16. Juni 1998

Erklärung auf der Pressekonferenz zum Abschluss des Europäischen Rats in Cardiff

 

Meine Damen und Herren,

das erste, was ich hier für die ganze Delegation und natürlich auch in meinem Namen gerne sagen möchte, ist, daß wir uns für die großartige Gastfreundschaft bedanken. So, wie das Ganze vorbereitet war, war das eine ganz vorzügliche Tagung.

Es war nicht zu erwarten, daß hier in Cardiff grundlegende Beschlüsse gefaßt werden. Aber es war eine sehr gute Sitzung als Zwischenbilanz in einer ausgesprochen guten und freundschaftlichen Atmosphäre. Gerade der Schluß der Beratungen mit dem gemeinsamen Mittagessen mit Nelson Mandela hat auch ein Stück der Verantwortung der Europäischen Union für weltweite Herausforderungen deutlich gemacht. Nelson Mandela hat sich in sehr bewegenden Worten für die Unterstützung bedankt, die Südafrika bilateral und auch im Rahmen der Europäischen Union gefunden hat.

Erstens haben wir hier den Themenbereich "Wirtschaftliche Entwicklung und Beschäftigung" intensiv behandelt.

Zweitens haben wir eine erste ausführliche Aussprache unter den Staats- und Regierungschefs über die künftige

Ausrichtung und Gestaltung der Europäischen Union gehabt. Diese wurde nicht zuletzt durch den gemeinsamen Brief von Jacques Chirac und mir angeregt.

Drittens gab es eine allgemeine Orientierungsaussprache über die Agenda 2000. Hier ging es um einen ersten Zwischenbericht ohne Entscheidungen. Aber vor allem ging es auch um die Verständigung über den Kalender des weiteren Vorgehens.

Viertens gab es eine Zwischenbilanz über den Stand des Erweiterungsprozesses sowie einen Meinungsaustausch über das Verhältnis der Europäischen Union zur Türkei.

Fünftens hatten wir eine Erörterung wichtiger Themen der internationalen Politik. Insbesondere gab es gestern bereits die Verabschiedung einer gesonderten Erklärung zum weiteren Vorgehen in der Kosovo-Krise.

Sechstens ging es um eine Entgegennahme von Aufträgen früherer Europäischer Räte, was zum Beispiel Berichte zu den Themen "Organisierte Kriminalität, Drogen und Umwelt" betrifft.

Bei der wirtschaftspolitischen Diskussion, die sehr intensiv und sehr, sehr offen geführt wurde, war es für uns als Deutsche besonders wichtig, daß sich im Laufe der letzten Jahre unser Land in den wichtigen Kennzahlen für die künftige Wirtschaftsentwicklung innerhalb der Europäischen Union wieder in die Spitzengruppe vorgearbeitet hat. Wichtiges Thema unserer Diskussionen waren auch die möglichen Gefahren für unsere Wirtschaft durch die Entwicklungen in Asien, nicht zuletzt in Japan, oder auch in Rußland. Dies ist ein Gefahrenpotential von größter Bedeutung. Wir hoffen gemeinsam, daß diese Gefahren zu bannen oder jedenfalls einzugrenzen sind.

Wir liegen beim Wirtschaftswachstum 1998 in einem gutem Kontakt mit den anderen Ländern. Es ist beim Preisanstieg das gleiche. Bei den langfristigen Zinsen haben wir inzwischen einen absoluten europäischen Spitzenwert erreicht. Wenn ich die Arbeitslosenstatistik von EUROSTAT betrachte, sind wir im Vergleich zu den anderen großen Industrieländern, wenn ich Großbritannien herausnehme, das etwas günstiger liegt, durchaus auch auf einem guten Weg.

Übrigens haben wir im Zusammenhang mit dem Thema "EUROSTAT" eine kurze, aber sehr intensive Diskussion über die Forderung gehabt, die wir bereits auf dem Luxemburger Gipfel diskutiert haben, nämlich daß EUROSTAT so schnell wie möglich in einer Weise weiterentwickelt wird, daß die Zahlen, die von dort kommen, seriöserweise sich auch genauso wie die Zahlen der nationalen Dienststellen darstellen. Bei uns wäre das etwa das Statistische Bundesamt. Es ist eine höchst unerfreuliche Sache, wenn die Zahlen so differieren, daß die Glaubwürdigkeit darunter leidet. Ich habe überhaupt gar keinen Zweifel an der Seriosität dieser Institution. Aber es ist unverkennbar, daß diese Seriosität noch steigerungsfähig ist. Wir brauchen für kommende Entwicklungen der Europäischen Union eine Stelle, die ohne Wenn und Aber außerhalb jeder Diskussion steht, was man dann immer auch an Freude oder Nicht-Freude an den erscheinenden Zahlen hat. Wir haben mit der Kommission vereinbart, daß auf dem Wiener Gipfel im Dezember hierzu ein Bericht vorgelegt wird.

Die Mitgliedstaaten waren sich darin einig, daß die Flexibilität und die Funktionsfähigkeit der Arbeits- und Kapitalmärkte vor allem für die zukünftige Schaffung von Arbeitsplätzen entscheidend ist. Wir haben unsere Projekte vorgetragen. Sie werden auch im Kontext und im Vergleich mit den anderen Ländern durchaus positiv gesehen.

Wir haben dann eine intensive Diskussion über die künftige Ausrichtung der Europäischen Union gehabt. Im Hintergrund stand der gemeinsame Brief von Jacques Chirac und mir. Da es im Vorfeld manches an Gerede dazu gab, will ich hier noch einmal ganz klar feststellen, daß alle Kollegen - wenn ich mich richtig erinnere, haben sich fast alle zu Wort gemeldet - die Notwendigkeit und die Vernunft dieses Briefes bejaht haben.

Wir haben ein gemeinsames Ziel, das jeder nach den wahrhaft historischen Entscheidungen der jüngsten Zeit einsehen kann: die Erweiterung und die Teilnahme an der Euro-Zone, die Herausforderungen, die wir mit der Agenda 2000 zu lösen haben. Es ist einfach zwingend, daß wir uns über folgende Fragen unterhalten: Wo steht die Europäische Union? Wie ist das Verhältnis der Europäischen Union - nicht nur im Materiellen, sondern auch im Immateriellen - zu den einzelnen Völkern und Nationen, die der europäischen Gemeinschaft angehören? Daraus ergibt sich die Frage nach der notwendigen Bestandsaufnahme über die Perspektiven der europäischen Integration.

Wir haben ein hohes Maß an Übereinstimmung in dieser Frage - das will ich noch einmal deutlich machen. Ich will aber auch noch einmal sagen, daß diese Debatte sich in gar keiner Weise - das wäre auch sehr unerfreulich und ungerecht gewesen - gegen irgend jemanden, auch nicht gegen die Kommission, richtet. Daß in der Vergangenheit im Bereich der Richtlinien Fehler gemacht wurden, räumt jeder ein. Nur wäre es sehr ungerecht, Fehler, die gemacht wurden, die wir alle gemeinsam gemacht haben - das muß ich noch einmal klar unterstreichen -, einem Teil, in diesem Fall der Kommission, allein zuzuschieben. Wer die Richtlinien, die hier in die Diskussion geraten sind, betrachtet, weiß, daß neben der Kommission, nationale Regierungen, Interessengruppen, bestimmte Lobby-Bereiche dabei mitgewirkt haben. Es geht jetzt ausschließlich darum, auch am Vorabend der europäischen Wahl, die im Juni nächsten Jahres stattfindet, die Frage der Akzeptanz des Hauses Europa, der Europäischen Union bei den Bürgerinnen und Bürgern unserer Länder zu betrachten.

Ich glaube, es ist ein wichtiges Ziel, gemeinsam daran zu arbeiten, daß wir eine möglichst hohe Wahlbeteiligung bei der Europa-Wahl erreichen und daß wir nicht eine Art "Bestrafungswahl" bekommen, wie es manche prophezeien, oder auch Abstinenz und Desinteresse, was auf das gleiche hinausläuft, was im übrigen auch immer radikale Gruppierungen von rechts oder links stärken würde. Es muß unser gemeinsames Ziel sein, bei den Wahlen zum Europäischen Parlament eine Wahlbeteiligung in Europa zu erreichen, die über 50 Prozent liegt. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß wir, wenn dies nicht der Fall wäre, eine Menge Kommentare hätten, ob dieses Europa und die Europäische Union überhaupt bei den Leuten ankommt, ob diese den europäischen Einigungsprozeß wirklich akzeptieren. Das ist für mich ein ganz wesentlicher Grund, mich in dieser Richtung mit großer Entschiedenheit - und die Kollegen haben sich dem auch angeschlossen - zu engagieren. Wir sind alle gefordert - ob die Mitgliedstaaten, das Europäische Parlament oder die Kommission. In diesem Sinne wollen wir auch arbeiten.

Die erste Priorität - auch das ist klar - gilt im Augenblick der möglichst schnellen und zügigen Ratifikation des Amsterdamer Vertrags. Bisher haben drei Länder die Ratifikationsurkunden hinterlegt. Das sind Deutschland - am 7. Mai -, Schweden am 15. Mai und Großbritannien, das die Urkunde gestern hinterlegt hat. Wenn ich die Übersicht vor mir sehe, habe ich schon den Eindruck, daß wir noch viel Kraft brauchen, um in allen Ländern der Europäischen Union wie vorgesehen bis etwa zum Jahresende die Ratifikation vorzunehmen.

Im Protokoll zum Amsterdamer Vertrag gibt es zum Thema "Subsidiarität" eine klare Aussage. Subsidiarität heißt für uns - aus deutscher Sicht - zunächst einmal ein föderal gegliedertes Europa, wie wir es immer angestrebt haben. Wir sind strikt gegen jede Zentralisierung und gegen jeden europäischen Zentralstaat. Wir wollen, daß Subsidiarität so definiert wird, daß in der Bürgernähe auch der Entscheidungshorizont liegt.

Das, was die Kommission, was Brüssel, das Europäische Parlament und natürlich die Räte gemeinsam machen müssen, soll in Brüssel dann geschehen, wenn die Regelung dort am besten getroffen werden kann und es im Interesse der Bürger liegt, daß die Frage in Brüssel behandelt wird. Auf der nationalen Ebene - das heißt bei uns jetzt in Bonn und später in Berlin, in Paris, in Amsterdam, in Den Haag, in London - soll das geschehen, was auf der Ebene der Mitgliedstaaten gemacht werden kann, und schließlich soll das in den Regionen - wir sagen bei uns in den Bundesländern - geregelt werden, was dort mit besonderem Blick auf die Gegebenheiten vor Ort erfolgen kann.

Es ist übrigens eine bemerkenswerte Entwicklung, für die ich mich seit vielen Jahren immer wieder mit einigen Mitstreitern eingesetzt habe, daß inzwischen die Frage der Kompetenzen der Gemeinden und Ihre Rolle in den europäischen Entscheidungsprozessen zunehmend an Sympathie auch in unserem Kreis gewinnt.

Wir werden uns nach den Ankündigungen des österreichischen Vorsitzenden, die er eben noch einmal wiederholt hat, im Laufe des Oktobers zu einem informellen Treffen der Staats- und Regierungschefs zusammenfinden. Wir werden uns darauf verständigen, wie weitergearbeitet werden soll. Das Ziel ist, daß der Europäische Rat im Dezember in Wien sich dann mit diesem Thema beschäftigt.

Ich will in dem Zusammenhang, was die Termine betrifft, noch einmal in Ihre Erinnerung rufen, daß wir vor einer sehr dichten Terminlage stehen. Wir Deutsche werden im nächsten Jahr mit der Übernahme der Präsidentschaft in der Europäischen Union eine enorme Last an zusätzlicher Verantwortung auf uns zu nehmen haben. Wir haben vor uns die Entscheidungen zur Agenda 2000. Hier in Cardiff standen zur Agenda 2000 noch keine Entscheidungen an. Es gab hier erste Gespräche, vor allem auch vor dem Hintergrund, daß Kommissionspräsident Santer zugesagt hat, den Bericht der Kommission zum Eigenmittelsystem - mit dem für uns ganz besonders wichtigen Punkt der Nettozahlerproblematik - in der zweiten Hälfte des Oktobers, Anfang November vorzulegen. Das heißt, dieser Bericht wird auf dem EU-Gipfel in Wien zum ersten Mal diskutiert, aber nicht verabschiedet. Die eigentliche Verabschiedung und die Grundentscheidungen, die anstehen, finden dann unter deutscher Präsidentschaft statt.

Ich will in dem Zusammenhang noch einmal darauf hinweisen, daß es für uns ganz wichtig war und ist, daß in der heutigen Debatte deutlich geworden ist, daß es künftig zu einer wirklich fairen und gerechten Lastenteilung kommen muß. Das ist nicht eine Kampfansage an irgendjemanden, aber der jetzige Zustand ist nicht so, daß wir ihn weiter hinnehmen können.

Ich will auch gleich denen, die schon im Vorfeld in ihre Kommentare geschrieben haben, inwieweit das mit dem Wahlkampf zu tun hat, ganz klar die Antwort geben: Das Thema muß jetzt auf die Tagesordnung - es hat mit dem Wahlkampf in Deutschland überhaupt nichts zu tun -, weil wir im Zusammenhang mit der Agenda 2000 jetzt und nicht irgendwann die notwendigen Entscheidungen herbeiführen müssen. Wenn wir jetzt, sprich unter der deutschen Präsidentschaft im ersten Halbjahr des kommenden Jahres, nicht unsere Vorstellungen mit einbringen und durchsetzen können und auch nicht zu einem neuen Denken in der Europäischen Union kommen, zu einem Denken, das auch uns gerecht wird, dann werden wir keine Chance auf etliche Jahre hin haben.

Ich will noch einmal sagen: Der Zeithorizont sieht so aus, daß wir erstens davon ausgehen, daß es nur eine Entscheidung über das Gesamtpaket gibt. Ich sage das, weil es offensichtlich vor der Tagung in Cardiff gelegentlich in Brüssel oder anderswo die Meinung gab, man könne dieses oder jenes Stück aus dem Gesamtpaket herausnehmen. Wir haben heute früh in der Diskussion noch einmal einmütig und ganz klar betont - auch wenn mancher vorher etwas anderes sagte -: Es gibt ein Gesamtpaket, und es gibt keine Sonderentscheidung für diesen oder jenen Punkt. Das ist für uns als Deutsche sehr wichtig. Wir werden dann in Wien - nachdem die Vorlage der Kommission Ende Oktober/Anfang November kommt - eine erste Beratung haben. Dann werden wir in unserer Präsidentschaft zum Abschluß kommen müssen.

Dabei haben wir folgende Termine zu bedenken: Die Wahl zum Europäischen Parlament findet zwischen dem 10. und 13. Juni 1999 statt. Dabei müssen wir einen Vorlauf von ungefähr vier Wochen für den Wahlkampf rechnen. Bis Anfang Mai wird das Europäische Parlament also noch handlungsfähig sein. Das Parlament muß aber noch vor den Ferien und vor der Wahlpause den Finanzteil der Agenda ratifizieren, weil die bisherige Regelung - das möchte ich noch einmal in Ihre Erinnerung rufen - Ende 1999 ausläuft. Wir stehen hier also unter einem bestimmten Zeitdruck. Deswegen ist ganz klar, daß wir die Serie der Entscheidungen Ende März wohl im Rahmen eines zweitägigen Sondergipfels unter deutschem Vorsitz abschließen müssen. Im Vorlauf zu diesem Sondergipfel wird es sicherlich noch ein eintägiges informelles Sondertreffen geben. Es ist ganz klar: Wir müssen mit der Agenda 2000 und allen damit zusammenhängenden Fragen Ende März abgeschlossen haben, damit das Parlament trotz der Osterpause die Chance hat, die notwendigen Entscheidungen zu treffen.

Hier in Cardiff war neben den allgemeinen politischen Fragen das künftige Verhältnis der Europäischen Union zur Türkei ein wichtiges Thema - auch im Nachgang zu den Beratungen in Luxemburg. Daneben verweise ich auf die gesonderten Erklärung über die Entwicklung im Kosovo. Wir haben zur Stunde natürlich noch keinen Bericht darüber - jedenfalls keine seriöse Nachricht -, was bei dem auch von uns, nicht zuletzt von mir, nachdrücklich angeregten Gespräch zwischen Präsident Jelzin und Milosevic herausgekommen ist.

Zum Thema "Kosovo" möchte ich abschließend nur noch einmal sagen, daß außerhalb des eigentlichen Gebietes, einmal abgesehen von dem persönlichen Leid der betroffenen Menschen, von den Toten und den entsetzlichen Bestialitäten, die vorkommen und die eine schlimme Größe für sich darstellen, niemand so sehr betroffen ist von dieser Entwicklung wie wir, die Deutschen. Wir haben bei dem Konflikt in Bosnien-Herzegowina immerhin 350000 Flüchtlinge aufgenommen. Ich rühme mich dessen nicht; ich halte das für richtig. Das hat etwas mit der moralischen Statur unseres Landes zu tun. Wir haben, als wir wirklich in der Stunde Null waren, Hilfe von außen bekommen. Das wollen wir nie vergessen. Trotz all unserer Betroffenheit und Sorgen im eigenen Land sind wir eines der reichsten Länder der Welt - auch in Europa. Deswegen ist es richtig, daß wir helfen.

Wir - Bund, Länder und Gemeinden - haben immerhin 15 Milliarden D-Mark für die Unterstützung der 350000 Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina ausgegeben. Durch einen großen Einsatz vieler ist es gelungen, Bedingungen dafür zu schaffen, daß inzwischen rund 200000 dieser Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren und dort wieder etwas aufbauen konnten. Wir haben jedoch die bestürzende Erfahrung gemacht, daß in den letzten Wochen im Zusammenhang mit dem Konflikt im Kosovo viele Flüchtlinge aus dem Kosovo zu uns gekommen sind. In Deutschland befinden sich heute schon 140000 Flüchtlinge von dort. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen: Wenn die Entwicklung dort noch mehr eskaliert als das heute schon der Fall ist, dann wird diese Zahl erneut steigen.

Ich habe heute auch noch einmal meinen Kollegen gesagt:

Es kommt darauf an, daß wir wirklich helfen. Wir brauchen nicht nur Proklamationen, wir brauchen konkrete Hilfe. Außer uns - und außer Österreich - gibt es kein anderes Land, das davon so betroffen ist.

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 55. 12. August 1998.