15. September 1993

„Ich wünsche mir in Deutschland lebendige jüdische Gemeinden" - Helmut Kohl über rechte Gewalt, Nationalismus und die Rolle der Republik in der Welt

 

Interview mit Daniel Dagan, Judith Hart und Klaus Zinniel, veröffentlicht in „Allgemeine. Jüdische Wochenzeitung"

ALLGEMEINE: Gewalt, meist gegen Ausländer, ist noch immer an der Tagesordnung, obwohl die Öffentlichkeit und die politische Führung schon längst sensibilisiert sein sollten. Woran liegt das Ihrer Einschätzung nach? Ist das eine spezifisch deutsche Situation?

Kohl: Nein, überhaupt nicht. Wenn Sie sich umschauen, werden Sie feststellen, dass wir in Europa - übrigens nicht nur dort - eine beunruhigende Zunahme von Gewalt beobachten müssen. Die Deutschen stellen insofern keine positive und keine negative Ausnahme dar.

Für uns als Deutsche ist allerdings die Frage von Gewaltanwendungen vor allem gegen Ausländer immer noch vor dem Hintergrund unserer Geschichte zu sehen. Die Barbarei der Nazis hat in Deutschland und in der ganzen Welt zu einer sehr viel größeren Sensibilität geführt. Das ist eine Realität, und ein deutscher Regierungschef muss das immer bedenken. Egal was in anderen Ländern geschieht - wir Deutsche haben uns intensiver mit den Ursachen und Hintergründen zu beschäftigen. Der Bundesparteitag der CDU wird sich mit den Ursachen der Gewalt beschäftigen. Wir werden dabei die Rolle der Familie, die Rolle der Gesellschaft insgesamt und die der Medien diskutieren. Den Gewalttaten, die insbesondere von Jugendlichen verübt werden, muss mit allen Mitteln begegnet werden. Polizei, Gesetzgebung und Gerichte stehen ebenso in der Verantwortung wie Familie, Schule und Kirche.

ALLGEMEINE: Die Vereinigung Deutschlands ist eine große Errungenschaft und auch eine persönliche Leistung von Ihnen. Spielt der nationale Gedanke im vereinten Deutschland wieder eine wichtige Rolle?

Kohl: Ihre Frage zielt offensichtlich auf die Rechtsradikalen und Neonazis. Ich bin gegen jede Form des Radikalismus, ob von links oder rechts. Der Linksradikalismus hat in der Vergangenheit immer wieder mit schrecklichen Mordserien Terror ausgeübt. Er ist immer noch aktiv. In letzter Zeit haben rechtsradikale Gewalttaten erschreckend zugenommen. Vor dem Hintergrund besonders wachsam sein. Deswegen bin ich ganz nachdrücklich dafür, dass wir mit der äußersten Schärfe des Gesetzes und mit allen Mitteln des Rechtsstaats gegen den Rechtsradikalismus vorgehen.

ALLGEMEINE: Aber in Fulda ist eben dieses nicht geschehen.

Kohl: In Fulda haben die Behörden auf der regional-örtlichen Ebene versagt. Dies hat die hessische Landesregierung selbst eingestanden. Daraus müssen die Konsequenzen gezogen werden. Die Befürchtung, dass die Rechtsradikalen bei uns einen wesentlichen politischen Einfluss gewinnen könnten, halte ich für völlig abwegig. Der Rechtsradikalismus hat in Deutschland überhaupt keine Chance. Ich bin fest davon überzeugt, dass die überwiegende Mehrheit der Deutschen in dieser Hinsicht nicht anfällig ist.

ALLGEMEINE: Im Zusammenhang mit der Bekämpfung rechtsradikaler Straftaten sprachen Sie von Gesetzen. Es wird diskutiert, Gesetze zu verschärfen. Ignatz Bubis vertritt die Auffassung, eine Verschärfung sei nicht notwendig. Wie stehen Sie dazu?

Kohl: Ich stimme Herrn Bubis zu. Zur Bekämpfung des Rechtsradikalismus ist es sicherlich in vielen Fällen schon ausreichend, wenn die bestehenden Gesetze konsequent angewandt werden.

ALLGEMEINE: Es zwingt sich der Eindruck auf, als hätten die Regierenden und insbesondere die Ordnungshüter gegenüber dem Linksradikalismus in den 70er Jahren sehr viel vehementer eingegriffen, als es heute häufig der Fall ist. Wenn man sich die Pannen bei den Ermittlungen im sogenannten Sachsenhausenprozess in Erinnerung ruft oder das Verhalten der Polizeikräfte in Fulda, Rostock oder in Hoyerswerda, hat man das Bild einer fortgesetzten Kette. Worin sehen Sie die Ursachen dafür?

Kohl: Ich bestreite Ihre These ganz entschieden. Sollte es im Bereich der Polizei oder der Sicherheitsdienste zu Einseitigkeiten kommen, so müsste man sofort und massiv einschreiten.

ALLGEMEINE: Die Zuständigen sind also nicht blind auf dem rechten Auge?

Kohl: Nein. In Deutschland gibt es Leute, die sind blind auf dem rechten Auge, und es gibt Leute, die sind blind auf dem linken Auge. Wissen Sie, wer der in der rechtsradikalen Szene am meisten angegriffene Mann ist? Der sitzt vor Ihnen.

ALLGEMEINE: Herr Bundeskanzler, die jüdische Welt hat wieder Angst vor einem verstärkten Nationalismus. Sie befürchtet, dass Deutschland zu stark wird und dass sich das dann in einem übertriebenen Nationalismus äußert.

Kohl: Ich habe viel Verständnis für psychologische Belastungen, die ein objektives Urteil nicht leicht machen. Nur der objektive Tatbestand ist ein völlig anderer. Von einem deutschen Nationalismus zu reden in einem Land, in dem die Menschen kaum die eigene Nationalhymne kennen, ist absurd. Es gibt kein Land der Welt, in dem der Umgang mit den Symbolen des Staates so gequält ist wie hier. Was die Deutschen jetzt langsam wieder bekommen, ist ein normales und vernünftiges Gefühl für die Einheit der Nation. Wer behauptet, dass Deutschland ein nationalistisches Land geworden sei, der verzerrt die Wirklichkeit total.

ALLGEMEINE: Es gab in letzter Zeit eine Diskussion darüber, ob eine zentrale Gedenkstätte für die im Holocaust ermordeten Juden errichtet werden soll. Wie stehen Sie dazu?

Kohl: Die Diskussion ist im Zusammenhang mit den Plänen für die Neue Wache in Berlin aufgekommen. Zunächst einmal zu dem Thema „Neue Wache". Ich habe immer wieder deutlich gemacht, dass wir eine würdige Stätte zum Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft brauchen. Es geht dabei um mehr als um Staatsprotokolle. In Anbetracht der Einzigartigkeit des Holocaust verstehe ich zugleich sehr gut den Wunsch nach einem eigenen besonderen Mahnmal für die Opfer der Shoah. Ich bin ausdrücklich dafür, dass wir in einer würdigen Weise der Opfer des Holocaust gedenken.

ALLGEMEINE: Es sollte also Ihrer Meinung nach eine zentrale Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust geben?

Kohl: Eine eigene Erinnerungsstätte ja, kein Museum. Ich lege dabei auf enge und vertrauensvolle Abstimmung mit den Repräsentanten jüdischer Institutionen größten Wert.

ALLGEMEINE: Ignaz Bubis hat neulich gesagt, es hängt weitgehend von den Nicht-Juden ab, ob ein deutsches Judentum wieder entsteht. Wie sehen Sie das? Wo sehen Sie Ansatzpunkte, Perspektiven in dieser Hinsicht?

Kohl: Es hängt nicht nur von den nichtjüdischen Deutschen ab. Meine Position ist sehr klar: Ich bin dankbar dafür, dass nach all dem Entsetzlichen, was im deutschen Namen geschehen ist, Juden wieder nach Deutschland zurückgekehrt sind. Ich bin mir darüber im klaren, dass wir nicht darauf hoffen können, auch nur annähernd wieder ein jüdisches Leben hier zu haben, wie es das vor der Shoah gegeben hat. Erst wenn man dies bedenkt, ermisst man neben dem entsetzlichen Leid, welch einen Verlust die Nazis Deutschland zugefügt haben.

Ich wünsche mir lebendige jüdische Gemeinden. Synagogen, die wieder aufgebaut werden, wie die in Worms, sollten nicht bloßes Denkmal sein. Ein Gotteshaus als Denkmal, das ist nicht meine Vorstellung vom Glauben.

ALLGEMEINE: Heute bilden die Einwanderer aus Osteuropa einen beträchtlichen Teil der Mitglieder in den jüdischen Gemeinden in Deutschland. Diese Zuwanderung ist jedoch nicht ganz unangefochten.

Kohl: Da gibt es unterschiedliche Positionen. Die israelische Regierung meint, dass Juden, die aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion kommen, nach Israel gehen sollten.

ALLGEMEINE: Aber das ist nicht Ihr Standpunkt?

Kohl: Ich habe nicht die Absicht, in diese Diskussion einzugreifen. Ich werde von den einen dafür angegriffen, dass zu wenig, von den anderen - insbesondere in Israel - dass zu viele Juden nach Deutschland kommen. Wir sollen fair miteinander umgehen, und ich fühle mich in der Frage nicht fair behandelt.

ALLGEMEINE: Aber dadurch, dass die Bundesregierung die Zuwanderung der Juden aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten großzügig handhabt, haben Sie Tatsachen geschaffen, die Sie auch nach außen hin, gerade auch der israelischen Regierung gegenüber, verteidigen müssen.

Kohl: Ich muss nichts verteidigen. Aber ich habe Verständnis für die israelische Position. Das ist die eine Seite. Es gibt aber auch eine rein menschliche Seite, die der Familienzusammenführung. Die Fälle sind nicht selten, in denen Familienmitglieder, die zu einem früheren Zeitpunkt nach Deutschland gekommen sind, heute Verwandte zu sich holen. Wir müssen uns auf einer vernünftigen Mittellinie bewegen.

ALLGEMEINE: Zu einem anderen Themenkomplex: Sie haben neulich gefordert, dass die Bundesrepublik Deutschland einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat erhalten soll. Das verbinden viele mit Hoffnungen, aber auch mit Sorgen. Wie sehen Sie die weltpolitische Rolle Deutschlands?

Kohl: Ich habe diese Forderung nicht erhoben. Die Initiative für eine Reform des Sicherheitsrates ist vor allem von Tokio ausgegangen. Es haben sich der kanadische Premierminister Brian Mulroney, dann die amerikanische Administration und ...

ALLGEMEINE: Boutros Ghal i...

Kohl: ... ja, aber vor allem auch Präsident Suharto und die Blockfreien Staaten in dieser Richtung geäußert. Deren These ist, dass sich seit Gründung der Vereinten Nationen Wesentliches geändert habe. Die Rolle Deutschlands in der Welt ergibt sich aus folgenden Tatsachen: Deutschland liegt in der Mitte Europas. Wir sind ein 80-Millionen-Volk. Wir sind in der Europäischen Gemeinschaft mit Abstand das große und ökonomisch stärkste Land. Wir haben die Deutsche Einheit nicht zuletzt mit der Zustimmung und Unterstützung unserer Nachbarn und Freunde erlangt. Deutschland wird aber nur dann eine friedliche und gute Zukunft haben, wenn es sich in ein sich einigendes Europa einfügt. Wir alle brauchen die politische und ökonomische Einigung Europas - aber wir, die Deutschen, brauchen sie mehr als alle anderen.

ALLGEMEINE: Deutschland wird auch vor dem Hintergrund des Nationalismus in der Welt als überaus beängstigend dargestellt. Sie hingegen stellen es sehr positiv dar. Haben Sie den Eindruck, dass das Bild von Deutschland künstlich verzerrt wird? Falls ja, wem nützt das?

Kohl: Es gibt Verzerrungen. Doch Ihre These, dass Deutschland überall in der Welt so dargestellt wird, stimmt nicht. Wenn Sie natürlich nur bestimmte amerikanische Zeitungen der Ostküste lesen, haben Sie ein Bild von Deutschland, das mit der Wirklichkeit unseres Landes nichts zu tun hat.

ALLGEMEINE: Wer verzerrt es und aus welchen Gründen?

Kohl: Das hat viele Gründe. Wenn ich beispielsweise die jüngste EWS-Währungskrise nenne, so hat sie nichts mit der deutschen Geschichte, sondern massiv mit barem Geld zu tun. Da waren handfeste wirtschaftliche Interessen im Spiel. Es gibt bei manchen auch Schadenfreude über die Schwierigkeiten, die wir im Moment haben.

ALLGEMEINE: Wie sehen Sie den Ausgang der Diskussion über die Kampfeinsätze der Bundeswehr?

Kohl: Es ist schlicht und einfach ein Jammer, welches Bild wir hier bieten. Wir haben das Geschenk der Deutschen Einheit erhalten, weil alle uns geholfen haben in Ost und West. Ohne diese Hilfe hätten wir gar nichts erreicht. Unsere Landsleute in den neuen Ländern haben einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet. Wir sind schon seit 1973 Mitglied der Vereinten Nationen und jetzt, da wir vereint sind, heißt es bei manchen: Die Rechte nehmen wir in Anspruch, aber die Pflicht nicht. Dies ist eine Einstellung, für die man sich eigentlich schämen muss. Wer so denkt, der isoliert sich in der Gemeinschaft der Völker.

ALLGEMEINE: Sie sprachen von der weltpolitischen Rolle Deutschlands und Europas. Ich möchte jetzt zum Nahen Osten kommen. Im Nahen Osten ist die weltpolitische Rolle Deutschlands oder Europas nicht sehr bemerkbar. Bemängeln Sie da etwas?

Kohl: Nein, das ist so nicht richtig.

ALLGEMEINE: Wenn jetzt der Friedensprozess vorankommt, sind die Amerikaner dabei und spielen eine erhebliche Rolle, Europa hingegen steht abseits.

Kohl: In allen Fragen, die im Nahen Osten zum Ausgleich fuhren könnten, haben alle meine Vorgänger und ich übrigens auch, unseren Beitrag geleistet. Es ist unsere Politik, auch aufgrund der besonderen Beziehung zu Israel, dass wir im Rahmen unserer Möglichkeiten helfen, ohne das an die große Glocke zu hängen. Israel hat sich auf die Bundesrepublik Deutschland verlassen können, und das wird sicherlich auch so bleiben. Ich empfinde es als schlimm, dass ausgerechnet eine Region, in der drei der wichtigsten Weltreligionen ihren Ursprung haben - Islam, Judentum und Christentum -, so wenig Frieden gefunden hat. Was sich jetzt im Verhältnis zwischen Israel und der PLO tut, ist ein historischer Schritt, vergleichbar mit dem Fall der Berliner Mauer.

ALLGEMEINE: Aber ich darf doch da nachhaken. Ich erwähne einen Vorgang vor Ihrer Amtszeit: 1979 haben die Israelis und die Ägypter einen Friedensvertrag geschlossen. Das hat die USA viel Geld gekostet, ich glaube zehn Milliarden Dollar. Europa hat sich nicht beteiligt. Sehen Sie da keinen Nachholbedarf?

Kohl: Angesichts des Umfangs unserer finanziellen Leistungen für Israel halte ich dieses Argument für wenig überzeugend.

ALLGEMEINE: Sie haben die Besonderheiten des deutsch-israelischen Verhältnisses erwähnt, ist dieses noch immer besonders, und worin liegt die Besonderheit im politischen Alltag?

Kohl: Wenn ein Gast aus Israel nach Deutschland kommt, dann ist die Geschichte immer gegenwärtig. Das gleiche gilt in umgekehrter Richtung. Die Bundesrepublik Deutschland, alle Bundesregierungen, alle demokratischen Parteien bejahen ohne Wenn und Aber die Existenz des Staates Israel. Alle Regierungen haben Entsprechendes getan und Israel geholfen.

ALLGEMEINE: Sie waren ziemlich genau vor zehn Jahren zuletzt in Jerusalem. Planen Sie jetzt etwas in dieser Richtung?

Kohl: Gegenwärtig gibt es noch keine konkrete Planung, nicht zuletzt deshalb, weil wir uns in Europa in einer Zeit dramatischer Veränderungen befinden und weil wir in der Bundesrepublik den Wahlmarathon des nächsten Jahres vor uns haben.

ALLGEMEINE: Noch eine Frage in eigener Sache: Lesen Sie hin und wieder die Allgemeine?

Kohl: Ja.

ALLGEMEINE: Wir versuchen, die Zeitung ein wenig zu öffnen, eine Brücke zu sein zwischen Juden und Nicht-Juden und das Judentum einer breiteren Leserschaft näher zu bringen. Wie stehen Sie dazu?

Kohl: Ich kann Sie nur dazu ermuntern.

Quelle: Allgemeine. Jüdische Wochenzeitung vom 15./23. September 1993.