16. Juni 1993

Regierungserklärung in der 162. Sitzung des Deutschen Bundestags zur aktuellen Lage der deutsch-türkischen Beziehungen, zur Bekämpfung von Gewalt und Extremismus sowie zu Maßnahmen für eine verbesserte Integration der Ausländer in Deutschland

 

Frau Präsidentin,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

I.

der mörderische Brandanschlag von Solingen erfüllt uns alle, Deutsche wie Türken, auch heute noch mit Trauer und Entsetzen. Unser tiefes Mitgefühl gilt den Hinterbliebenen der Opfer. In diesem Verbrechen, aber auch in den zahlreichen Brandanschlägen der Folgezeit auf Wohnungen und Geschäftslokale türkischer Mitbürger kommt ein unfassbares Maß an sittlicher Verrohung zum Vorschein.

Niemand von uns kann mit Sicherheit sagen, was in den Köpfen der zumeist jugendlichen Täter vorgeht. Es ist jedoch unsere Aufgabe Ja unsere Pflicht, den Ursachen solcher Gewalt mit großer Ehrlichkeit und Offenheit nachzugehen.

Zugleich müssen wir uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass keine noch so gründliche soziologische oder psychologische Analyse die Realität des Bösen wirklich erfassen kann. Unserer aufgeklärten oder sich für aufgeklärt haltenden Zeit mag diese Feststellung ein Ärgernis sein. Gutes Zureden, Sozialarbeit und Gesprächstherapie sind notwendig, aber sie sind auch nicht alles. Es gibt auch Situationen, in denen an unnachsichtiger Bestrafung und entschlossener Abschreckung kein Weg vorbeifuhrt.

Ich stimme Richard Schröder, dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion in der letzten Volkskammer, zu, wenn er in diesen Tagen auf dem Evangelischen Kirchentag erklärte, den Brandstiftern sei auch durch leichtfertig geäußerte Staatsverachtung Vorschub geleistet worden.

 

II.

Die grausame Mordtat von Solingen und das, was danach geschah, darf nicht dazu fuhren, dass die deutsch-türkischen Beziehungen nachhaltigen Schaden erleiden. In diesem Sinne hat sich auch Staatspräsident Demirel geäußert. Wir sind ihm für dieses besonnene Wort ganz besonders dankbar.

Ich selbst habe gerade vor vier Wochen anlässlich meines Besuchs in der Türkei erlebt, wie sehr die gute Tradition der deutsch-türkischen Beziehungen lebendig ist. Ich will noch einmal auch hier vor dem Hohen Hause mit Nachdruck hervorheben, dass die in vielen Jahrzehnten bewährte Freundschaft unserer Völker ein kostbares Gut ist, das wir erhalten wollen.

Unsere Beziehungen haben eine lange Tradition - in der Politik, in der Wissenschaft, in der Kultur, nicht zuletzt in der Begegnung zwischen den Menschen. Wir wollen und wir müssen diese bewährte Partnerschaft heute ganz besonders im Bereich der Wirtschaft und der Wissenschaft entschieden ausbauen. Deswegen begrüße ich Vorhaben wie die Gründung einer deutsch-türkischen Handelskammer oder einer türkisch-deutschen Universität in Istanbul.

Vor allem aber müssen die Beziehungen zwischen den Menschen, zwischen Türken und Deutschen, von Freundschaft, von Anstand und von Würde gekennzeichnet sein. Natürlich wissen wir alle, Freundlichkeit und Freundschaft lassen sich nicht verordnen. Leider tut sich mancher Deutsche mit Freundlichkeit, die aus dem Herzen kommt, gelegentlich schwer. Anstand und Würde sind für manche in unserem Lande zu Fremdwörtern geworden. Vielleicht sind diese Werte einer falsch verstandenen Form von Selbstverwirklichung zum Opfer gefallen, die in Wahrheit nichts anderes ist als eiskalter Egoistenkult.

Im übrigen - die Anmerkung will ich gerne machen - hat Fritz Neumark, einer von denen, die, wie Ernst Reuter und viele andere in der Türkei während der Nazizeit Zuflucht fanden, in seinem sehr lesenswerten Buch „Zuflucht am Bosporus" die überwältigende türkische Gastfreundschaft für vom Nationalsozialismus verfolgte deutsche Gelehrte. Wissenschaftler, Politiker und Künstler beschrieben. Wir sollten uns auch in dieser Stunde dankbar daran erinnern.

Aber zur Ehrlichkeit gehört auch, dass nicht wenige von denen, die jetzt besonders lautstark vom Schaden für die deutsch-türkischen Beziehungen sprechen, sich vor kurzem gar nicht genug gütlich daran tun konnten, die Türkei und ihre Regierung herabzusetzen.

[...] Es ist viel Heuchelei und Selbstgerechtigkeit am Werk gewesen. Gerade wir Deutschen sind vor dem Hintergrund der Geschichte dieses Jahrhunderts nicht gerade dazu berufen, mit erhobenem Zeigefinger die Welt zu belehren. Niemandem, am wenigsten den Opfern von Menschenrechtsverletzungen, ist geholfen, wenn wir im vereinten Deutschland nach wilhelminischer Manier als moralische Großmacht auftrumpfen.

Wir brauchen Freunde, und wir brauchen sie mehr als andere. Wir erweisen den Interessen unseres Landes einen schlechten Dienst, wenn wir ausgerechnet unsere zuverlässigsten Partner herabsetzen. Wenn ich dies sage, gilt auch das andere: dass wir alle, die Bundesregierung und dieses Hohe Haus in all seinen Fraktionen, einer konsequenten Achtung der Menschen- und Minderheitenrechte auch in der Türkei größte Bedeutung beimessen. Dies habe ich auch in meinen Gesprächen mit dem Staatspräsidenten und der Regierung der Türkei deutlich zum Ausdruck gebracht.

Ich habe in Ankara allerdings auch erklärt, dass die Bundesregierung das legitime Recht der Türkei anerkennt, sich mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen terroristische Aktivitäten zu verteidigen.

Ich habe es begrüßt, dass die türkische Regierung in den letzten Jahren eine Reihe von wichtigen Initiativen ergriffen hat, die auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage und vor allem auch des Schutzes der Minderheiten abzielen. Ich hoffe sehr, dass die Regierung in diesen Fragen gemäß ihrem Programm - und ich nehme an, die neue Regierung wird dieses noch einmal erneuern - bald mit weiteren Fortschritten aufwarten kann. Ich habe Vertrauen zu Staatspräsident Demirel und den von ihm ernannten Persönlichkeiten, dass sie auf diesem Weg bleiben. Wir bleiben im Gespräch auch über die aktuellen Fragen des deutsch-türkischen Verhältnisses.

 

III.

Im Jahr 1992 haben die Strafverfolgungsbehörden über 12.000 Ermittlungsverfahren wegen rechtsextremer und fremden feindlicher Straftaten eingeleitet. Dabei ging es in knapp 60 Prozent der Fälle um sogenannte Propagandadelikte wie zum Beispiel Volksverhetzung. Es gab über 11.000 Beschuldigte. Rund 700 Haftbefehle wurden erlassen. Viele der Täter konnten rasch gefasst werden. Im gleichen Zeitraum wurden über 10.000 teilweise schon früher eingeleitete Verfahren abgeschlossen. Die Gerichte haben rund 1.500 Straftäter wegen extremistischer oder fremdenfeindlicher Straftaten verurteilt, davon ein Drittel zu Jugend- oder Freiheitsstrafen.

Die Staatsanwaltschaften bemühen sich, solche Straftaten so rasch wie möglich zur Anklage zu bringen. Manches Mal liegen zwischen Tat und Anklageerhebung nur wenige Wochen. Zur Beschleunigung hat zweifelsohne beigetragen, dass bei den meisten Staatsanwaltschaften die Verfolgung extremistischer oder fremdenfeindlicher Straftaten in speziellen Dezernaten konzentriert worden ist.

Die Bundesregierung hat am 2. Dezember des vergangenen Jahres Bundesminister Bohl beauftragt, zusammen mit den Staatssekretären der zuständigen Ressorts alle Maßnahmen und Planungen der Bundesregierung zur Gewaltverhütung und Gewaltbekämpfung zusammenzufassen. Es geht uns um eine wirksame Offensive gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit.

Dabei wurden vier Arbeitsgruppen mit folgenden Schwerpunkten eingerichtet: Erstens: Gewaltprobleme junger Menschen. Hier geht es um Aufklärungskampagnen gegen Extremismus, um Jugendarbeit und um Bildung. Zweitens: Integration von Ausländern. Drittens: Polizei und Verfassungsschutz. Hier geht es vor allem um die Prüfung von Verboten und Verwirkungsanträgen sowie um die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern - und viertens: Prüfung von Gesetzesänderungen im Strafrecht und im Strafprozessrecht.

Am 3. Februar dieses Jahres ist im Kabinett ein erster Zwischenbericht vorgelegt worden. Dieser Bericht wurde den Ländern zugeleitet. Er wurde hier veröffentlicht und auch über unsere Auslandsvertretungen öffentlich gemacht. Dieser erste Bericht hat eine sehr zustimmende Resonanz gefunden. Die Diskussion darüber muss mit großer Intensität fortgesetzt werden.

Obwohl dies eine nationale Herausforderung ist, ist hier gemäß unserer Verfassungsordnung an erster Stelle natürlich die Verantwortung der Länder gefragt. Entscheidende Handlungsbereiche, wie Justiz, Polizei, der Erziehungsbereich, Jugend- und Kulturarbeit, liegen weitgehend in der Zuständigkeit der Länder und der Gemeinden. Ich glaube, wir alle spüren in einer besonderen Weise, dass es wenig Sinn hat, Verantwortung hin- und herzuschieben.

Es geht um eine gemeinsame Aufgabe. Aber dabei steht auch unsere föderale Ordnung auf dem Prüfstand. Wer zuständig ist, hat eine besondere Pflicht zum Handeln. Ich will hier für die Bundesregierung noch einmal versichern, dass wir unsererseits alles tun wollen, um die Länder dabei zu unterstützen.

Im Bereich der Inneren Sicherheit sind Maßnahmen der Vorbeugung und der Bekämpfung verstärkt worden. Hierzu gehören insbesondere das Sammeln, das Auswerten und das gezielte Weitergeben von Informationen über potentielle Gewalttäter aus der rechtsradikalen Szene.

Zu diesem Zweck wurden die entsprechenden Arbeitseinheiten beim Bundeskriminalamt verstärkt und die Einsatzbereitschaft beim Bundesgrenzschutz erhöht. Einer besseren Beobachtung des Extremismus dient nicht zuletzt die Einrichtung einer Bund-Länder-Informationsgruppe. Auch beim Verfassungsschutz sind die Arbeitseinheiten für die Beobachtung des Rechtsextremismus und terroristischer Tendenzen ausgebaut worden. Der Umfang dieser personellen Maßnahmen stellt außer Zweifel, dass wir den Rechtsextremismus mindestens genauso ernst nehmen wir den Linksextremismus.

Bundesminister Seiters hat gegen die „Nationalistische Front", die „Deutsche Alternative" sowie die „Nationale Offensive" Vereinsverbote ausgesprochen. Gegen zwei Neonazis hat die Bundesregierung Anträge auf Verwirkung von Grundrechten gestellt. In allen Bandesländern wird die Partei „Die Republikaner" inzwischen vom Verfassungsschutz beobachtet.

Im Straf- und Strafprozessrecht stehen wir vor wichtigen Gesetzesänderungen. Ich nenne die Erweiterung der Verbote von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, die Erweiterung des Strafrahmens für schwere Körperverletzung, die Erweiterung der Zuständigkeit des Generalbundesanwalts und die Erleichterung der Haftvoraussetzungen. Weitere Maßnahmen müssen nach meiner Überzeugung hinzukommen. Dazu gehört auch eine gesetzliche Regelung für ein länderübergreifendes staatsanwaltschaftliches Informationssystem.

Besonders gefordert sind - dies wissen wir alle - in diesen Tagen die Polizeibeamten. Zu Recht erwarten diejenigen, die sich bedroht sehen, von ihnen Schutz. Dies gilt für deutsche wie für ausländische Bürger. Gewaltbereite Täter müssen im Vorfeld ermittelt, angesprochen und, wenn möglich, von ihren kriminellen Vorhaben abgebracht werden.

Rassistische, extremistische, ausländerfeindliche Strömungen können vielfach durch den Verfassungsschutz schon in einem frühen Stadium aufgespürt werden. Bei dieser Beobachtung darf es nicht bleiben, wenn auf die zumeist jugendlichen Personen, die sich spontan zu feigen Mord- oder Brandanschlägen entschließen, positiv eingewirkt werden soll.

Solange keine Straftat geschehen ist, sind der Polizei die Hände gebunden, mit dem oft absurden Ergebnis: Sie muss warten, bis es brennt. Die Dinge haben jetzt eine Entwicklung genommen, die ein solches Abwarten nicht mehr erlaubt.

Wir sollten fähig sein, in aller Ruhe, aber in offenen Gesprächen und ohne gegenseitige Vorwürfe über die notwendigen Wege zur Verbesserung dieses unbefriedigenden Zustands nachzudenken. Ich denke dabei etwa an das Thema der Zuständigkeitsabgrenzungen. Sie dürfen keine Barriere für das Zusammenwirken im Kampf gegen die Gewalt sein. Wenn es sich als notwendig erweist, dürfen auch Datenschutzregelungen, die einen Informationsaustausch zwischen den Behörden verhindern, kein Tabu sein. [...]

Den Polizeibeamten, die tagtäglich in ihrem Einsatz Anfeindungen und Gewalt ausgesetzt sind, gelten unser besonderer Dank und unsere Anerkennung. Aber es muss mehr als bloß verbale Unterstützung sein. Wir alle wissen - ich sage dies mit Bedacht trotz der angespannten Finanzlage in Bund und Ländern -, die Polizei kann ihre schwierige Aufgabe nur bewältigen, wenn sie personell, rechtlich, logistisch und nicht zuletzt im Blick auf ihre Ausbildung hinreichend gerüstet ist. Das heißt, [..,] die Attraktivität des Polizeiberufs muss verbessert werden. Das ist eine Frage der Bezahlung und der personellen und sächlichen Ausstattung.

Besonders wichtig ist aber auch, dass den Beamten selber nicht die Motivation für ihre Arbeit genommen wird. Wer beispielsweise von ihnen unter dem Schlagwort der „Deeskalation" verlangt, dass sie tatenlos zusehen, wie vor ihren Augen Straftaten begangen werden, der deeskaliert nicht; er demotiviert die Beamten und ermutigt zu immer dreisteren Taten.

 

IV.

Viele Bürger unseres Landes sind auch beunruhigt über die Gewalttätigkeit auf deutschem Boden zwischen rivalisierenden Extremisten aus der Türkei. Wir müssen auch diese Sorge ernst nehmen. Zugleich will ich jedoch betonen, dass natürlich die allermeisten türkischen Bürger in Deutschland diese Form von Gewalt entschieden ablehnen, ja dass sie mehr noch als andere darunter leiden.

Ich begrüße es, dass Deutsche und Ausländer gemeinsam ihren Willen zu einem friedlichen Zusammenleben in der Öffentlichkeit demonstrieren. Leider nutzen kleine Gruppen türkischer Fanatiker diese Demonstrationen dazu, sich untereinander und mit den Sicherheitskräften Straßenschlachten zu liefern. Sie werden dabei, wie wir es erlebt haben, zum Teil von deutschen Chaoten unterstützt. Sie hinterlassen eine Spur von Verwüstungen und Schäden in Millionenhöhe.

Wir können davon ausgehen, dass sich von den gut 1,8 Millionen Türken in Deutschland nur annähernd 30.000 - man muss das Zahlenverhältnis wirklich einmal zur Kenntnis nehmen - in extremistischen Vereinigungen organisiert haben. Diese Gruppen sind untereinander zutiefst verfeindet und vor allem drei ideologischen Blöcken zuzuordnen. Man kann davon ausgehen, dass knapp 4.000 Anhänger revolutionär-marxistischer Gruppen, knapp 18.000 extremistische Fundamentalisten und gut 7.000 extreme türkische und kurdische Nationalisten zu verzeichnen sind.

Wenn Sie diese Zahlen hören und in Vergleich zu 1,8 Millionen setzen, erhält man die wirkliche Relation. Aber man gewinnt auch, wenn dieser Staat es will, die Möglichkeit, dagegen entsprechend vorzugehen. Allen diesen extremistischen Gruppen ist eines gemeinsam: dass sie in einem erbitterten Gegensatz zu ihrer eigenen Regierung und zur Verfassung ihres Heimatlands stehen und ihre Ziele dort wie hier mit Gewalt durchsetzen wollen. Die ihnen in der Heimat deswegen oft drohende Strafverfolgung hat in vielen Fällen zu einem Bleiberecht in Deutschland geführt. Dies darf jedoch in gar keinem Fall ein Freibrief dafür sein, Auseinandersetzungen untereinander hier bei uns gewalttätig auszutragen.

Dieser Missachtung unseres Gastrechts muss mit aller Entschiedenheit begegnet werden. Wer bei uns Straftaten begeht, gleich aus welcher politischen oder ideologischen Motivation, muss dafür zur Verantwortung gezogen werden. Wir erwarten von jedem Ausländer, dass er sich an die demokratischen Spielregeln friedlichen menschlichen Zusammenlebens hält. Wer dies nicht tut, muss sich darauf einstellen, aus Deutschland abgeschoben zu werden.

Der Verfassungsauftrag und das Ergebnis der Erfahrungen unserer Geschichte lauten: Wir bieten politisch, rassisch oder religiös Verfolgten Schutz und Aufnahme, aber wir dulden keine Bürgerkriegsschauplätze. Ich darf an die Innenminister der Länder appellieren - ich habe einen entsprechenden Auftrag auch an den Bundesinnenminister gegeben -, gemeinsam alles zu versuchen, um dem verfassungs- und gesetzwidrigen Treiben solcher Extremisten nicht nur besondere Aufmerksamkeit zu widmen, sondern konsequent dagegen vorzugehen.

Deutschland ist kein Aufmarschraum für Terroristen und darf es auf keinen Fall werden. Das wollen wir auch für die Zukunft so halten. Wer mit Schusswaffen, mit Messern, mit Baseballschlägern und Steinen Demonstrationen der Anteilnahme und Trauer in Schlachtfelder verwandelt, ist ein krimineller Gewalttäter und muss mit den entsprechenden Konsequenzen rechnen.

 

V.

Die Offenheit Deutschlands, unserer Republik, gegenüber der Welt und den hier lebenden Ausländern hat uns nicht zuletzt und vor allem menschlich und kulturell im besten Sinne des Wortes bereichert. Sie hat uns auch großen wirtschaftlichen Nutzen gebracht. Ich will nur darauf hinweisen, welche Vorteile unsere exportorientierte Wirtschaft hieraus gezogen hat und in welch einem Umfang unser Bruttosozialprodukt hiervon positiv beeinflusst wurde. Es sind rund 200 Milliarden D-Mark.

Die meisten Ausländer, die hier leben und arbeiten, verrichten angelernte und ungelernte Tätigkeiten mit oft schweren körperlichen Anforderungen. Ob in Gaststätten oder Gießereien, im Bergbau oder in der Textilverarbeitung, sie sind aus unserem Arbeitsleben überhaupt nicht hinwegzudenken. Sie gehören zu uns, und sie verdienen auch unsere Anerkennung für diese Leistung und diese Arbeit.

Ausländer in Deutschland schaffen auch Arbeitsplätze. 88.000 ausländische Selbständige, darunter viele kleine, mittelständische Betriebe beschäftigen Mitarbeiter. Ein ganz erheblicher Teil davon sind Deutsche. Die Steuern und Sozialversicherungsbeiträge der Ausländer werden für das Jahr 1992 auf etwa 90 Milliarden D-Mark geschätzt. Sie sind entschieden höher als die Aufwendungen unseres Staates, die der ausländischen Bevölkerung zugute kommen. Es ist also wahr, dass die bei uns lebenden Ausländer ganz erheblich zum Wohlstand der Deutschen beitragen. Es ist deshalb ein törichtes Gerede, sie fielen uns zur Last.

Natürlich sehe ich in den Ausländern bei uns nicht in erster Linie einen Wirtschaftsfaktor, sondern Mit-Menschen, deren Würde unantastbar ist. Wir fördern - alle Bundesregierungen haben dies getan - seit Jahren die Integration ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen. 1993 waren es über 90 Millionen D-Mark für die berufliche und soziale Integration und die Sozialberatung. Die Schwerpunkte liegen bei der Sprachvermittlung und bei beruflicher Qualifikation. So konnte der „Sprachverband Deutsch" 1992 für über 80.000 ausländische Arbeitnehmer Sprachkurse anbieten.

Seit Gründung dieses Sprachverbands haben fast eine Million Teilnehmer in von Hunderten von Trägern bundesweit durchgeführten Sprachkursen die Möglichkeit der Erlernung unserer Sprache gehabt. Es gibt spezielle Kurse für Jugendliche und solche für Frauen mit Kinderbetreuung und mit vielen anderen Möglichkeiten, um dem einzelnen zu helfen. Zusätzlich fördert der Bund den Übergang von der Schule in den Beruf sowie binationale Ausbildungsprojekte für junge Ausländer.

Immer mehr Ausländer werden auch ihren Lebensabend bei uns verbringen, so dass ich auch den Hinweis auf die Gruppe der Älteren bei Maßnahmen der Integration für wichtig halte.

Im Bereich der beruflichen Bildung steht ausländischen Arbeitnehmern das Instrumentarium aus dem Arbeitsförderungsgesetz zu.

Ausländer, die sich längere Zeit berechtigt in der Bundesrepublik aufhalten und Opfer einer Gewalttat wurden, dürfen nicht schlechter gestellt werden als Deutsche. Die Bundesregierung hat eine entsprechende Änderung des Opferentschädigungsgesetzes vorgeschlagen.

 

VI.

Es ist ein Vorurteil, Deutschland sei kein ausländerfreundliches Land und es entziehe sich seinen humanitären Verpflichtungen. Ich will diese Gelegenheit vor der Öffentlichkeit unseres Landes, aber auch des Auslands gern einmal nutzen, um die nüchternen Zahlen vorzutragen.

Zur Zeit leben 6,5 Millionen Ausländer in Deutschland, davon 1,3 Millionen Kinder sowie Jugendliche bis 16 Jahre. Die größte Gruppe der Ausländer stellen die Türken mit einem Anteil von 28 Prozent. Fast 70 Prozent der hier lebenden Türken sind schon seit mehr als zehn Jahren in Deutschland, fast 20 Prozent sogar länger als 20 Jahre. 63 Prozent der hier lebenden Türken sind jünger als 30 Jahre. Mehr als eine halbe Million Türken verfügen über eine Aufenthaltsberechtigung, 370.000 haben eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.

Am 31. Dezember 1992 befanden sich 1,5 Millionen Flüchtlinge in Deutschland, davon mehr als 300.000 Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Die Zahl der Flüchtlinge weltweit wird derzeit auf rund 18 Millionen geschätzt. Das heißt, acht Prozent davon fanden in Deutschland Aufnahme. [...]

Es waren 100.000 Asylberechtigte, 130.000 Familienangehörige von Asylberechtigten, 38.000 sogenannte Kontingentflüchtlinge, das heißt Flüchtlinge, die im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommen wurden.

640.000 Kriegs- oder Bürgerkriegsflüchtlinge sowie sogenannte De-facto-Flüchtlinge, d. h. Personen, die keinen Asylantrag gestellt haben oder deren Asylantrag abgelehnt wurde, die aber gleichwohl aus humanitären und politischen Gründen nicht abgeschoben werden, fanden Aufnahme. Hinzu kommen 610.000 Asylbewerber.

1992 kamen 440.000 neue Asylbewerber nach Deutschland. Allein von Januar bis Mai 1993 kamen weitere 193.000 hinzu. Der Anteil Deutschlands am Asylbewerberzugang innerhalb der EG betrug 1990 und 1991 noch rund 58 Prozent. 1992 lag er bei 79 Prozent. Der Anteil Deutschlands am Asylbewerberzugang in Westeuropa insgesamt lag 1990 und 1991 bei 47 Prozent, und 1992 betrug er bereits 65 Prozent.

Zu diesen Zahlen gehört auch, dass Bund, Länder und Gemeinden nach der Einschätzung, die wir gemeinsam vorgenommen haben, 1992 Aufwendungen für ausländische Flüchtlinge in Deutschland in Höhe von neun Milliarden D-Mark hatten. Ich sage dies, weil wir nicht den geringsten Grund haben, uns im internationalen Vergleich zu verstecken. Wir leisten das in der Lage unseres Landes Angemessene.

Zu diesen Zahlen gehört auch - diese beiden will ich noch nennen - die deutsche Hilfe für Flüchtlinge und Vertriebene in Somalia, die 1992/93 über 120 Millionen D-Mark betrug und die nur noch von der Hilfe der Vereinigten Staaten von Amerika übertroffen wird. Und: Wir geben für Flüchtlinge und Vertriebene im ehemaligen Jugoslawien rund 350 Millionen D-Mark aus. einschließlich des deutschen EG-Anteils. Diese Zahl ist unübertroffen.

Wer also über Fremdenfeindlichkeit in Deutschland redet oder im Ausland mit unübersehbarer Häme darüber schreibt, soll einmal zur Kenntnis nehmen, was hier wirklich getan wird und was die Menschen hier wirklich denken und tun, und er soll Vergleiche mit seinem eigenen Land ohne Selbstgerechtigkeit anstellen.

Wir alle wollen und hoffen, dass Bund, Länder und Gemeinden durch das neue Asylverfahren künftig spürbar entlastet werden. Die dann zur Verfügung stehenden Kapazitäten an Unterkünften, Verwaltungs- und Unterstützungspersonal sollen gezielt für die Aufnahme und Betreuung wirklich Hilfsbedürftiger, zum Beispiel von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen, genutzt werden.

Ich sage das folgende in die aktuelle Diskussion in der Bundesrepublik hinein: Es ist für mich völlig unerträglich und völlig unhaltbar, wenn jetzt einige eine Verbindungslinie zwischen den neuen Asylgesetzen, der Verfassungsänderung und den Brandanschlägen in Solingen oder anderswo ziehen.

Unser Staatsangehörigkeitsrecht ist jetzt 80 Jahre alt. Ich denke, wir sind gemeinsam der Auffassung, dass es jetzt notwendig ist, dass wir die Regelungen des geltenden Rechts überprüfen. Eine beachtliche Zahl von Regelungen ist ja bereits geändert, novelliert worden. Ich hoffe darauf, dass wir dieses Gespräch miteinander in einer sachgerechten Diskussion, ohne jeden ideologischen Vorbehalt führen können.

Wir wollen weitere Regelungen schnell treffen. Das heißt, wir wollen sie noch in dieser Legislaturperiode verabschieden. Das setzt ein Zusammenwirken nicht zuletzt zwischen Bundestag und Bundesrat voraus. Ich möchte alle Verantwortlichen im Bund, in den Ländern, in den Parteien und allen gesellschaftlichen Organisationen einladen, sich an dieser Diskussion zu beteiligen.

Bereits 1990 wurden im Zuge der Neuregelung des Ausländerrechts Vorschriften zur erleichterten Einbürgerung im Ausländergesetz geschaffen. Nunmehr treten zum 1. Juli 1993 weitere Erleichterungen in Kraft: Das Erfordernis der einheitlichen Staatsangehörigkeit der Familie entfällt. Ausländer, die seit 15 Jahren rechtmäßig ihren Aufenthalt im Bundesgebiet haben, haben einen Anspruch auf Einbürgerung; jetzt wird auf die Voraussetzung der Unbescholtenheit grundsätzlich verzichtet.

Ausländer der zweiten und dritten Generation zwischen dem 17. und dem 23. Lebensjahr haben einen Anspruch auf Einbürgerung, wenn sie sich seit acht Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und dort sechs Jahre lang eine Schule besucht haben; auch bei diesem Personenkreis wird jetzt der Grundsatz der Unbescholtenheit als Voraussetzung der Einbürgerung aufgegeben.

Nunmehr können auch nichteheliche Kinder deutscher Väter bereits durch Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erlangen und - das ist sehr wichtig -: Die Gebühren für die sogenannte Ermessenseinbürgerung nach dem Reichsund Staatsangehörigkeitsgesetz werden drastisch gesenkt, in besonderen Fällen bis hin zur vollständigen Gebührenbefreiung.

Wir alle wissen, von den bisherigen Erleichterungen bei der Einbürgerung ist nur wenig Gebrauch gemacht worden. Das hat sicher viele Gründe. Einer ist gewiss - das ist ein besonders schwieriger Grund und mit vielen Problemen behaftet -, dass in aller Regel die Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft verlangt wird. Ich halte es persönlich weiterhin für richtig, Mehrstaatigkeit grundsätzlich zu vermeiden.

Allerdings müssen wir unser Staatsangehörigkeitsrecht so ändern, dass die bestehenden Einbürgerungsmöglichkeiten wesentlich besser genutzt werden als bisher, ich denke dabei vor allem und in erster Linie - auch nach meinen persönlichen Beobachtungen in meiner eigenen Heimatstadt, wo fast 7.000 türkische Bürger leben, - an die in Deutschland geborenen jungen Türken, die Deutschland als ihre Heimat empfinden, die bereit sind, staatsbürgerliche Pflichten zu übernehmen, und die in ihrem Alltag erleben, dass sie zwischen zwei Hochkulturen geraten: im Verhältnis zu ihren Großeltern, im Verhältnis zu ihren Eltern, im Verhältnis zu ihren Freunden, im Verhältnis zu ihren Schulkameraden.

Ich habe angekündigt, dass Bundesminister Seiters bald einen Gesetzesvorschlag für eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vorlegen wird. In diesen Vorschlag wird auch das Ergebnis einer Bund-Länder-Kommission einfließen, die bereits seit mehr als einem Jahr berät. Wir wollen alle Gesichtspunkte, die zu einem vernünftigen Ziel führen, hier mit einbringen. Ich sage noch einmal: Es ist für mich wichtig - das ist mein Rat an uns -, dabei schnell zu arbeiten. Ich glaube nicht, dass das Wahljahr 1994 besonders geeignet ist, eine so schwierige Materie parlamentarisch abzuhandeln.

 

VII.

Die Fahndungserfolge nach dem mörderischen Brandanschlag von Solingen sind ein Signal der Ermutigung. Dieses Beispiel zeigt, dass extremistische Gewalttäter keine Chance haben, wenn dieser Staat und seine Bürger zusammenstehen.

Aber wir alle wissen auch, dass die Androhung von Gewalt allein ganz gewiss nicht genügt, um Menschen, vor allem jüngere Leute, zu rechtmäßigem Handeln zu bewegen. Wichtiger noch als das Strafrecht - so wichtig dieses auch ist - ist zum Beispiel die Stärkung jener Institutionen, die gerade Jugendlichen Halt und Orientierung geben können und die an ihrer Erziehung zur eigenverantwortlichen Persönlichkeit mitwirken. Hier tragen die Familie und die Schule - und zwar in dieser Reihenfolge - eine ganz besondere Verantwortung. Aber auch Kirchen und Gewerkschaften, Träger der Jugendarbeit und die Medien sind gefordert.

Wir haben verabredet, dass wir schon sehr bald mit wichtigen Gruppen der Gesellschaft zu einem Gespräch zusammenkommen - das Ganze ist nicht nur eine Sache des Staates und seiner Organe - und über die Möglichkeiten zur Bekämpfung der Gewalt, insbesondere der Gewaltbereitschaft junger Menschen, diskutieren, um auf der Grundlage klarer Ergebnisse möglichst schnell weiter voranzukommen.

Die Analyse der vielfältigen Gründe für Radikalisierung und Ausschreitungen junger Leute führt zu dem Ergebnis, dass es bei Jugendlichen wesentlich auf vorbeugendes Handeln ankommt. Wir wollen daher als Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern und den Gemeinden vor allem Information und Aufklärung, Kinder- und Jugendhilfe, Jugendförderung und die Bereiche Schule und Sport weiter fördern.

Bereits in den vergangenen beiden Jahren wurde ein wesentlicher Teil der Infrastruktur der Kinder- und Jugendhilfe in den neuen Bundesländern mit Bundesmitteln aufgebaut.

Eine offene Gesellschaft und eine freiheitliche Demokratie beruhen auf Fundamenten, die der Staat nur in begrenztem Umfang garantieren kann. Wir waren immer stolz auf ein Staats Verständnis, das diesen Freiheitsraum garantiert. Politisches Handeln kann den ethischen Grundkonsens eines Volkes niemals ersetzen. Zu diesem Grundkonsens gehören auch Tugenden wie Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft, Dankbarkeit und Höflichkeit, Anstand und Würde. Sie sind bei uns allzu lange als altmodisch verschrieen und von anderen als minderwertige Sekundärtugenden verspottet worden. Wenn wir in diesem Zusammenhang nicht umdenken, ist auf die Dauer der innere Zusammenhalt unserer Gesellschaft bedroht.

Wir alle hören und lesen fast täglich bestürzende Berichte über Gewalt an unseren Schulen. Das heißt, dass wir uns - ohne jeden Vorwurf an irgendeine Seite - selbstkritisch die Frage stellen müssen, ob nicht manche der sogenannten Reformversuche im Bildungswesen den Boden für solche Entwicklungen bereitet haben. [...]

Die freiheitliche Demokratie ist bei all ihren Schwächen die höchste Form politischer Zivilisation, die wir kennen. Sie ist deshalb gerade nichts für Gleichgültige, für Laue oder für Bequeme. Ich hoffe, Sie werden folgendes Zitat ertragen: „In der Demokratie" - so hat es Joseph Rovan formuliert -„muss die Tugend aus Einsicht entspringen und freiwillig geleistet werden. Dies aber setzt zumindest eine Erziehung von Kindern und Jugendlichen zur Tugend voraus, die dann ebenfalls aus der Einsicht und Freiwilligkeit der Eltern und zusätzlich von anderen Erziehern kommen muss."

Das sind die Worte eines Mannes, der in Deutschland geboren ist, der Dachau überlebt hat und der mehr als viele andere für die deutsch-französische Freundschaft getan hat. Wir sollten das nicht vergessen.

Wenn wir uns nachdenklich mit den Ursachen der Gewalt auseinandersetzen, muss doch die Frage gestellt werden: Ist unser Leitbild nach Jahrzehnten des Wohlstands heute nicht mehr so sehr der Citoyen, sondern vielmehr der Bourgeois? Ist es nicht ein Zeichen falsch verstandener Liberalität, wenn wir einfach klaglos zulassen, dass von vielen Kindern Rambo und vergleichbare Symbolfiguren zum Vorbild genommen werden? [...]

Wenn wir über dieses Thema sprechen, müssen wir nicht nur über das reden, was Politik und Staat zu erbringen haben, sondern auch darüber, was alle anderen Bereiche der Gesellschaft zu erbringen haben.

Das gilt auch für die Medien. Ich finde es falsch, in dieser Frage alles auf die Medien abzuschieben, aber sie haben ihren Anteil. Die Freiheit von Presse und Rundfunk ist ein hohes Gut. Aber ich glaube, es ist doch unstreitig: Das höchste Gut ist die Würde des Menschen, die die Väter und Mütter des Grundgesetzes bewusst an den Beginn unserer Verfassung gestellt haben, ohne zwischen Deutschen und Ausländern zu unterscheiden.

Wir sollten vor allem bei den jungen Menschen das Bewusstsein dafür schärfen, dass zivile Tugenden etwas mit Mut zu tun haben. Blindwütige Gewalt ist in Wahrheit ein Rückfall in die Barbarei. Anschläge auf wehrlose Menschen sind in Wahrheit ein Zeugnis von innerer Schwäche und Feigheit. Wir sollten viel stärker als bisher dem ganz unspektakulären Pflichtbewusstsein Anerkennung zollen, mit dem so viele auch in Deutschland ihren Dienst am Nächsten leisten.

Ich denke dabei an die Wehrpflichtigen ebenso wie an die Zivildienstleistenden, zum Beispiel in der Altenpflege. Ich denke an die vielen, über die nicht gesprochen wird, an die ehrenamtlich Tätigen in Sportvereinen und bei der Freiwilligen Feuerwehr. Ich denke nicht zuletzt - das sage ich bei dieser Gelegenheit gerne, weil es in Deutschland inzwischen üblich geworden ist, alles auf die Parteien abzuschieben - auch an die Mitglieder politischer Parteien, die Tag für Tag, und zwar unentgeltlich und ehrenamtlich, ihre Arbeit tun, die oft viel Hohn von jenen ernten, die vornehm abseits stehen und sich bei gehobenem Konsum „selbstverwirklichen".

Gerade weil dieser Begriff von manchen missbraucht wird, gehört in diesen Zusammenhang auch ein Wort zum Thema Patriotismus. Wir dürfen es nicht zulassen, dass dieser Begriff den Rechtsradikalen und Rechtsextremisten überlassen wird. Wer Hass gegen Ausländer schürt, kann nicht für sich in Anspruch nehmen, ein deutscher Patriot zu sein.

Axel Springer hat einmal gesagt, dass der „Respekt vor den Völkern dieser Erde [.. .]die Frucht des richtig verstandenen Selbstrespekts ist". Patriotismus, richtig verstanden, bedeutet immer auch Achtung vor der Vaterlandsliebe des Nachbarn und damit die strikte Ablehnung jeder Form nationaler Überheblichkeit.

Wir alle wissen aus unserer eigenen Lebenserfahrung, dass gerade für Jugendliche die Identifikation mit einer Gruppe ein wichtiger Teil ihres Reifungsprozesses ist. Wir dürfen nicht zulassen, dass dieses ganz natürliche Bedürfnis von jenen missbraucht wird, die die Nation zum Götzen erheben.

Wir alle wissen, dass in diesem geschichtlichen Abschnitt und sicherlich auch in Zukunft Nation und Nationalstaat zwar nicht der einzige, aber doch der wichtigste Rahmen bleiben, in dem Bürgerrechte wirksam garantiert und wahrgenommen werden, in dem auch außenpolitische Interessen definiert werden können.

Gerade in diesem Rahmen das ist die Frucht von Erfahrungen dieses Jahrhunderts nach all dem, was es uns an Schrecklichem, aber auch an Gutem gebracht hat - müssen die Deutschen den Willen zu guter Nachbarschaft beweisen, wie sie es seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland getan haben: mit allen Mehrheiten im Bundestag, mit allen Bundesregierungen und auch mit allen meiner Amtsvorgänger.

Wir haben diesen Willen besonders im Zusammenhang mit der Deutschen Einheit bewiesen, die in Frieden und in Freiheit sowie mit der Zustimmung all unserer Nachbarn möglich war, weil uns die Nachbarn und die Welt vertrauen. Deswegen ist es angesichts mancher Fragen an die Deutschen wichtig, dieses Vertrauen gemeinsam zu rechtfertigen.

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 54 (18. Juni 1993).