ich bitte aber auch darum, daß wir gelegentlich auch daran denken, daß eine Frau, die mit 45 Jahren drei Kinder großgezogen und die Mutter gepflegt hat, nicht in einer formalen Prüfung, aber durch ihren Lebenslauf fachliche und menschliche Qualifikationen bewiesen hat und eine geeignete Pflegekraft ist. Auch hier muß man gelegentlich fragen, ob der Regelperfektionismus nicht auf Wege führt, die jedenfalls meinen Vorstellungen nicht entsprechen.

 

Der neue Zweig der Sozialversicherung hat seine Bewährung bestanden. Die Pflegeversicherung steht auf sicherem finanziellen Fundament. Ich muß sagen, mich erfreut es, daß da eine Kasse ist, die sich entgegen allen Negativprognosen positiv entwickelt. Ich kann nur hoffen, daß das von allen so für die Zukunft gesehen wird.

 

Meine Damen und Herren, wir wollen den Sozialstaat nicht zuletzt auch deshalb bewahren, weil er auf Werten und Prinzipien beruht, die für unsere Gesellschaft von höchster Bedeutung sind. Unser Maßstab - so ist es auch in unserer Verfassung verankert - ist und bleibt die unverletzliche Würde des Menschen. Wer in Not gerät und Hilfe braucht, muß sich auf die Solidarität der Gemeinschaft verlassen können. Ein entscheidendes Element des Sozialstaates - da kann ich Wort für Wort das übernehmen, was Sie gesagt haben, Herr Präsident Hirrlinger - ist das Gebot, behinderten Menschen die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu sichern. Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich nicht zuletzt daran, wie sie mit den schwächsten Mitgliedern umgeht.

 

Für den Staat ergibt sich daraus die Verpflichtung, die Rahmenbedingungen für Chancengleichheit zwischen Behinderten und Nichtbehinderten zu schaffen. Für mich hat das einen hohen Stellenwert. Vor allem muß den Behinderten, wo immer dies möglich ist, Gelegenheit zur Arbeit gegeben werden. Deswegen schreibt das Schwerbehindertengesetz eine Beschäftigungsquote von sechs Prozent vor. Ich muß Ihnen ganz offen sagen, daß die Erfahrungen in diesem Bereich zu den unerfreulichsten meines Amtslebens gehören. Der Bund hat - es wäre unwahr, wenn ich behaupten würde, das ist einfach so gelaufen; da gab es viel Ärger und massiven Druck auch von meiner Seite - diese Quote erfüllt. Leider ist das im Durchschnitt der Länder noch lange nicht der Fall, wobei ich einräume, daß sich die Verwaltungsstruktur der Bundesländer anders darstellt als etwa diejenige im Bereich der Bundesregierung.

 

Wahr ist auch, daß es sich in vielen Betrieben eingebürgert hat, lieber die Ausgleichsabgabe zu bezahlen. In Bereichen der Wirtschaft haben wir zum Teil noch eine ganz abwegige Denkweise. Ich erkenne das besonders, weil ich im privaten Bereich tägliche Nachhilfe durch die Tätigkeit meiner Frau bei der Organisation ZNS erhalte. Die Ausreden, die viele noch finden, um nur keinen Schwerbehinderten einzustellen, sind eigentlich völlig unverständlich. Denn wenn man einmal von der allgemeinen Zahl absieht und plötzlich ein konkretes Beispiel vor sich hat - jemanden, den man Tage zuvor noch sah und dann nach einem Unfall im Krankenhaus besucht, dann versteht man diese Einstellung überhaupt nicht. Wenn ich mir vorstelle, für was alles in Deutschland Geld ausgegeben wird - übrigens auch in den Betrieben -, und auch an die modernen didaktischen Methoden denke, die es inzwischen gibt, dann sollte es doch möglich sein, daß wir hier entscheidend vorankommen. Für mich war es deshalb selbstverständlich, daß wir das Thema Schwerbehinderte in die Agenda für die europäische Beschäftigungspolitik aufgenommen haben.

 

Ich möchte gerne die Chance wahrnehmen, hier als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland an alle Beteiligten zu appellieren - an die eigenen Bundesbehörden, an die Länder und an die Kommunen, aber auch an die Wirtschaft -, das Notwendige zu tun und unserer gemeinsamen Verantwortung gerecht zu werden. Die Bemühungen des Staates und Geld allein reichen allerdings nicht aus, um Menschen mit Behinderungen zu unterstützen, ihr Leben zu gestalten. Hinzukommen muß die Bereitschaft der Gesellschaft, den behinderten Menschen anzunehmen. Dafür müssen wir gemeinsam kämpfen.

 

Meine Damen und Herren, wir verfügen in unserem Land über alle materiellen Voraussetzungen, um die großen wirtschaftlichen und sozialen Probleme unserer Zeit zu meistern. Bei der Frage, ob wir die Zukunft gewinnen können, geht es ganz wesentlich um immaterielle Werte - um unser Verständnis von Freiheit, um die Bedeutung von Tugenden und den Stellenwert der Familie. Es geht um die Bereitschaft zur Mitmenschlichkeit und zum Dienst am Nächsten. Deswegen habe ich zu Beginn meiner Rede die Arbeit des VdK als positives Beispiel gewürdigt. Mit größtem Interesse habe ich auch Ihren gestrigen Beschluß zur Kenntnis genommen. Wir brauchen in unserer Gesellschaft auch in Zukunft starke überparteiliche Verbände, die für soziale Interessen streiten. Der VdK war und ist ein solcher Verband ebenso wie der Reichsbund. Ich gratuliere Ihnen dazu, daß diese beiden großen Sozialverbände bereits seit einiger Zeit eng zusammenarbeiten und eine Fusion anstreben. Ich habe hier keinen Rat zu geben. Aber wenn ich gefragt würde, würde ich gerne sagen: Das ist eine sehr gute Sache, was Sie da auf den Weg bringen. Wo ich mit meinen bescheidenen Mitteln helfen kann, will ich das gerne tun.

 

Meine Damen und Herren, die Erfolge der Vergangenheit in Deutschland - nächstes Jahr wird die Bundesrepublik Deutschland fünfzig Jahre alt - und die Erfolge in Europa geben uns vor allem Anlaß zu einem realistischen Optimismus. Wir Deutsche haben am Ende dieses Jahrhunderts großartige Chancen. Unser Land verdankt seinen wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg der Bereitschaft von vielen in allen Bereichen unserer Bevölkerung: Neues zu wagen und anzupacken, Verantwortung zu übernehmen und solidarisch mit den Schwächeren, zugleich aber auch den großen Traditionen der Geschichte unseres Volkes verpflichtet zu sein. Meine Bitte an Sie ist: Lassen Sie uns in diesem Sinne gemeinsam die vor uns liegenden Aufgaben angehen - für eine gute Zukunft unseres Vaterlandes.

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 41. 15. Juni 1998.