16. November 1989

Regierungserklärung zum Besuch in Polen und zur Lage in der DDR

 

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Heute, nur acht Tage nach meinem Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland, geht es erneut um Deutschland.

Die historischen Ereignisse in der DDR und insbesondere in Berlin haben das Gesicht Deutschlands und Europas verändert. Man kann sagen: In diesen Tagen schaut die Welt auf unser Vaterland.

Das war auch während meines offiziellen Besuchs in der Volksrepublik Polen vom 9. bis 14. November in besonderem Maße spürbar.Alle Gesprächspartner haben immer wieder nach dem zukünftigen Weg der Deutschen gefragt. Sie haben diskutiert und darüber nachgedacht, welche Folgen sich aus dieser Entwicklung auch für ihr Land, für Polen, ergeben könnten.

Beides - unser Verhältnis zu Polen und die Entwicklung in der DDR - hat direkt miteinander zu tun, nicht nur wegen der engen Nachbarschaft der Deutschen und Polen im Herzen Europas, sondern vor allem auch wegen des unbestreitbaren Zusammenhangs:
- Wären Polen und Ungarn - zusammen mit der Sowjetunion - nicht mit tiefgreifenden Reformen in Politik, in Wirtschaft und Gesellschaft vorangegangen, hafte die jetzige Entwicklung in der DDR nicht heranreifen können. Ich habe in Warschau betont: 1980, auf der Danziger Lenin-Werft, ging es um Ziele, die auch die Deutschen in der DDR betreffen: um Freiheit, um Menschenwürde, um Menschenrechte, um Selbstbestimmung.
- Genauso gilt: Ohne den Erfolg der Reformen in Polen wird auch die Umgestaltung in anderen Staaten Mittel- und Osteuropas, nicht zuletzt in der DDR, in Schwierigkeiten geraten. Der Erfolg in Polen liegt im gesamteuropäischen, liegt im deutschen Interesse.

Gerade deshalb habe ich für alle Polen die zentrale Botschaft mitgenommen:
- "Wir ermutigen Sie auf Ihrem Wege."
- "Sie gehen diesen schwierigen Weg, der Ihnen Anstrengungen und Opfer abverlangen wird, nicht allein."
- "Sie können sich auf Ihre Freunde in der Bundesrepublik Deutschland und im Westen insgesamt verlassen."
- "Polen braucht Europa - aber Europa braucht auch ein freies und stabiles Polen."

Als erster Regierungschef eines EG- bzw. NATO-Mitglied-Staates, der Polen nach dem Amtsantritt seiner neuen Regierung besuchte, habe ich - in voller Übereinstimmung mit unseren Partnern - diese Botschaft auch im Namen unserer Freunde und Partner überbracht.

Ich bin sicher, daß das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der EG am kommenden Samstag in Paris diese Unterstützung deutlich werden läßt.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, mein Besuch in Polen fand 50 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges statt, der so unendlich viel Leid über die Menschen gebracht hat, zuerst und vor allem auch über das polnische Volk. Mit den Kränzen, die ich an verschiedenen Orten und Mahnmalen niederlegte, habe ich die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft geehrt.

Das dunkelste, das schrecklichste Kapitel in der deutschen Geschichte wurde in Auschwitz und Birkenau geschrieben. Ich habe dort ins Besucherbuch eingetragen:
Die Mahnung dieses Ortes darf nicht vergessen werden. Den Angehörigen vieler Völker, insbesondere den europäischen Juden, wurde hier in deutschem Namen unsagbares Leid zugefügt. Hier geloben wir erneut, alles zu tun, damit das Leben, die Würde, das Recht und die Freiheit jedes Menschen, gleich, zu welchem Gott er sich bekennt, welchem Volk er angehört und welcher Abstammung er ist, auf dieser Erde unverletzt bleiben. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, an diesem Ort und bei anderen Begegnungen ist mir immer wieder klargeworden, was viele von Ihnen genauso empfinden: Es darf nichts verschwiegen, verdrängt oder vergessen werden. Es kommt jetzt vor allem auch darauf an, für die Gestaltung einer friedlichen Zukunft die richtigen, die wesentlichen Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Ganz in diesem Sinne hat der heutige Papst als Kardinal 1977 in Mainz gesagt:
"Wir wollen nicht vergessen, was uns trennt, aber wir wollen vor allem an das erinnern, was uns verbindet."

Wir wollen Verständigung und Aussöhnung zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk. Dies ist unser historischer Auftrag. Das ist der Wunsch, das ist die Sehnsucht der Menschen in beiden Ländern.

Den deutsch-polnischen Ausgleich voranzubringen, ist ein Gebot von Moral und Vernunft. Zugleich geht es um unsere Verantwortung für Gegenwart und Zukunft des ganzen Europa.

Noch nie in der Nachkriegszeit hat es mit Polen in so wenigen Tagen einen so dichten Dialog auf höchster politischer Ebene gegeben wie in diesen Tagen.

Mit Staatspräsident Jaruzelski habe ich ein dreieinhalbstündiges, ungewöhnlich intensives Gespräch geführt. Es war geprägt vom Bewußtsein gemeinsamer Verantwortung für ein friedliches Zusammenleben unserer Länder und Völker.

Staatspräsident Jaruzelski ist nach seinem eigenen Bekunden davon überzeugt, daß mein Besuch in Kürze einen spürbaren Durchbruch im Prozeß der Verständigung zwischen unseren beiden Staaten bewirken kann. Er ist sich sicher, daß jetzt gute Voraussetzungen geschaffen sind für eine Aussöhnung zwischen Polen und Deutschen, und zwar nicht erst in ferner Zukunft.

Mit meinem Gastgeber, Ministerpräsident Mazowiecki, habe ich über viele Stunden sprechen können. Die sieben Bundesminister in meiner Begleitung haben mit ihren polnischen Partnern eine Fülle von Fachgesprächen geführt, über die sie nach dem Wunsch des Hauses in den zuständigen Ausschüssen des Bundestages selbst berichten werden.

Der Ministerpräsident und ich hatten uns vorgenommen, mit diesem Besuch einen Durchbruch in unseren Beziehungen zu erzielen. Bereits mit den elf Abkommen und Übereinkünften, die jetzt in Warschau unterzeichnet wurden, ist dieses Ziel erreicht.

Dabei zählt auch die Tatsache, daß seit Mitte der siebziger Jahre zwischen uns und der Volksrepublik Polen keine nennenswerten Verträge und Vereinbarungen mehr abgeschlossen wurden. Alte Stolpersteine - wie die Frage der Ortsbezeichnungen, wie die Einbeziehung Berlins, wie Probleme beim Recht der Staatsangehörigkeit - sind nunmehr endgültig ausgeräumt. Ich denke, die Tür für eine zukunftsgewandte Zusammenarbeit auf allen Gebieten ist weit aufgestoßen:
Erstens: Mit dem Abkommen über Jugendaustausch schaffen wir endlich die Grundlage für die Begegnung von vielen Tausenden junger Deutschen und Polen jährlich. Das Abkommen steht allen offen, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung, von ihrer religiösen Überzeugung.

Jugendaustausch - das wissen wir nicht zuletzt aus den Erfahrungen bei der deutsch-französischen Verständigung - braucht auch eine vernünftige Infrastruktur. Deshalb werden wir unser besonderes Augenmerk darauf richten, gemeinsam in Polen mehr Jugendherbergen und Jugendbegegnungsstätten zu errichten.

Ich bitte alle, die es angeht - die Bundesländer, die Gemeinden, die Städte, die Kreise, die Kirchen und Verbände -, auch ihrerseits Schwerpunkte in der Begegnung der jungen Generation beider Länder zu setzen. Nichts, meine Damen und Herren, kann den Frieden und die gute Nachbarschaft unserer Völker zuverlässiger verbürgen als die Begegnung der jungen Generation.

Zweitens: Das Abkommen über Umweltschutz hat für Polen und für uns erstrangige Bedeutung. Jeder Besucher von industriellen Ballungsgebieten in Polen kann dies aus eigener Erfahrung bezeugen. Bundesminister Töpfer war vor Ort und hat als Pilotprojekte der Zusammenarbeit ein modernes Feuerungsverfahren für Kraftwerke angeboten, das Schadstoffemissionen drastisch verringert und zugleich den Brennstoff optimal nutzt. Dies ist angesichts der Tatsache, daß Kohle Hauptenergieträger und zugleich Hauptexportgut Polens ist, auch ein Vorhaben von erstrangiger volkswirtschaftlicher Bedeutung.

Drittens: Unsere wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit steht nunmehr auf fester vertraglicher Grundlage. Frau Bundesminister Lehr hat ein erstes Ressortabkommen über die Zusammenarbeit im Gesundheitswesen und im Bereich der medizinischen Wissenschaft unterzeichnet. Enge Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von AIDS und im Bereich der Gentechnik für Pflanzen und Tiere ist verabredet.

Viertens: Das Abkommen über die Errichtung von Kulturinstituten war längst überfällig. Deutsche und Polen, die einen so unverwechselbaren Beitrag zum kulturellen Erbe Europas geleistet haben, werden nun auch im Bereich der Sprache, der Literatur, der Musik und der bildenden Kunst besser zusammenarbeiten und einander auch näherkommen können.

Fünftens: Von unmittelbar praktischer und, wie ich denke, auch vielfach existentieller Bedeutung für viele Bürger beider Länder ist die Wiederaufnahme des Rechtshilfeverkehrs in Zivil- und Strafsachen. Ich würdige dies zugleich - ich möchte dies betonen - als einen Ausdruck der Tatsache, daß Polen heute entschlossene Schritte zu einem modernen Rechtsstaat geht - mit allen Konsequenzen, auch für die innere Verfassung des Landes.

Sechstens: möchte ich den Vertrag über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen hervorheben. Mit ihm ist die rechtliche Voraussetzung gegeben, daß die Bundesregierung Investitionen in Polen garantiert. Dies wiederum ist unerläßliche Vorbedingung für ein stärkeres Engagement unserer Wirtschaft, insbesondere in der Form von Gemeinschaftsunternehmen.

Lassen Sie mich auch an dieser Stelle an alle Unternehmen und an alle Unternehmer in unseren Ländern appellieren:
- Nutzen Sie möglichst rasch die Chancen des neuen Vertrages.
- Tragen Sie mit technischem Wissen und kaufmännischem Können dazu bei, Polen in einer entscheidenden Phase seiner Reformpolitik zu unterstützen.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, am letzten Tag meines Besuches haben Ministerpräsident Mazowiecki und ich eine Gemeinsame Erklärung unterzeichnet. Es ist, wie ich denke, ein wegweisendes Dokument zur umfassenden Regelung unserer Beziehungen auf allen Gebieten, wie wir, die Bundesrepublik Deutschland, es bisher noch mit keinem anderen Land vereinbart haben.

Diese Gemeinsame Erklärung ist das Kursbuch deutschpolnischer Zusammenarbeit für die nächsten Jahre bis hin zur Schwelle dieses Jahrtausends. Sie verdient ausführlichere Kommentierung als dies in einer Regierungserklärung möglich ist. Aber auch ein kurzer Überblick läßt ermessen,
- welche Fülle bislang offener und zum Teil seit langem belastender Fragen nunmehr entschieden ist,
- welche Chancen der Zusammenarbeit neu erschlossen wurden,
- welche bedeutenden Zukunftsperspektiven sich auf allen Gebieten für unsere Völker eröffnen.

Ich will einige wichtige Punkte hervorheben.
Erstens: Der Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 ist und bleibt festes Fundament der deutsch-polnischen Beziehungen. Er wird auch in Zukunft nach Buchstaben und Geist erfüllt. Wir wollen auch Ernst machen mit Artikel 3, der beiden Ländern aufgibt, ihre Beziehungen voll zu normalisieren und umfassend zu entwickeln. Die Gemeinsame Erklärung ist ein ganz wesentlicher Schritt zur Erfüllung unserer Vertragspflicht.

Zweitens: Teil des neuen Kapitels in der Geschichte der Deutschen und der Polen muß die umfassende Begegnung der Völker, der Menschen sein:
- So haben der Ministerpräsident und ich nicht nur regelmäßige Begegnungen auf höchster politischer Ebene vereinbart;
- so haben nicht nur die Außenminister ständige Konsultationen und die Fachminister vertiefte Kontakte verabredet,
- sondern wir plädieren auch für die Verstärkung der Parlamentskontakte und für möglichst viele Begegnungen von Menschen aus allen Teilen der Bevölkerung, insbesondere der jungen Generation.

Bei meinen Gesprächen im Senat und im Sejm wurde von den dortigen Kollegen - ich darf das so formulieren - der besonders dringliche und herzliche Wunsch vorgetragen, den ich hier im Plenum des Bundestages gerne weitergebe:
Alle Fraktionen und der Bundestag als Ganzes mögen besonders intensive Beziehungen zu ihnen pflegen. Darüber hinaus hat man mir sehr nachdrücklich folgende Bitte vorgetragen: "Wir sind erst seit wenigen Monaten im Amt; wir möchten an euren Erfahrungen partizipiere".

Ich gebe diese Botschaft gerne weiter. Sie entspricht sicherlich unser aller Meinung und wird auch erwidert werden. Die Kirchen, die Parteien, die Gewerkschaften und die Stiftungen, die ich besonders hervorheben möchte, alle gesellschaftlichen Organisationen und Verbände und - ich wiederhole noch einmal - nicht zuletzt die Städte und Gemeinden sind aufgefordert, an diesem Werk mitzuarbeiten.

Drittens: Ein Hauptkapitel der Erklärung ist der wirtschaftlich-finanziellen Zusammenarbeit gewidmet. Wir wollen unseren Worten Taten folgen lassen, die sich im internationalen Vergleich sehr wohl sehen lassen können. Meine Damen und Herren, die polnische Wirtschaftsreform kann nur gelingen, wenn binnenwirtschaftliche Anstrengungen - und das erfordert dort das Engagement eines jeden einzelnen - auch mit internationaler Zusammenarbeit Hand in Hand gehen.

Wir sind angesichts drängender Probleme - gerade jetzt, vor Beginn der Winterszeit - bereit, sofort zu helfen. Wir machen unsere Zusagen nicht davon abhängig, daß Polen vorher mit dem Internationalen Währungsfonds ein Anpassungsprogramm und ein Beistands-Kreditabkommen vereinbart und daß es weitere Umschuldungsvereinbarungen abschließt.

Natürlich muß beides schnell erreicht werden. Ich habe mit Premierministerin Thatcher, Präsident Bush und Staatspräsident Mitterrand in diesen Tagen darüber gesprochen. Ich hoffe, daß es uns durch gemeinsame Bemühungen gelingt, den Wunsch der Polen zu erfüllen, die jetzt laufenden Verhandlungen noch im Dezember abzuschließen.

Angesichts der Gesetzgebung - es sind einschneidende gesetzliche Bestimmungen, die in Polen zum 1. Januar in Kraft treten sollen - ist es dringend notwendig, daß die Verantwortlichen, die ich eben angesprochen habe, und viele andere sich bereit finden, das bei solchen Verhandlungen übliche Zeitmaß abzukürzen und so schnell wie möglich handlungsfähig zu werden. Ich glaube, das ist eine wichtige Hilfe für Polen.

Wir selbst werden in allen Bereichen, in denen wir Verantwortung tragen, mitwirken: im Internationalen Währungsfonds, in der Weltbank, im Pariser Club der staatlichen Gläubiger und nicht zuletzt in der von der Europäischen Gemeinschaft koordinierten Gruppe der 24 westlichen Länder.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, Schwerpunkt des deutschen Hilfsprogramms sind neue Hermes-Bürgschaften, für die wir einen Rahmen von 3 Milliarden DM bis Ende 1992 vorsehen - selbstverständlich strikt projektgebunden. Ich lege auch hier und heute Wert auf die Feststellung, daß es der Wunsch der polnischen Seite ist, daß dies als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden wird und daß der Begriff "strikt projektgebunden" ganz genauso aufgefaßt wird, wie ich ihn hier verwende.

Es war auch ein dringender Wunsch nicht nur von unserer, sondern auch von der polnischen Seite, zur Auswahl und Prüfung geeigneter Projekte ein Gremium von Fachleuten zu schaffen, damit sich Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen.

Ich will noch einmal sagen: Das hat nichts mit Bevormundung zu tun. Es war die polnische Seite, die nachdrücklich immer wieder gefordert hat, daß sie von Erfahrungen, die wir im Umgang mit anderen Ländern gemacht haben, profitieren will.

Es ist eine ausgesprochen positive Entwicklung, daß hier eine völlige Übereinstimmung im Blick auf die Vergabe von Krediten gefunden wurde.

Wir werden auch im Einvernehmen mit unseren polnischen Partnern überall dort, wo dies gewünscht wird, Polen zusätzlich beraten, insbesondere auch bei der konzeptionellen und praktischen Bewältigung des Übergangs von der zentralen Planwirtschaft zur marktwirtschaftlichen Entwicklung.

Meine Damen und Herren, ich will hier auch sagen: Ich messe der personalen Hilfe für Polen aus der Bundesrepublik Deutschland, aus den Ländern der Europäischen Gemeinschaft und von überall her, wo sich Fachleute finden, eine ganz große Bedeutung bei. Es ist einer der Hauptwünsche des polnischen Ministerpräsidenten, den er immer wieder erwähnt hat, daß Polen bei der Einschätzung der zukünftigen Entwicklung Beratung braucht. Ich glaube, daß es im Blick auf die Zusammenarbeit beider Seiten sehr gut wäre, wenn wir hierfür die entsprechende Zahl von Persönlichkeiten gewinnen könnten.

Wir sind ferner bereit, einen substantiellen Beitrag von 500 Millionen DM für ein abgestimmtes internationales Programm zur Stabilisierung der polnischen Währung zu leisten, wie es Präsident Bush Anfang Oktober vorgeschlagen hat.

Diese Summe ist Teil der 3 Milliarden DM, die ich eben erwähnt habe. Ich hoffe - auch das will ich hier aussprechen -, daß die vielen unter unseren Freunden und Partnern, die sich in den letzten Monaten auch international zur Hilfe für Polen bekannt haben, ihren Worten auch Taten folgen lassen, damit die erforderliche Summe möglichst bald erreicht wird.

Der sogenannte Jumbo-Kredit, eine ungute Hinterlassenschaft der siebziger Jahre, wird abschließend geregelt: Alle rückständigen Forderungen - rund 760 Millionen DM - werden erlassen, und alle künftigen Forderungen in Höhe von rund 570 Millionen DM werden bei Fälligkeit in Zloty erbracht und für Projekte gemeinsamen Interesses in Polen eingesetzt.

Wir werden zusätzlich Kapitalanlagen in Polen garantieren. Bei alledem gilt: Qualität vor Quantität. Es kommt zukünftig auf die Güte und nicht auf die Größenordnung eines Projekts an.

Ich hoffe sehr, daß insbesondere der mittelständische Bereich in der Bundesrepublik Deutschland sich in Polen engagieren wird. Auf alle Fälle ist es unsere Pflicht, die Einzelprojekte mit größter Sorgfalt zu prüfen. Meine Damen und Herren, diese weitreichenden wirtschaftlichen und finanziellen Hilfsmaßnahmen für Polen haben wir uns sehr genau überlegt. Wir haben uns dabei von der Erwägung leiten lassen,
- daß der Erfolg der polnischen Reformen, gerade weil er auch in unserem eigenen Interesse liegt, einen hohen Einsatz wert ist und 
- daß wir damit zugleich im Sinne einer innerwestlichen Lastenteilung einen substantiellen Beitrag zu den politischen Zukunftsaufgaben leisten, die unser Bündnis beim Gipfeltreffen Ende Mai dieses Jahres erneut bekräftigt hat.

Ich will das noch einmal unterstreichen: Ich bin schon der Auffassung, daß das, was wir als NATO-Mitgliedstaat, als Teil der EG hier für Polen leisten, auch im gesamteuropäischen Auftrag geschieht. Diese Unterstützung für Polen trägt zu einer Stabilisierung der Gesamtentwicklung bei. Diese Leistung sollten unsere westlichen Freunde gelegentlich bei anderen Diskussionen - wie beispielsweise burden-sharing - sehr wohl berücksichtigen.

Viertens: Für uns von zentraler Bedeutung war, ist und bleibt die Sicherung der Rechte unserer Landsleute. Hier ist mit der Gemeinsamen Erklärung in der Tat der Durchbruch erreicht, auf den wir und insbesondere auch die Betroffenen seit Jahrzehnten gewartet haben.

Bereits im Januar 1989 hatte das abschließende Dokument des Wiener KSZE-Folgetreffens mit seinen Bestimmungen über die kulturellen Rechte von Minderheiten Neuland betreten. Dann folgte in der Regierungserklärung von Ministerpräsident Mazowiecki die Wende in der polnischen Nationalitätenpolitik.

Beide Seiten ermöglichen es Personen und Bevölkerungsgruppen, die deutscher beziehungsweise polnischer Abstammung sind oder die sich zur Sprache, Kultur oder Tradition der anderen Seite bekennen, ihre kulturelle Identität zu wahren und zu entfalten.

Der menschenrechtliche Standard der UN-Menschenrechtserklärung, des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte sowie der KSZE-Dokumente wird auf Gegenseitigkeit verbürgt, das Prinzip von Gruppenrechten anerkannt. Darüber hinaus sind seit langem gewünschte Einzelregelungen festgeschrieben:
- Deutscher Sprachunterricht gleichmäßig in allen Landesteilen Polens;
- Möglichkeit zur Herstellung, Verbreitung und Einfuhr von Publikationen in deutscher Sprache;
- Gründung von Vereinigungen zur Pflege von deutscher Sprache, Kultur und Tradition. Damit geht auch endlich ein langgehegter Wunsch der deutschen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge in Erfüllung. Mit Dankbarkeit stelle ich auch fest, daß es nunmehr den zuständigen Trägerorganisationen beider Länder möglich ist, die Gräber der Kriegstoten zu pflegen und zu erhalten.

Fünftens: In einem Europa gewidmeten Kapitel bekennen sich beide Seiten zu dem Ziel,
- die Trennung Europas zu überwinden und
- einen Kontinent des Friedens und der Zusammenarbeit - eine europäische Friedensordnung oder ein gemeinsames europäisches Haus - zu schaffen.

Insbesondere bekennen wir uns auch mit Polen
- zu den Menschenrechten und ihrem Vorrang in der internationalen und der Innenpolitik,
- zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und
- zum Recht jedes Staates, das eigene politische und soziale System frei zu wählen.

Sechstens: Zu Anfang und am Ende der Gemeinsamen Erklärung sind die großen Ziele unserer Politik und zugleich der tiefe und langgehegte Wunsch beider Völker aufgezeigt, durch Verständigung und Versöhnung die Wunden der Vergangenheit zu heilen, das gegenseitige Vertrauen zu festigen und gemeinsam eine bessere Zukunft zu bauen. Seit vielen Jahren wurden diese Ziele immer wieder beschworen. Jetzt sind sie erstmals in einem feierlichen Dokument festgeschrieben. Ministerpräsident Mazowiecki und ich wissen dabei sehr wohl,
- daß man Versöhnung nicht von Staats wegen verordnen und
- daß Vertrauen, auch Vertrauen zwischen den Völkern, nur allmählich wachsen kann.

So werden, meine Damen und Herren, auch die deutschpolnischen Beziehungen heute und morgen von widersprüchlichen Gefühlen vieler Menschen, nicht zuletzt auf Grund ihrer persönlichen Erfahrungen, in beiden Ländern begleitet sein. Gerade sie möchte ich an die großen Persönlichkeiten der vergangenen vier Jahrzehnte erinnern, die immer wieder mutig für den Ausgleich eingetreten sind.

Stellvertretend für viele nenne ich Stefan Kardinal Wyszynski. Er hat das Wort der polnischen Bischöfe aus dem Jahr 1965 an ihre deutschen Amtsbrüder - "wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung" - angeregt. Er wurde damals für dieses Wort vielfach angefeindet, und doch hat sich dieser Schritt als richtig und als wegweisend erwiesen.

In ihrer Antwort baten die deutschen katholischen Bischöfe ihrerseits um Verzeihung. Es gibt ähnliche Dokumente von großer Innigkeit und Intensität seitens der evangelischen Kirchen.

In diesem Geist des Friedens sind Ministerpräsident Mazowiecki und ich - und mit uns viele Deutsche und Polen - uns in Kreisau begegnet: an einem Ort, der an die besseren Kapitel deutscher Geschichte erinnert; an einem Ort, der für den deutschen Widerstand gegen Hitler steht.

Ein Gottesdienst unter freiem Himmel, zelebriert vom Oppelner Bischof Nossol, mitgestaltet auch von Repräsentanten der Evangelischen Kirche in Deutschland, bildete den feierlichen Rahmen.

Viele Tausende von Menschen aus Ober- und Niederschlesien, viele Landsleute waren angereist. Millionen von Menschen in beiden Ländern waren Zeugen des Geschehens am Fernsehschirm. Die meisten, so denke ich, werden empfunden haben, daß hier versucht wurde, im Geist der Versöhnung über Gräben Brücken in die Zukunft zu bauen.

In Kreisau sind sich Deutsche und Polen neu begegnet. So haben Ministerpräsident Mazowiecki und ich noch an Ort und Stelle vereinbart, das frühere Gutshaus der Grafen von Moltke zu einer internationalen Begegnungsstätte auszubauen, bei der die Chance besteht, daß die Jugend Europas, und vor allem die Jugend Polens und Deutschlands, zusammenkommen.

Mit diesen umfassenden und weitreichenden Ergebnissen verknüpfen wir beide, der polnische Ministerpräsident und ich, die Hoffnung, daß wir ein weiteres Stück vorangekommen sind, auf dem Weg zu einer gemeinsamen, einer friedlichen, einer freundschaftlichen Zukunft unserer Völker und vor allem zu guter Nachbarschaft.

Dieses Ziel ist durch die aktuellen Ereignisse in der DDR weder geschmälert noch gar zweitrangig geworden. Im Gegenteil: Es hat an Bedeutung gewonnen.

II. Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit der Nacht vom 9. auf den 10. November hat sich die Lage der Nation im geteilten Deutschland grundlegend verändert. Nach über 28 Jahren hat der Freiheitswille unserer Landsleute in Ost-Berlin und in der DDR die Mauer und die Sperren, die uns voneinander trennten, friedlich überwunden.

Vor den Blicken der Weltöffentlichkeit feierten die Menschen in Deutschland am vergangenen Wochenende nach fast drei Jahrzehnten der Trennung ein Fest des Wiedersehens, der Zusammengehörigkeit und der Einheit. Im Mittelpunkt des Geschehens stand und steht Berlin. Vor aller Welt präsentiert sich diese Stadt mit ihren großartigen Menschen als die Stadt der Deutschen.

Die Berlinerinnen und Berliner haben in einer uns alle bewegenden Weise bekundet, daß sie in ein und derselben Stadt leben, daß sie zusammengehören und zusammenkommen wollen.

Wir empfinden in diesen Tagen in erster Linie Freude und Genugtuung darüber, daß die friedliche Kraft der Freiheit Grenzen zu überwinden und ein unbeschwertes Zusammenkommen von Familien, Freunden und Landsleuten zu ermöglichen vermag. Wir können stolz darauf sein, wie herzlich unsere Landsleute hier in der Bundesrepublik Deutschland empfangen wurden.

Ich glaube, es ist angemessen, auch in dieser Stunde nicht die Opfer von Mauer und Stacheldraht, von Schießbefehl und Selbstschußanlagen zu vergessen. Die tiefen Wunden, die ein von den Menschen abgelehntes Regime geschlagen hat, sind noch lange nicht verheilt. Mauer und Grenzbefestigung sind Sinnbild für anmaßenden Machtwillen, für ideologische Verblendung.

Die Ereignisse der letzten Tage und Wochen müssen auch jene zutiefst beschämen, die insgeheim oder öffentlich ihren Frieden mit der Mauer gemacht hatten.

Meine Damen und Herren, bei aller Freude über die neugewonnene Bewegungsfreiheit unserer Landsleute in der DDR dürfen wir nicht vergessen:
- Wir stehen erst am Anfang einer Entwicklung.
- Wir sind noch lange nicht am Ziel: Das Recht aller Deutschen auf Selbstbestimmung ist noch nicht verwirklicht; der Auftrag des Grundgesetzes, die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden, ist noch nicht erfüllt.
- Wir müssen bei aller Freude - dies will ich betonen -weiter besonnen bleiben und mit kühlem Verstand, überlegt handeln.

Gefragt sind jetzt Augenmaß und auch politische Phantasie. Zunächst geht es darum, daß die Welle der Sympathie, der Hilfsbereitschaft und der Solidarität nicht verebbt, die die Menschen am vergangenen Wochenende in Berlin und überall dort getragen hat, wohin unsere Landsleute gekommen sind. Es gilt, auch in der vor uns liegenden Zeit unseren Landsleuten in der DDR die dringend benötigte Unterstützung für die Neugestaltung in ihrer Heimat zu geben.

Die Menschen in der DDR sind auf unsere Hilfe angewiesen. Eine Reihe von Maßnahmen können und müssen wir sofort - und, wo nötig, einseitig - ergreifen. In vielen anderen Bereichen kommt es jedoch entscheidend auch auf die Mitwirkung der DDR an;

Erstens: Die Ausreisewelle der vergangenen Wochen hat innerhalb der DDR zu einer Reihe von akuten Versorgungsengpässen geführt. Ich denke beispielsweise an die medizinische Versorgung und Betreuung der Bevölkerung. Die Bundesregierung hat bereits vor einigen Tagen die unentgeltliche Entsendung dringend benötigter Dialyseteams angeboten. Sie ist darüber hinaus bereit, bei der schwierigen Lage im Gesundheitswesen der DDR konkrete Hilfe zu gewähren.

Unsere Angebote reichen von kurzfristig möglicher Unterstützung bei der Behebung personeller Engpässe und von Lücken in der Arzneimittelversorgung bis zur mittel- und langfristigen Zusammenarbeit in zahlreichen medizinischen Bereichen.

Jeden Tag - auch das will ich hier einmal besonders hervorheben - melden sich Ärzte, Zahnärzte und medizinisches Fachpersonal, die Patienten in der DDR helfen wollen. Die Bundesregierung ist zu unverzüglichen Gesprächen über die Voraussetzungen für einen Einsatz von Ärzten und anderen medizinischen Hilfskräften aus der Bundesrepublik Deutschland im Gesundheitswesen der DDR bereit.

Wir werden selbstverständlich überall dort helfen, wo wir helfen können.

Meine Damen und Herren, das gleiche gilt auch dort, wo wir von uns aus einen praktischen Beitrag dazu leisten können, daß unsere Landsleute ihre neugewonnene Reisefreiheit auch tatsächlich wahrnehmen können.

Auch die Städtepartnerschaften erhalten ein ganz neues Gewicht. Sie können und müssen dazu genutzt werden, jetzt nicht nur Amtsinhaber zusammenzuführen, sondern Menschen aus allen Bereichen der Bevölkerung.

Wir alle empfinden große Freude darüber, daß Mauer und Stacheldraht jetzt wirklich durchlässig geworden sind.

Der Reise- und Besucherverkehr hinüber und herüber ist damit ganz erheblich erleichtert worden. Es kommt jetzt darauf an, daß die zahlreichen neu geschaffenen Übergänge möglichst rasch für eine dauerhafte Öffnung hergerichtet werden.

Zweitens: Wir sind - wie bisher - zur Zusammenarbeit mit der DDR bereit. Wir alle wissen beispielsweise, daß das Begrüßungsgeld allein keine tragfähige Lösung der Devisenprobleme sein kann, die sich aus der neugewonnenen Reisefreiheit und damit auch aus der neuen Dimension des Reiseverkehrs ergeben.

Dieses Thema berührt uns beide. Wir werden sehr rasch und in Kürze darüber mit der DDR zu sprechen haben. Meine Absicht ist, möglichst bald eine Lösung für die allernächste Zeit zu erreichen. Ich gehe davon aus, daß uns die DDR-Führung in den bevorstehenden Gesprächen ihre Vorschläge übermitteln wird.

Die DDR selbst wird hier einen erheblichen Beitrag zu leisten haben. Sie erzielt aus dem innerdeutschen Reiseverkehr Deviseneinnahmen und wird einen Teil dieser Einnahmen - das gilt vor allem für jene aus dem Zwangsumtausch - unmittelbar zum Nutzen der Menschen aufwenden müssen, um sie mit angemessenen Reisedevisen ausstatten zu können.

Die bestehende Zusammenarbeit mit der DDR - insbesondere im Bereich des Umweltschutzes - wollen wir intensivieren. Bereits eingeleitete und vorbereitete Projekte werden wir selbstverständlich fortführen. So werden zur Zeit elf Umweltschutzprojekte abschließend geprüft. Wir betrachten sie deshalb als so wichtig, weil sie die Umwelt auf beiden Seiten entlasten.

Auch in anderen Bereichen liegt uns an Verbesserungen, die den Menschen hüben wie drüben unmittelbar zugute kommen. Ich denke dabei vor allem auch an eine schnelle Verbesserung des innerdeutschen Telefonverkehrs. Ich gehe auch davon aus, daß nach Bildung der neuen Regierung in der DDR Ende dieser Woche auf der Ebene der Fachressorts möglichst schnell die notwendigen Kontakte aufgenommen werden. Im übrigen - auch das will ich anmerken - muß jetzt die DDR-Führung endlich den Weg dafür frei machen, daß die beim Bonner Besuch von Generalsekretär Honecker beschlossene Gemeinsame Wirtschaftskommission ihre Arbeit aufnimmt.

Bisher ist das daran gescheitert, daß die für uns unabdingbare Einbeziehung West-Berlins von der DDR abgelehnt wurde. Ich hoffe, daß die DDR ihre Haltung in dieser zentralen Frage bald ändert. Berlin darf aus der Entwicklung nicht ausgeklammert werden. Ich bin in dieser Frage zu keinerlei Kompromiß bereit.

Drittens: Entscheidend ist und bleibt ein grundlegender Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems in der DDR. Ich bekräftige hiermit erneut: Wenn ein solcher Wandel jetzt verbindlich und unumkehrbar in Gang gesetzt wird, sind wir auch zu einer völlig neuen Dimension der Hilfe und Zusammenarbeit bereit.

Wir wollen niemandem unsere Vorstellungen aufdrängen. Aber niemand kann bestreiten, daß sich der Sozialismus als ein einziger Fehlschlag erwiesen hat.

Ich wiederhole, was ich vor einer Woche von dieser Steife aus erklärt habe:wir wollen nicht unhaltbar gewordene Zustände stabilisieren. ohne eine grundlegende Reform des Wirtschaftssystems, ohne den Abbau bürokratischer Planwirtschaft und den Aufbau einer marktwirtschaftlichen Ordnung (wird) wirtschaftliche Hilfe letztlich vergeblich bleiben.

Die Menschen in der DDR haben Anspruch auf eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die ihnen einen gerechten Anteil an den Früchten ihrer Arbeit sichert. Planwirtschaft ist Bevormundung. Marktwirtschaft bedeutet Entscheidungsfreiheit, persönliche Selbstbestimmung und die Chance zum Wohlstand.

Das Bundeskabinett hat in seiner Sitzung am 11. November 1989, am vergangenen Samstag, die Führung der DDR aufgerufen, das Tor zu einem grundlegenden Wandel in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu öffnen.

Reisefreiheit ist ein erster, wenn auch ein sehr wichtiger Schritt. Aber es geht um mehr, wenn die berechtigten Wünsche und Erwartungen der Menschen in der DDR endlich erfüllt werden sollen. Sie wollen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Sie wollen die ganze Freiheit.

Es geht um Meinungs- und Informationsfreiheit. Wer in den Westen reisen darf, der muß auch zu Hause westliche Zeitungen lesen können. Es geht um eine freie Presse, die ohne Eingriffe von Staat und Partei allein in journalistischer Verantwortung berichtet und kommentiert. Es geht um freie Gewerkschaften, die die Interessen der Arbeitnehmer frei von staatlicher und parteiamtlicher Weisung wahrnehmen können. Und es geht insbesondere um die Gründung von unabhängigen Parteien, die sich in freien, gleichen und geheimen Wahlen der souveränen Entscheidung des Wählers stellen und diese Entscheidung ohne Vorbehalt akzeptieren.

Dies alles, meine Damen und Herren, heißt, daß der ausschließliche Führungsanspruch, daß das Machtmonopol einer einzigen Partei der Vergangenheit angehören muß.

Es bedeutet auch, daß mit der unseligen Vergangenheit politischer Strafverfolgung in der DDR aufgeräumt wird. Letztlich - ich betone dies - kann dies nur durch eine umfassende Revision des Strafrechts geschehen.

Deshalb kann die Amnestie vom 27. Oktober 1989, die wir begrüßen, die aber nur Flüchtlinge betrifft, nur ein erster Schrift sein. Sie muß aus Gründen der Gerechtigkeit rasch auf andere Personen ausgedehnt werden, die im Zusammenhang mit Flucht oder Übersiedlungsvorhaben belangt oder inhaftiert wurden.

Die DDR-Führung sollte jetzt auch rasch die Begegnungsmöglichkeiten der Menschen in beiden Richtungen grundlegend erleichtern. Besuchsreisen aus der Bundesrepublik Deutschland in die DDR müssen spontan und ohne bürokratischen Aufwand möglich sein. Ziel muß eine visafreie Einreise in die DDR sein.

Außerdem kann die DDR durch eine umgehende Abschaffung ihrer Einfuhrgebühren bei der Mitnahme im Reiseverkehr dazu beitragen, daß vermehrt private und mitmenschliche Hilfe den Menschen in der DDR schnell und wirksam zugute kommt. Ich glaube, auch angesichts der bevorstehenden Weihnachtszeit wäre dies ein wichtiger Schrift für die Menschen in beiden Teilen Deutschlands.

Mit der Öffnung der innerdeutschen Grenze haben wir eine neue Dimension des Reiseverkehrs aus der DDR erhalten, die auch uns in der Bundesrepublik Deutschland vor neue Aufgaben stellt.

Die Reisewelle am vergangenen Wochenende hat in eindrucksvoller Weise gezeigt, daß die große Mehrheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger bereit ist, gute Gastgeber zu sein.

Ich möchte auch von dieser Stelle aus allen danken, die spontan mit ihrer Hilfe und Unterstützung dazu beigetragen haben, daß für viele aus der DDR diese erste Reise in ihrem Leben über die innerdeutsche Grenze zu einem unvergeßlichen Erlebnis wurde.

Ich schließe in diesen Dank die Kirchen und die karitativen Einrichtungen ebenso ein wie die vielen Mitarbeiter in den kommunalen und staatlichen Behörden, in den Geschäften und all jene, die einfach bereit waren, mitzutun und mit offenem Herzen die Besucher aus der DDR zu empfangen.

In seiner Sitzung vom 11. November hat das Bundeskabinett mein Angebot, einen grundlegenden Wandel in der DDR umfassend zu unterstützen, noch einmal nachdrücklich bekräftigt. Wir sind zu einer Hilfe bereit, die vor allem auch den Menschen direkt zugute kommt.

Ich habe darüber auch eingehend mit dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Krenz am Telefon gesprochen und ihm vorgeschlagen, daß Bundesminister Seiters noch in dieser Woche zu vorbereitenden Gesprächen nach Ost-Berlin reist. Auf ausdrücklichen Wunsch von Herrn Krenz soll dies nicht in dieser Woche, sondern erst zu Beginn der kommenden Woche
- nach Abschluß der Regierungsbildung in der DDR - geschehen. Das Treffen wird am kommenden Montag, dem 20. November, stattfinden.

Bundesminister Seiters wird sowohl mit dem Staatsratsvorsitzenden Krenz als auch mit dem neu gewählten Ministerpräsidenten Modrow zusammentreffen. Vorgestern hat er mit anderen Vertretern der Bundesregierung und mit einem Repräsentanten des Berliner Senats über Gesprächsinhalte beraten. Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit überhaupt sagen:
Ich halte es für ganz selbstverständlich - dazu bedarf es keinerlei öffentlicher Aufforderung -, daß wir in dieser besonderen Situation möglichst eng mit dem Berliner Senat zusammenarbeiten. Das ist eine bare Selbstverständlichkeit. Wenn jeder der in Berlin Verantwortlichen weiß, wie pflegliche Umgangsformen aussehen sollten, dann wird es überhaupt keine Probleme geben.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich eine grundsätzliche Bemerkung zu den jetzt bevorstehenden Gesprächen machen. Ich brauche hier nicht zu sagen, daß dies ungewöhnlich wichtige Gespräche sind, und zwar für beide Seiten; denn wir haben ein Interesse am Erfolg des Reformprozesses in der DDR. Deswegen werden wir - ich formuliere das einmal so - keine Zeit und keine Mühe scheuen, um diese Gespräche intensiv zu führen. Wenn ein erstes Gespräch nicht zum Erfolg führt, wird von unserer Seite ohne Zweifel die Bereitschaft bestehen, weitere Gespräche zu führen.

Wir wollen bei den Gesprächen in Ost-Berlin erfahren, wie das Reformprogramm der DDR-Führung tatsächlich aussieht, welche konkreten Schritte sie sich vorgenommen hat, wie sich der angekündigte Wandel vollziehen soll und wie damit die Erwartungen der Menschen in der DDR erfüllt werden.

Es geht uns - und auch mir - vor allem darum zu erfahren, wie sich die DDR-Führung die Durchführung der angekündigten freien Wahlen im einzelnen vorstellt, ob sie dafür einen angemessenen Zeitraum vorsieht, der für die Bürger akzeptabel ist, ob dies ein Termin ist, der auch eine vernünftige Vorbereitung eines solchen zentralen Ereignisses ermöglicht. Die Fragen, die hier entstehen, kann jeder von uns selbst beantworten.

Der Staatsratsvorsitzende und ich haben vereinbart, in ständigem Kontakt miteinander zu bleiben und - wenn erforderlich - sofort miteinander Verbindung aufzunehmen. Das war - direkt und indirekt - in den letzten Tagen praktisch durchgehend der Fall.

Wir haben vereinbart, daß wir uns auch bald persönlich in der DDR treffen - außerhalb von Ost-Berlin. Bei uns bestand Einigkeit, daß diese Entwicklung auf beiden Seiten - ich wiederhole es noch einmal - Besonnenheit und Augenmaß vonstatten gehen muß.

Meine Damen und Herren, auch zu diesem Gespräch will ich sagen: Mein Wunsch ist, daß wir uns möglichst bald nach dem Treffen zwischen Herrn Seiters und den Verantwortlichen in der DDR persönlich treffen. Der Termin selbst ist jetzt einfach noch nicht zu fixieren. Ich habe auch den Eindruck, daß die Führung der DDR im Augenblick zunächst einmal daran interessiert ist, die Vorgespräche zu führen und dann erst diesen Termin zu bestimmen. Ich will hier noch sagen: Ich werde alles tun, um zu einem frühestmöglichen, vernünftigen Zeitpunkt dieses Gespräch oder - wenn sich daraus weiteres ergibt - diese Gespräche zu führen.

Meine Damen und Herren, die Welle der Übersiedlungen aus der DDR scheint abzuebben. Offenbar hat die Öffnung der Grenzen den Menschen in der DDR Hoffnung gemacht, daß nun die weiteren notwendigen Reformen zügig in Angriff genommen werden.

Neben den politischen Reformen muß es in nächster Zeit insbesondere auch darum gehen, die materiellen Lebensbedingungen für die Menschen in der DDR umfassend zu verbessern, damit sie sich in ihrer angestammten Heimat wohlfühlen und sie nicht verlassen. Auch dies war ein Thema bei unserer telefonischen Unterhaltung.

Bei der Unterstützung des Wandels in der DDR geht es um eine nationale Verantwortung. Es geht aber auch um eine Aufgabe von europäischer Dimension. So wie sich der Wandel in Polen, in Ungarn und in der Sowjetunion auf die DDR auswirkt, so haben auch Erfolg oder Mißerfolg der Reformen in der DDR Rückwirkungen auf die übrigen Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts. Alle Europäer sind gefordert, und das gilt ganz besonders auch für unsere Partner in der Europäischen Gemeinschaft.

Ich habe deshalb Staatspräsident Mitterrand, dem Präsidenten des Europäischen Rates, vorgeschlagen, dieses Thema zu einem zentralen Thema beim Gipfeltreffen der Staatsund Regierungschefs der EG Anfang Dezember in Straßburg zu machen. Und ich begrüße es sehr, daß wir bereits am kommenden Samstagabend ein erstes informelles Vorgespräch, einen informellen Gipfel, in Paris haben werden.

Ich empfinde es auch als einen positiven Schritt, daß der EG-Kommission in Kürze ein Mandat für Verhandlungen über ein Handelsabkommen zwischen der EG und der DDR erteilt werden soll. Frau Premierministerin Thatcher, Präsident Bush und Staatspräsident Mitterrand haben mir gegenüber ihre besondere Freude über die jüngste Entwicklung in Deutschland geäußert, ihre Bewunderung vor allem auch zum Ausdruck gebracht für die Friedfertigkeit, mit der die Menschen in der DDR diese Reformen durchsetzen.

Sie haben mir und uns ihre Glückwünsche für diesen Erfolg unserer Politik ausgesprochen und ihre weitere Unterstützung zugesagt. Meine Damen und Herren, ich habe mich natürlich über diese Glückwünsche gefreut; denn sie sind ja berechtigt. Und sie machen deutlich, daß unsere Politik auch in diesem Feld besonders erfolgreich war. Wir sind unseren Partnern und Freunden in der Gemeinschaft besonders dankbar. Wir wissen, daß wir auch weiterhin ihren Rückhalt brauchen; denn - das sage ich auch an dieser Stelle und angesichts der politischen Entwicklung wir sind und bleiben Teil der westlichen Wertegemeinschaft. Und wir wissen, daß die Lösung der deutschen Frage und die Überwindung der Teilung Europas in einem untrennbaren Zusammenhang stehen. Deshalb wäre es auch ein verhängnisvoller Irrtum - und das sage ich auch in vielen Diskussionen dieser Tage in der Bundesrepublik - die westeuropäische Integration im Blick auf die Entwicklungen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa zu verlangsamen. Wir wollen, daß die Europäische Gemeinschaft für alle demokratischen Staaten Europas offenbleibt. Aber wir dürfen dabei nicht vergessen, daß das Ziel der Gemeinschaft die Europäische Union bleibt.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, Freiheit war, ist und bleibt der Kern der deutschen Frage. Das heißt vor allem: Unsere Landsleute in der DDR müssen selbst entscheiden können, welchen Weg in die Zukunft sie gehen wollen. Sie haben dabei keinerlei Belehrungen - von weicher Seite auch immer - nötig. Sie wissen selbst am besten, was sie wollen. Das gilt auch für die Frage der deutschen Einheit, die Frage der Wiedervereinigung.

Wer unsere Landsleute nicht bevormunden möchte, der sollte ihnen jetzt auch nicht einreden, das Beste sei die staatliche Teilung unseres Vaterlandes.

Wenn Selbstbesinnung, die zur Selbstbestimmung führt, einen Sinn macht, dann gilt es, diese Entscheidung zu respektieren. Wir werden jede Entscheidung, die die Menschen in der DDR in freier Selbstbestimmung treffen, selbstverständlich respektieren.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Bundesregierung hält an ihrem deutschlandpolitischen Kurs fest. Es war und ist und bleibt ein erfolgreicher Kurs. Er dient den Menschen und nicht irgendeiner Ideologie. Wir sind entschlossen, unsere bisherige Politik des Dialogs und der praktischen Zusammenarbeit mit der DDR im Interesse der Menschen auf beiden Seiten fortzusetzen.

Die vor uns liegenden Probleme bedeuten eine große Herausforderung. Sie erfordern Tatkraft und Phantasie, Behutsamkeit und Geduld. Wir kennen unsere Pflicht.

Quelle: Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenogr. Berichte. Bd. 151. Plenarprotokoll 11/176. 16. November 1989, S. 13326-13335.