Dr. Kohl (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben gestern über zweieinhalb Stunden die Regierungserklärung des neugewählten Herrn Bundeskanzlers gehört. Viele unserer Mitbürger haben diese Erklärung nach den langen Verhandlungen über die Bildung der Bundesregierung mit Spannung erwartet. Sie alle sind wie wir bitter enttäuscht worden.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Diese Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler, ist ein Dokument der Ratlosigkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU. - Lachen bei der SPD.)
Sie beschränkt sich weithin auf eine Zustandsbeschreibung, und nicht einmal dies tut sie offen und ehrlich mit dem Mut zur notwendigen und auch unbequemen Wahrheit.
Sie, Herr Bundeskanzler, verharmlosen die Lage, Sie nennen keine Lösungen, Sie zeigen keine Perspektive auf.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Statt dessen beschränken Sie sich auf Appelle, auf Ankündigungen, schlagen eine Unzahl von Kommissionen vor, sagen den anderen, den Verbänden, den Gewerkschaften, den Ländern, den Gemeinden, wie sie sich verhalten sollen, verschweigen aber hier im Parlament und auch gegenüber dem Bürger, was Sie wirklich machen werden.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Eine Regierungserklärung soll aber erklären, was die Regierung tun wird, und sie soll nicht andere belehren, wie sie sich verhalten sollen.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
So wird man der Richtlinienkompetenz des Kanzlers, der Funktion der Leitung der Regierung nicht gerecht.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Herr Bundeskanzler, mit dieser Rede stehlen Sie sich aus der politischen Verantwortung und wälzen sie auf Dritte ab.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Mit Ihrer buchhalterischen Aufzählung aller möglichen Einzelfragen
(Beifall bei der CDU/CSU.)
entziehen Sie sich der zwingenden Notwendigkeit, Prioritäten zu setzen und die wirklichen Probleme der Bundesrepublik offen und klar anzusprechen, jene Probleme, die unsere Mitbürger offensichtlich klarer sehen als Sie. Wer die Sorgen der Bürger dieses Landes kennt und dann Ihre Regierungserklärung gehört hat, der kann sich über diesen Verlust an Realität nur wundern. Wovon täglich die Zeitungen schreiben, das findet in Ihrer Erklärung nicht statt. Bürgernähe, Herr Bundeskanzler, das ist für Sie ein Fremdwort.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Sie haben eine große Chance gehabt, und Sie haben sie vertan. Dies war Ihre erste Regierungserklärung nach einer Wahl. Viele hatten gehofft, und viele hatten Ihnen gewünscht, daß Sie den Mut zu einem neuen Anfang fänden. Die Bereitschaft unserer Mitbürger ist groß, auch eine scheinbar unpopuläre Politik mit zu tragen, wenn sie nur mutig angepackt, vernünftig begründet und von einer vertrauenswürdigen Regierung durchgesetzt wird.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Herr Bundeskanzler, nach manchem, was ich in diesem Jahr beobachten konnte, und auch nach Ihrer gestrigen Rede fürchte ich sagen zu müssen: Sie kennen die Menschen nicht mehr, die Sie regieren; Sie verkennen ihre Ängste, ihre Sorgen, ihre Unsicherheit.
(Zurufe von der SPD und der FDP.)
Das haben Sie dokumentiert, als Sie zum Thema Renten sagten: So heftig hatten wir diese Ablehnung nicht erwartet.
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
Herr Bundeskanzler, das für mich Unfaßbare ist, daß Sie es nicht fassen können, daß sich Bürger auf das Wort des Kanzlers verlassen
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
und daß diese Bürger empört sind, wenn der Kanzler sein Wort einfach bricht, so, als wäre dies das Natürlichste von der Welt. Wer soll Ihnen jetzt eigentlich noch glauben?
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Wer so die Axt an die Wurzel des Vertrauens in den Staat legt, ist dabei, den Lebensnerv der Demokratie zu gefährden, wenn nicht gar zu zerstören.
(Beifall bei der CDU/CSU. - Zurufe von der SPD.)
Herr Bundeskanzler, ich spreche Sie in dieser Frage so klar und offen an, weil Ihre Rentenpolitik eben kein Einzelfall, sondern - es tut mir leid, daß ich es sagen muß - ein Symptom Ihres Regierungsstils ist. Man kann durch Worte täuschen, indem man Falsches ankündigt und das gegebene Wort bricht. Man kann auch durch Taten täuschen, indem man dem Wähler beschlossene Tatsachen bewußt vorenthält. Sie und Ihre Partei haben in jüngster Zeit beides getan.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Es ist ein bleibender Skandal in der Geschichte deutscher Demokratie, daß fünf Minuten nach Schließung der Wahllokale am 3. Oktober Herr Osswald seinen Rücktritt bekanntgab.
(Beifall bei CDU/CSU.)
Und, Herr Bundeskanzler, wenige Minuten nach Ihrer Wahl zum Kanzler trat jener Minister zurück, den Sie und Herr Wehner im Wahlkampf als den Aktivposten Ihres Kabinetts gerühmt haben.
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
Herr Bundeskanzler, können Sie es uns, können Sie es mir verübeln, wenn sich dann die Frage aufdrängt: War nicht dieser Zeitplan im Zusammenhang mit Herrn Arendt notwendig, um Ihre Wahl zum Kanzler überhaupt erst zu ermöglichen?
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
Die Begründung, die Herr Arendt für seinen Schritt gegeben hat, wirft zugleich ein Schlaglicht auf die tiefen Risse in seiner eigenen Partei. Die Art, wie Sie, Herr Bundeskanzler, Herrn Arendt hier verabschiedet haben, bestätigt diese These.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Wir in der CDU/CSU haben keinen Grund, uns besonderer Freundschaft zu Herrn Arendt zu rühmen. Nur meine ich, er ist ein Mann, der es nicht verdient hat, in dieser Weise in diesem Hause als Bundesminister verabschiedet zu werden.
(Beifall bei der CDU/CSU. - Katzer [CDU/CSU]: Sehr wahr! - Lachen bei der SPD. - Wehner [SPD]: Morgenstunde hat Kohl im Munde!)
- Aber, Herr Kollege Wehner, Sie selbst haben es doch in der Stunde der Regierungserklärung so empfunden. Ihr Gesicht sprach doch Bände für jeden, der Sie beobachtet hat.
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. - Lachen bei der SPD. - Wehner [SPD]: Um so fröhlicher blickt es heute!)
- Herr Kollege Wehner, fröhlicher zu blicken um 9 Uhr morgens, ist eine Sache, die mit Ihnen nicht zusammengeht.
(Heiterkeit und erneuter Beifall bei der CDU/CSU. - Wehner [SPD]: Sie reden über Dinge, die Sie nicht verstehen!)
Meine Damen und Herren, auf dieser Regierungsbank sitzt die schwächste Regierung, die wir in dieser Bundesrepublik je hatten.
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. - Rawe [CDU/CSU]: Jawohl, sehr richtig! - Lachen und Zurufe von der SPD.)
Über 1,2 Millionen Wähler haben Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD und FDP, seit 1972 den Rücken gekehrt. Das Schauspiel der über zwei Monate andauernden Koalitionsgespräche hat die Divergenzen zwischen SPD und FDP offenbart. Die Regierungserklärung als das Ergebnis dieser Verhandlungen beweist, daß Sie sich eben nur noch auf den kleinsten Nenner einigen konnten.
(Lachen und lebhafte Zurufe von der SPD.)
Jetzt verfolgen die Bürger den Beginn Ihrer zweiten Amtsperiode mit Sorge, Skepsis und Gleichgültigkeit.
(Anhaltende Zurufe von der SPD.)
Selten zuvor haben sich solch geringe Erwartungen an eine neue Regierung geknüpft und
(Beifall bei der CDU/CSU.)
war das Vertrauen in die Wahrhaftigkeit einer neuen Regierung so gering wie heute.
(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.)
Meine Damen und Herren, wir in der Union empfinden darüber keine Schadenfreude;
(Lachen bei der SPD. - Wehner [SPD]: Nein?! - Weitere Zurufe von der SPD.)
denn unser Land braucht eine starke Regierung.
(Beifall bei der CDU/CSU. - Wehner [SPD]: Ja!)
Die Menschen, unsere Mitbürger, müssen darauf vertrauen können,
(Zurufe von der SPD: Können sie!)
daß jene, die sie gewählt haben, Ihrem Auftrag gerecht werden.
(Wolfram (Recklinghausen) [SPD]: Das werden sie auch!)
Das gilt für Sie und das gilt für uns gleichermaßen.
(Beifall bei der CDU/CSU. - Zurufe von der SPD.)
Wir, CDU und CSU, nehmen den Auftrag als Opposition an,
(Lachen bei der SPD. - Wehner [SPD]: Hört! Hört!)
ohne Wenn und Aber.
(Zurufe von der SPD.)
Die Rollen sind klar verteilt.
(Wehner [SPD]: Ja!)
Wir wollen nicht insgeheim mitregieren;
(Lachen bei der SPD.)
aber wir entziehen uns nicht unserer Verantwortung.
(Beifall bei der CDU/CSU. - Wehner [SPD]: Nein, nein!)
Wir sind zur Zusammenarbeit im Interesse unseres Landes bereit. Sie müssen wissen, daß Sie ohne uns die Probleme nicht erfolgreich lösen können,
(Beifall bei der CDU/CSU.)
und Sie müssen wissen, daß Sie auch auf unsere Vorstellungen eingehen müssen, wenn Sie die Wiedergesundung der Wirtschaft wollen, wenn Sie die Staatsfinanzen in Ordnung bringen möchten, wenn Sie die Bürokratisierung unseres Lebens einschränken möchten, wenn Sie die drückenden Steuer- und Abgabenlasten eindämmen wollen und wenn Sie Sicherheit nach außen und nach innen zu schaffen bereit sind.
18,5 Millionen Bürger haben am 3. Oktober die Unionsparteien gewählt. Sie haben uns, die Union, beauftragt, freiheitliche Politik für Deutschland zu gestalten.
(Beifall bei der CDU/CSU. - Zurufe von der SPD.)
Wir werden ihnen gerecht werden; denn dieser Auftrag verpflichtet uns. Hier im Hause und draußen bei den Bürgern werden wir unseren Beitrag leisten, um die Politik der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit als klare Alternative zu der Politik der Regierung zu gestalten.
(Zurufe von der SPD.)
Demokratie lebt von Kritik und Kontrolle der Macht. Je weniger die Regierungsfraktionen diese Aufgabe erfüllen, desto wichtiger ist die Rolle der Opposition.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Diktatoren kennen nur Regierungen. Opposition, das ist das Kennzeichen lebendiger Demokratie.
(Beifall bei der CDU/CSU. - Zurufe von der SPD.)
Regierung und Opposition, beide haben hier im Parlament Rechenschaft zu geben. Wir rechtfertigen uns nicht vor uns selbst, sondern vor dem Wähler, der uns den Auftrag gab.
(Zurufe von der SPD.)
Wir beide, Regierung/Regierungskoalition und Opposition, haben die gleiche demokratische Qualität. Wir alle vertreten demokratische Parteien, die gemeinsam um den rechten Weg für unser Land streiten. Sie als Regierung sind nicht Partei und Richter zugleich. Sie haben nicht zu urteilen, wann die Opposition konstruktiv ist und wann nicht, wann sie dem Staat nützt und wann sie schadet. Die Demokratie kennt keine Opposition von der Regierung Gnaden.
(Beifall bei der CDU/CSU. - Zurufe von der SPD.)
Wir beide haben uns vor der kritischen Öffentlichkeit des Wählers zu stellen. Wir brauchen um der Demokratie willen die offene Diskussion über die Werte und Ziele unseres Handelns.
Ich stelle mich bewußt hier und heute in die Tradition -
(Lebhafte Zurufe von der SPD.)
- Meine Damen und Herren von der SPD, mir scheint, nach dem 3. Oktober ist es für Sie Zeit, wieder die Gedankengänge einer demokratischen Opposition einzuüben; das liegt nahe.
(Beifall bei der CDU/CSU. - Zurufe von der SPD.)
Ich stelle mich bewußt in die Tradition des ersten Oppositionsführers im Deutschen Bundestag, in die Tradition Kurt Schumachers.
(Lachen und Zurufe von der SPD.)
Er sagte 1949 in seiner ersten Erwiderung auf die Regierungserklärung Konrad Adenauers, daß die Überbewertung der Regierung und die Abwertung der Opposition obrigkeitsstaatlichem Denken entspringe, daß Opposition -
(Zurufe von der SPD. - Beifall bei der CDU/CSU. - Wehner [SPD]: Wenn Ihre Vorfahren Sie jetzt sehen würden!)
- Aber, Herr Wehner, wir brauchen nicht unsere Ahnen. Uns genügt, wenn wir Sie sehen, wenn ich das so deutlich sagen darf.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Die Opposition ist nicht dann staatserhaltend, wenn sie durch die Regierung wohlwollend beurteilt wird. - Ich weiß nicht, warum Sie sich über diese Sätze Kurt Schumachers aufregen. Das sind doch keine parteipolitischen Sätze. Das sind staatspolitisch uns alle verbindende Sätze.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Die Opposition erfüllt nach demokratischem Verständnis ihre Rolle nicht als Hilfsmotor, sondern als Kontrolle und Alternative der Regierung.
Wir sind, ich sage es noch einmal, zur verantwortlichen Mitarbeit bereit, wo es die Probleme zum Wohle unseres Landes erfordern. Herr Bundeskanzler, ich komme auf Ihr Angebot zurück, das Sie gestern an mich persönlich und an meine Fraktion machten, und ich hoffe, daß sich das auch wirklich in der Praxis realisiert. Das alles schließt harte Auseinandersetzungen, wo sie nötig sind, nicht aus, und sie werden nötig sein, wo es um die Grundlagen und um die Grundwerte unseres Staates geht. Das sind wir alle als Demokraten unserem demokratischen Rechtsstaat schuldig.
Meine Damen und Herren, meine Freunde und ich wünschen der Bundesregierung Erfolg,
(Anhaltende Zurufe von der SPD.)
wo immer es darum geht, Gefahren von unserem Volk abzuwenden und das zu tun, was im Interesse der Freiheit und der Gerechtigkeit notwendig ist. Wir sind nicht so hintersinnig, aus Nachteilen für Volk und Staat Vorteile für die Partei ziehen zu wollen.
(Beifall bei der CDU/CSU. - Zurufe von der SPD.)
Nur, wer uns braucht - und diese Regierung wird uns brauchen -, darf die Opposition nicht bitten, sich von Fall zu Fall hinten anzustellen. Wer uns braucht, der muß mit uns rechtzeitig und vollständig über die Bereiche reden, in denen gemeinsames Handeln möglich und erforderlich ist; er darf dies nicht erst dann tun, wenn die Dinge im Vermittlungsausschuß zur Entscheidung anstehen.
(Beifall bei der CDU/CSU. - Wehner [SPD]: Waren Sie schon einmal dort!)
Wer uns braucht, muß die Probleme beim Namen nennen, auch wenn er sie selbst mit verursacht hat.
Wir brauchen einen Bundeskanzler mit dem Mut zur Kurskorrektur, nicht einen Kanzler, dessen Talent in der Verschleierung der Probleme zu sehen ist.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Was diese Regierung kennzeichnet, das ist der Mangel an Mut, den Menschen im Lande in einer ernsten Lage reinen Wein einzuschenken. All jene Themen, Herr Bundeskanzler, deren kontroverse Erörterung Sie vor dem Wahltag als Angstmache und Diffamierung und Schwarzmalerei dargestellt haben,
(Sehr wahr! bei der CDU/CSU.)
haben Sie jetzt, nach dem Wahltag,
(Dr. Marx [CDU/CSU]: Nicht falsch Zeugnis geben!)
zu Aufgaben Ihrer Regierung erklärt.
(Zustimmung bei der CDU/CSU.)
Ich habe nichts dagegen, und wir begrüßen diese Hinwendung der Regierung zu politischen Vorstellungen der Union,
(Zurufe von der SPD.)
und wir werden Ihnen auch in Zukunft Gelegenheit dazu geben. Wir wissen, daß die geistige Führung das Fundament der politischen Führung bleibt.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Zusammenarbeit, Herr Bundeskanzler, erfordert aber auch eine Korrektur Ihrer Art der Gesetzgebungsarbeit. Zentrale Probleme unserer Politik sind oft bis an den Rand des gerade noch Erträglichen aufgeschoben und dann, wenn es gar nicht mehr anders ging, in unverantwortlicher Weise übers Knie gebrochen worden.
Den Schaden, den hat der Bürger, der sich oft von heute auf morgen auf unausgereifte, ja zum Teil widersprüchliche Gesetze einrichten mußte. Ich halte dies für das genaue Gegenteil einer ordentlichen Politik, und ich meine, daß bei dieser Methode auch unsere Rechtsordnung und das Vertrauen in sie über Bord gehen.
Herr Bundeskanzler, ich fordere Sie in aller Form auf: Lassen Sie in der jetzt beginnenden Legislaturperiode von diesem Hauruckverfahren ab, auch wenn es Ihnen noch so schwer fällt, bei vernünftiger Beratung Ihre hauchdünne Mehrheit zusammenzuhalten.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Und lassen Sie auch ab von der Methode, Ihre Gesetzesvorhaben zunächst hinter Schloß und Riegel in komplizierten Koalitionsverhandlungen auf Punkt und Komma zu fixieren und erst dann, wenn es zu spät ist, die Vereinbarkeit mit der Verfassung und mit dem sachlichen Gebot des Gegenstandes zu überprüfen. Die Erfahrungen, die wir - wir alle, auch Sie - in letzter Zeit mit dem Mitbestimmungsgesetz und mit dem § 218 gemacht haben, sollten Ihnen eine Lehre sein. Dieses Verfahren mag man ein- oder zweimal praktizieren; dann ist das Vertrauen des Bürgers ruiniert. Und ich sage Ihnen, wir werden uns an solchen Praktiken nicht beteiligen.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Und, Herr Bundeskanzler, lassen Sie doch bitte die dauernde Schelte des Bundesrates sein.
(Dr. Schäfer (Tübingen) [SPD]: Hat er ja gar nicht gemacht.)
Ich weiß, daß Sie sich schwer tun mit der bundesstaatlichen Ordnung, aber sie ist unsere gemeinsame Ordnung.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Und vor allem: Diese Schelte entspricht in gar keiner Weise den politischen Tatsachen in unserem Land. Der Bundesrat hat auch in der vergangenen Legislaturperiode mehr als 80 % der Gesetze unverändert passieren lassen und hat bei dem wichtigen Rest nicht selten die Folgen der Gesetzgebungsarbeit der Bundesregierung korrigieren müssen. Noch nicht zehn, meine Damen und Herren, der 518 verabschiedeten Gesetze sind im Bundesrat gescheitert. Es ist keine wirklich wichtige Frage ungeregelt geblieben. Daß manche Entscheidungen anders ausgefallen sind, als dies die Regierung wünschte, entspricht der vom Grundgesetz verfügten Machtverteilung in unserem Staat.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Herr Bundeskanzler, ich will Sie nur warnen vor dem Versuch, dieses Organ unserer Verfassungsordnung umgehen zu wollen. Sie sollten sich vielmehr durch eine rechtzeitige Kontaktaufnahme die Mitarbeit auch dieser Kammer sichern. Das gebietet die Tradition unseres Verfassungsstaats und aller Verfassungsstaaten.
Zusammenarbeit, Herr Bundeskanzler, setzt fairen Umgang miteinander voraus. Ich verhehle nicht, daß es mir auf Grund mancher Erfahrungen schwerfällt, Ihnen in dieser Beziehung einen neuen Vertrauensvorschuß zu geben. Aber wir sind trotzdem alle zu einem neuen Anfang bereit.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Sie haben gestern, Herr Bundeskanzler, in Ihrer Erklärung sehr lang und breit zu den Themen der Wirtschafts- und der Finanzpolitik gesprochen. Hierzu wird im einzelnen für unsere Seite noch mein Kollege Franz Josef Strauß sprechen.
(Lachen bei der SPD. - Wehner [SPD]: Hört! Hört! - Weitere Zurufe von der SPD.)
- Ich weiß gar nicht, was da für Sie so erheiternd ist.
(Erneutes Lachen bei der SPD.)
Meine Damen und Herren, das ist der Unterschied zwischen uns - das können wir gleich austragen -: Wir hatten große Probleme und Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen, aber wir haben sie überwunden und nicht in geheimer Abstimmung bei der Wahl des Kanzlers ausgetragen!
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. - Wehner [SPD]: Davor hat Sie der 3. Oktober bewahrt! - Weitere Zurufe von der SPD.)
Ich möchte überhaupt sagen, meine Damen und Herren, daß wir heute ja nur eine erste Runde in der Generalaussprache vornehmen und daß die Sachdebatte zu vielen wichtigen Details der Politik im Januar erfolgen wird.
(Wehner [SPD]: Und heute nichts zur Sache?)
Meine Damen und Herren, Voraussetzung für die Wiedergewinnung der Vollbeschäftigung, der Preisstabilität, solider Staatsfinanzen und wirtschaftlichen Wachstums ist eine ungeschminkte Bestandsaufnahme. Wie sehen denn die Tatsachen aus? Die Zahl der Arbeitslosen nähert sich wieder der Millionengrenze; die strukturellen Defizite in den öffentlichen Haushalten sind unbewältigt; die Preisentwicklung gibt keineswegs Anlaß zu irgendeiner Beruhigung; die Verunsicherung der Wirtschaft hält an. Während dem Bürger bereits jetzt nur noch 40 Pfennig von jeder mehr verdienten Mark bleiben,
(Dr. Ritz [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
drohen neue Mehrbelastungen, sei es bei der Mehrwertsteuer, sei es im Krankenversicherungsbereich.
Dieser Entwicklung kann nicht entgegengetreten werden mit einer kleinen technischen Änderung hier, einer kleinen technischen Änderung dort. Unsere Wirtschaft braucht wieder Vertrauen. Das ist die Voraussetzung für den Wiederaufstieg.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Nur so kann es gelingen, die mehr als 100 Milliarden DM betragende Investitionslücke zu schließen. Die Ertragskraft der Unternehmen muß gestärkt werden, damit mit neuen Investitionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden können.
Meine Damen und Herren, die enormen Chancen und Kräfte der Sozialen Marktwirtschaft, die durch sozialistische Ideologien und Praxis unter sozialdemokratischer Regierungsverantwortung immer mehr verschüttet wurden, müssen wieder freigesetzt werden. Das ist eine der Voraussetzungen.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Haben Sie Mut zur Sozialen Marktwirtschaft; dann brauchen Sie nicht zu einer Zeit, wo wir noch vor dem Problemberg stehen, in bekannter Manier nach draußen den Eindruck zu erwecken, wir seien bereits wieder über den Berg.
Zur Sozialen Marktwirtschaft - und wir bejahen dies - gehört eine konsequente Wettbewerbspolitik. Ziel ist es, die Leistungsfähigkeit der mittelständischen Unternehmen und ihre Chancengleichheit am Markt zu sichern. Das, was Sie, Herr Bundeskanzler, in diesem Zusammenhang über den Mittelstand gesagt haben, ist barer Hohn. Wie soll der Mittelstand - ich zitiere - „an den Klippen der Weltwirtschaftsrezession vorbeisteuern", wenn er schon vorher an den Klippen Ihrer Regierungspolitik scheitern mußte?
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Die Tatsache, daß im Jahre 1975 die Zahl der Konkurse mit nahezu 10.000 rund fünfmal so hoch war wie im Schnitt der 20 Jahre vor 1969, spricht eine klare Sprache.
(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)
Wir erleben hier einen bislang nicht gekannten Auszehrungsprozeß unserer marktwirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Substanz. Wenn dennoch bei vielen unserer Mitbürger der Wille zur Selbständigkeit noch vorhanden ist, so ist dies doch ein eindrucksvolles Zeugnis für den Leistungswillen und die Kraft persönlicher Initiative bei vielen in dieser Bundesrepublik.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Wir dürfen gerade diese Mitbürger nicht im Stich lassen. Wir brauchen diese Gruppe für die Zukunft unseres Landes.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Herr Bundeskanzler, zur Energiepolitik haben Sie sich auffallend verschwommen geäußert. Wir haben erwartet, daß Sie Ihre Ankündigungen aus den letzten drei Jahren wahrmachen. Als uns vor drei Jahren der Ölschock traf, haben Sie ein Programm zur Erschließung und Weiterentwicklung neuer - auch nationaler
- Energiequellen angekündigt. Was ist eigentlich, außer neuen Ankündigungen gestern, aus diesen Programmen real und konkret geworden? Und - auch das ist richtig; Sie sagten es -: Energiepolitik ist eine wichtige Angelegenheit von nationalem und internationalem Interesse. Deswegen sind wir mit Ihnen der Meinung, daß die nationalen Energiepolitiken abgestimmt werden. Aber wenn ich sage: „nationale Energiepolitik", dann heißt das doch, daß die Bundesregierung und der Kanzler hier einen Führungsauftrag haben.
Meine Damen und Herren, die Erfahrungen, die die schleswig-holsteinische Landesregierung vor einigen Wochen in Brokdorf machte, zeigten eben nicht jenen entschlossenen Kanzler, der das Notwendige ausgesprochen hat.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Wir sind uns einig, daß die Errichtung von Kernenergieanlagen eine ebenso schwierige wie wichtige Sache im Interesse nationaler Politik ist. Und damit ist es primär - das sagen ja auch die Verfassung und die Gesetze - eine Aufgabe der Bundesregierung. Nur, meine Damen und Herren, so kann es nicht gehen: daß die Regierung in geheimer Beratung Gutachten gutheißt, Projekte auf den Weg bringt, dann aber, wenn es draußen im Lande mulmig wird, wenn es heißt, man muß für seine Meinung einstehen, die Regierung untergetaucht ist und der Kollege Stoltenberg das Geschäft allein für uns alle besorgen muß.
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. - Ein Abgeordneter der SPD-Fraktion meldet sich zu einer Zwischenfrage.)
Präsident Carstens: Herr Abgeordneter Dr. Kohl, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Dr. Kohl (CDU/CSU): Nein, Herr Präsident, ich möchte diese Erklärung abgeben, ohne von Zwischenfragen unterbrochen zu werden. Ansonsten bin ich bei jeder Debatte gern bereit, Zwischenfragen zuzulassen.
(Zurufe von der SPD.)
- Meine Damen und Herren, dies ist meine Antwort auf die Regierungserklärung des Bundeskanzlers, der zweieinhalb Stunden beanspruchte. Ich will jetzt hier meine Zeit ausnutzen.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Ich will das eben Gesagte in einem Punkt gern einschränken.
(Zurufe von der SPD: Aha!)
Der Kollege Friderichs kam wenigstens, wenn auch spät, noch zum Vorschein und hat seine Meinung geäußert. Sie in der SPD sollten sich aber nicht über diesen Punkt erregen, denn Ihre Freunde in Schleswig-Holstein haben das Feuer doch tatkräftig geschürt.
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
Ich hätte mir gewünscht, daß der stellvertretende Vorsitzende der SPD, Helmut Schmidt, zu seinen schleswig-holsteinischen Genossen auch öffentlich das Notwendige gesagt hätte.
(Beifall bei der CDU/CSU. - Dr. Jenninger [CDU/CSU]: Dazu ist er zu feige!)
Herr Bundeskanzler, ich spreche dieses Thema in dieser Deutlichkeit an, weil ich - in einem anderen Amt - bei vielen Gesprächen Zeuge war, die Sie mit uns, den Repräsentanten der Länder, damals führten, als es unter dem Eindruck des Ölschocks darum ging, die Energiebasis so schnell wie möglich zu sichern. Damals war es eine ganz andere Sprache, die ich hörte, als das, was ich gestern in der Regierungserklärung las.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Damals war die Rede von bürokratischen Hemmnissen und solchen Dingen.
Wir sind für streng rechtsstaatliche Verfahren. Wir sind dafür - hier stimme ich Ihnen mindestens teilweise zu -, daß nicht jede Bürgerinitiative pauschal diffamiert wird. Repräsentative Demokratie, die wir bejahen, braucht auch Platz und Raum für das Element von Bürgerinitiativen. Es müssen aber Initiativen sein, die nicht Gefahr laufen, von Leuten umfunktioniert zu werden, die nicht Reaktorenergie, sondern Umsturz unseres Staates im Sinne haben.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Geradezu skandalös ist es, wie die Bundesregierung und auch Sie, Herr Bundeskanzler, mit den Interessen und dem Vertrauen der elf Millionen Rentner und der über 20 Millionen Beitragszahler in diesen Tagen umgegangen sind. Was soll eigentlich der Bürger denken. Er muß sich doch an der Nase herumgeführt fühlen. Woher sollen Ernsthaftigkeit und Opferbereitschaft kommen, wenn so leichtfertig mit der Wahrheit umgegangen wird? Auf die Opferbereitschaft unserer Bürger sind wir doch alle angewiesen. Zu ihr ist jeder aber doch nur dann bereit, wenn man ihm die Wahrheit sagt, wenn er gerecht behandelt wird und wenn nicht versucht wird, alle über einen Kamm zu scheren. Sie sprachen gestern vom Durchschnitt. Ihren sogenannten Durchschnitt, verehrter Herr Bundeskanzler, gibt es nicht. Es gibt elf Millionen Rentner mit höchst unterschiedlicher Leistungsfähigkeit. Darunter sind rund 2,3 Millionen Rentner mit Einkommen unter dem Sozialhilfeniveau.
(Dr. Barzel [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
Die Pläne der Bundesregierung zur Sanierung der Rentenversicherung - das wissen Sie so gut wie wir - werden keinen Bestand haben. Ihre Aussage, Herr Bundeskanzler, daß die getroffenen Entscheidungen geeignet seien, die Rentenversicherung zu konsolidieren, wird sich nach einhelliger Meinung aller Experten als ebenso falsch herausstellen wie die Behauptung, daß die Maßnahmen sozial gerecht und ausgewogen seien. Sie sind es nicht.
(Beifall bei der CSU/CSU.)
Unsere Kritik gilt besonders folgenden Punkten. Erstens. Wo Differenzierung nötig wäre, schlagen Sie alles über einen Leisten. Dies gilt für die generelle Verschiebung der Anpassung, für die Nettolohnanpassung und ganz besonders für die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze in der Krankenversicherung. Diese Anhebung trifft nicht so sehr, wie man jetzt sagt, die sogenannten besser verdienenden Arbeitnehmer, sondern sie trifft gerade die kinderreichen Familien in der Bundesrepublik.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Dies gilt schließlich auch für die Maßnahmen, die das gegliederte Krankenversicherungssystem treffen.
Zweitens. Sie schaffen Möglichkeiten der Manipulation. Die Höhe der Rentenanpassung wird zum Gegenstand ständiger politischer Auseinandersetzungen. Durch die geplante Abschmelzung der Rücklage gerät die Rentenversicherung in den Sog des Bundeshaushalts.
Und drittens: Ihre Pläne sind unausgereift. Dies betrifft den finanziellen Effekt, den man sich aus einer Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze verspricht, die geplante unterschiedliche Behandlung von Alt- und Neurentnern und den Belastungsbereich in der Krankenversicherung. Wer die unterschiedliche Leistungsfähigkeit nicht systemgerecht berücksichtigt, bereitet den Boden für eine Nivellierung vor. Wer seine Grundsätze aufgibt, um diese Rentenbeschlüsse mitzutragen, der muß auch den Preis kennen, meine Kollegen von der FDP.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Ihr Programm ist unberechenbar und unausgewogen. Es kann und darf so nicht Gesetz werden.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Die Union, unter deren Regierungsverantwortung das System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik geschaffen wurde, ist bereit, sich an der Sanierung des Sozialsystems zu beteiligen, an ihr mitzuwirken. Wir lassen uns dabei von folgenden Gesichtspunkten leiten.
Erstens. Das Gebot der Klarheit und der Wahrheit erfordert es, daß der Zusammenhang von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik gewahrt wird, damit keine finanzpolitischen Verschiebebahnhöfe eröffnet werden. Die Finanzen der Sozialversicherung müssen nach bestem Wissen und Gewissen vorausgeschätzt werden, damit die Stabilität der sozialen Sicherung auch langfristig garantiert werden kann.
Zweitens. Die solidarische Absicherung des einzelnen gegenüber den Grundrisiken des Lebens darf nicht zur Disposition gestellt werden. Solidarität, meine Damen und Herren, ist keine Einbahnstraße; sie gilt auch für den Empfänger von Sozialleistungen gegenüber dem Steuer- und Beitragszahler. Dies gehört für uns selbstverständlich zur Solidarität.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Drittens. Der einzelne darf nicht so mit Steuern und Sozialabgaben belastet werden, daß sich Leistung überhaupt nicht mehr lohnt. Dies ist für uns ein wichtiges Stück Freiheit.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Viertens. Die Lasten müssen ausgewogen verteilt werden. Alle Möglichkeiten der Rationalisierung sind auszuschöpfen, bevor zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden. Dies erfordert das Gebot der Gerechtigkeit.
Wir, meine Damen und Herren, stehen zu unserer Rentengarantie, und wir sind bereit, Mitverantwortung zu tragen. Dies setzt aber voraus, daß die Bundesregierung ihrer Verantwortung voll gerecht wird. Wir fordern Sie, Herr Bundeskanzler, auf, die tatsächliche finanzielle Lage der Rentenversicherung offenzulegen
(Sehr gut! bei der CDU/CSU.)
und tragfähige Vorschläge zu unterbreiten. Voraussetzung jeder soliden Politik ist ein ehrlicher Kassensturz - auch in diesem Fall!
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Meine Damen und Herren, wir haben unser Angebot, auch unpopuläre Maßnahmen mitzutragen, oft wiederholt. Ihre Antwort - ich erinnere an die Tage der Wahl in Nordrhein-Westfalen - war der verleumderische Vorwurf der sozialen Demontage. Neues Zahlenmaterial wollen Sie erst im nächsten Rentenanpassungsbericht mitteilen. Sie wollen offensichtlich weiter an den Symptomen kurieren und den Bürgern die Wahrheit immer noch vorenthalten. Dazu bekommen Sie unsere Zustimmung nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Das gilt auch für jene andere Tendenz: die Selbstverwaltung im Sozialbereich weiter auszuhöhlen und in die Rolle des Sündenbocks für die sozialpolitischen Versäumnisse der Bundesregierung abzudrängen.
(Katzer [CDU/CSU]: Leider wahr!)
Sie wollen Milliardensummen von der Rentenversicherung auf die Krankenversicherung verlagern. Aber für den Bürger ändert das gar nichts, er muß so oder so zahlen, und zwar aus demselben Portemonnaie. Dies ist doch der Punkt, den wir in dieser Diskussion nie aus den Augen lassen dürfen.
Meine Damen und Herren, der Herr Bundeskanzler hat gestern in seiner Regierungserklärung auch die Fragen der Familie sehr breit angesprochen. Ich kann nur sagen: Diese Regierung hat seit Jahren den Schutz und die Förderung der Familie vernachlässigt.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Eine bedrückend große und wachsende Zahl von Familien mit Kindern ist hinsichtlich ihrer Einkommenssituation unter die Sozialhilfeschwelle abgesunken. Wohin, meine Damen und Herren, soll es denn führen, wenn heute schon ein durchschnittlich verdienender Familienvater in Armut abgleitet, wenn er nur drei Kinder hat! Dies ist ein armes Land, wo Kinder Armut bedeuten können. Die Familienpolitik bedarf dringend einer neuen Weichenstellung.
Herr Bundeskanzler, wer ein feines Gehör hat, wenn sich große Verbände zu Wort melden, sollte sein Ohr auch schärfen für Nöte und Sorgen, die nicht so laut vorgetragen werden können.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Die Lebensqualität, die Sie so gern im Munde führen, kann nirgendwo in dieser Gesellschaft besser verwirklicht werden als in intakten Familien.
(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.)
Wo sind die Antworten der Bundesregierung auf die Frage nach der Zukunft des Familienlastenausgleichs? Wo sind die Antworten auf die Frage nach einer kinderfreundlichen Umwelt? Wo dokumentiert sich der Stellenwert der Familie in Ihrer Politik? Machen Sie sich doch gar nichts vor: Die von Ihnen in Aussicht gestellte Verbesserung des Familienlastenausgleichs reicht noch nicht einmal aus, um den Kaufkraftschwund, dem das Kindergeld ausgesetzt ist, auszugleichen.
(Zurufe von der CDU/CSU: Leider wahr!)
Durch die geplante Anhebung des Kindergeldes und des Wohngeldes würden noch nicht einmal zwei Drittel der Mehrbelastungen aufgefangen, denen die Mehrkinderfamilie infolge Anhebung der Mehrwertsteuer ausgesetzt sein wird. Auch das gehört doch dazu.
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
Meine Damen und Herren, fernab jeder Polemik: Wer heute die Lage der Familienpolitik in der Bundesrepublik studiert, muß doch feststellen, daß sich hier tiefgreifende Fehlentwicklungen zeigen, die man nicht mit technischen Mitteln beheben kann. Wenn wir heute die niedrigste Geburtenrate in der ganzen Welt haben, dann ist das doch auch die Konsequenz einer falschen Politik in den letzten Jahren.
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
Das hat sehr viel damit zu tun, daß die junge Generation immer mehr zweifelnde Fragen an uns stellt. Ob es uns gelingt, den Jungen wieder mehr Mut und Selbstvertrauen zum Leben in einem freien Gemeinwesen zu geben, ob diese jungen Menschen genug Selbstvertrauen gewinnen können, um mit ihren Schwierigkeiten fertig zu werden, das ist die in meinen und in unseren Augen entscheidende Frage für den Fortbestand der freiheitlichen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Wenn junge Leute den Eindruck gewinnen müssen, daß sie in unserer Gesellschaft mit ihrer Chance zu kurz kommen, dann gerät diese junge Generation in Gefahr, auf Freiheit verzichten zu wollen und Sicherheit im Kollektiv zu suchen. Hier liegt ein wichtiger Kern des Problems.
Auch mit der gestrigen Regierungserklärung ist der Bundeskanzler den wichtigsten Problemen ausgewichen. Herr Bundeskanzler, Sie sprachen von einheitlichen Lebensbedingungen. Es ist unsere selbstverständliche Pflicht, auch im Bildungswesen die volle Freizügigkeit in allen Teilen unserer Bundesrepublik zu gewährleisten und zu fördern. Aber Sie wissen ganz genau, daß die gestern von Ihnen so lapidar gemachten Vorschläge in dieser Form angesichts der Verfassungsordnung nicht realisierbar sind.
Aufgabe der politischen Führung ist es, sich zu Inhalten und Zielen auch der Erziehung und Bildung zu äußern; Bildung muß mehr vermitteln als Anpassungsfähigkeit oder technisches Rüstzeug.
(Sehr gut! bei der CDU/CSU.)
Ihre Partei, meine Damen und Herren von der SPD, die 1959 in ihrem Godesberger Programm ausdrücklich feststellte, daß Erziehung und Bildung die Widerstandskraft gegen konformistische Tendenzen in unserer Zeit stärken sollen, hat den größten Anpassungsdruck bewirkt, dem junge Menschen in der Geschichte der Bundesrepublik ausgesetzt wurden.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Das ist eine der Konsequenzen einer Politik, die die Zusammenhänge zu sehr verschleiert hat und die sich trotz aller gegenteiligen Bekenntnisse mehr um eine Expansion in Bildung und Ausbildung als um eine sozial gerechte Qualität unseres Bildungssystems bemüht.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Unser Bildungs- und Ausbildungssystem soll dem jungen Menschen helfen, sein Leben und seine Umwelt selbst zu gestalten. Er muß die Fähigkeit lernen, zu unterscheiden und zu urteilen. Aber er muß auch wissen und gesagt bekommen, daß menschliches Verhalten an Wertentscheidungen gebunden ist. Erziehung soll die Erkenntnis vermitteln, daß wir ein Mindestmaß an Übereinstimmung im Umgang miteinander und im Wertbewußtsein brauchen, wenn wir frei und menschlich zusammenleben wollen.
Es gilt, der jungen Generation die bittere Erfahrung zu ersparen, daß sie auf der Schwelle zum Berufsleben auf eine verschlossene Gesellschaft stößt. Daher ist es unser aller verantwortliche Aufgabe, Bildungswesen und Beschäftigungssystem besser aufeinander zu beziehen. Wir werden dazu aus der Sicht der CDU/CSU unsere eigenen Beiträge in dieser Legislaturperiode liefern.
Eine der großen Aufgaben unserer Zeit ist es, die volle Gleichberechtigung der Frau in allen Lebensbereichen tatsächlich zu verwirklichen. Die Frauen brauchen für ihre Entscheidung keinen Vormund; sie wissen selbst am besten, was ihr Glück und was das Glück ihrer Kinder erfordert: die Sorge um die Familie und die Erziehung der Kinder oder das Engagement im außerhäuslichen Erwerbsbereich. Wir in der CDU/CSU wollen Wahlfreiheit für alle Frauen. Wahlfreiheit - an diesem Ziel werden wir unsere Politik, wird die Bundesregierung ihre Politik, aber werden auch die Sozialpartner ihre Politik messen müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Für die erwerbstätige Frau gilt es vor allem, die Probleme der gerechten Entlohnung zu bewältigen. Aufstiegs- und Weiterbildungsschwierigkeiten müssen beseitigt werden. Für gleiche Arbeit muß gleicher Lohn bezahlt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Das ist eine rechtliche Verpflichtung, und sie darf nicht dadurch unterlaufen werden, daß Tätigkeiten, die üblicherweise von Frauen ausgeübt werden, von vornherein geringer bewertet werden. Hier ist - darüber müssen wir uns alle im klaren sein - vor allem auch die Solidarität und das Beispiel zwischen männlichen und weiblichen Arbeitnehmern herausgefordert.
Einer Frau, die sich für Haushalt und Familie entscheidet, dürfen daraus keine Nachteile entstehen. Das müssen wir sicherstellen. Darin sehen wir eine der zwingenden großen Reformaufgaben der nächsten Jahre.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Mit der Partnerrente hat die Union die moderne langfristige Konzeption für eine eigenständige soziale Sicherung der Frau vorgeschlagen. In der Partnerrente sehen wir eine umfassende und zukunftsweisende Reform, die Rechte und Pflichten innerhalb der Rentenversicherung grundlegend neu gestaltet. Sie beseitigt eine Reihe gravierender Mängel, die meist zu Lasten der Frau gehen. Mit der partnerschaftlichen Aufteilung der während der Ehe erworbenen Ansprüche wird die Leistung der Frau als Hausfrau und Mutter materiell in einem höheren Maße anerkannt als in der Vergangenheit. Die Partnerrente ermöglicht es der Frau, ihren Tätigkeitsbereich frei zu wählen. Frauen dürfen ebensowenig wie Männer aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen in eine bestimmte Rolle gedrängt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Meine Damen und Herren, auch das will ich heute schon ankündigen: Auch in dieser Legislaturperiode wird die Union eines ihrer wesentlichen Ziele, nämlich die Vermögensbildung in breiter Hand, beharrlich weiterverfolgen. Vermögensbildung dient dem Vorteil aller. Der einzelne Arbeitnehmer ist am Wachstum und am Gewinn beteiligt. Verteilungskämpfe bei der Lohnfindung können entschärft werden. Die alte Kapitalstruktur kann verbessert werden. Das ist ein Vorteil für die Wirtschaft. Und der Staat gewinnt dadurch, daß sich die Konjunktur verstetigt und die Leistungskraft unserer Wirtschaftsordnung auch im internationalen Bereich steigt. Wer Soziale Martwirtschaft will, der muß sich auch für Vermögensbildung einsetzen. Wir tun das!
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir beobachten mit steigender Sorge, daß immer mehr Menschen in unserem Land die Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. So stehen wir heute vor der Situation, daß die Gemeinden und Städte, die Kommunen, über die Sozialhilfe Aufgaben erfüllen müssen, die eigentlich in die Verantwortung des Bundes gegeben sind, und daß auf diesem Wege eine Art von Subvention für den Bund stattfindet. Viele Gemeinden sind heute kaum noch in der Lage, die gewaltigen finanziellen Belastungen zu tragen. Wir werden uns dafür einsetzen - und ich hoffe hier auf schlüssige Vorschläge der Bundesregierung -, daß in diesem Bereich Abhilfe geschaffen wird, damit sich die Träger der Sozialhilfe, nicht zuletzt auch die freien Verbände, wieder stärker der personalen Hilfe im Einzelfall widmen können, denn darin sehen wir eine der großen Zukunftsaufgaben.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Herr Bundeskanzler, Ihre Ausführungen zur Außen- und Sicherheitspolitik werden nach unserer Auffassung dem Ernst der Lage nicht gerecht.
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)
Die europäische Einigungspolitik stagniert. Es gab und es gibt weitere Rückschläge in der Entspannungspolitik. Die Sowjetunion verstärkt ihre Anstrengungen, das weltweite Gleichgewicht, soweit es ein solches noch gibt, zu ihren Gunsten zu verändern. Die Krise im Mittelmeerraum dauert an. Wir sehen uns mit steigenden und vielfältigen Forderungen der Dritten Welt konfrontiert. In diesem Augenblick - wann denn überhaupt, wenn nicht jetzt! - wäre es die Aufgabe der Bundesregierung gewesen, in ihrer Regierungserklärung ein überzeugendes außenpolitisches Gesamtkonzept vorzulegen.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Verbale Bekenntnisse zur europäischen Einigung genügen uns nicht. Wir hören dies von Ihnen, Herr Bundeskanzler, und auch von Ihrem Vorgänger Willy Brandt nun schon seit Jahren. Tatsache ist jedoch, daß die europäische Politik in Ihrer Regierungszeit die erforderliche Priorität nicht fand. Es kann für die Regierung der Bundesrepublik Deutschland nicht genügen, nur das mitzumachen, wozu auch das langsamste Schiff im europäischen Geleitzug bereit und in der Lage ist. Wir wollen durch eigene Initiativen der Bundesrepublik, Vorstöße und Aktivitäten die Dinge voranbringen, weil es fünf Minuten vor zwölf ist.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Ich weiß nicht, Herr Bundeskanzler, ist es bezeichnend oder nur erstaunlich, daß in Ihrer Erklärung kein Wort zum Bericht Leo Tindemans´ zu finden ist, jenem Bericht über die Europäische Union. Warum schweigen Sie zu diesem wichtigen Thema?
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Für uns in der CDU/CSU bleibt die europäische Einigung ein entscheidendes Hauptziel deutscher Politik.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Sie ist Voraussetzung für Freiheit und Sicherheit, und diesem Ziel werden auch in den kommenden Jahren alle unsere Anstrengungen gelten. Die für 1978 vorgesehene Direktwahl zum Europäischen Parlament ist auf diesem Weg ein entscheidender Schritt. Ich hoffe, daß wir über diese Fragen im Januar noch eingehender diskutieren können.
Von besonderem Gewicht sind nach unserer Überzeugung auch die Aufgaben in der Nord-Süd-Politik im Bereich der Weltwirtschaftsordnung. Herr Bundeskanzler, die deutsche Politik ist dabei unter Ihrer Regierung in ein Dilemma geraten. Daß es zu diesem Dilemma kam, liegt nicht zuletzt daran, daß Sie viel zu lange die geistige und ordnungspolitische Dimensionen des Nord-Süd-Problems unterschätzt haben. Sie haben nicht erkannt - oder Sie haben es nicht gesagt -, daß es längst nicht mehr allein um die Entwicklungsländer ging, sondern daß in einer Welt gegenseitiger Abhängigkeiten auch unsere eigene Zukunft angesprochen ist. Sie haben lange Zeit eine ernsthafte Antwort auf die ordnungspolitische Herausforderung der Entwicklungsländer überhaupt nicht für nötig gehalten. Die Folge war nicht zuletzt auch, daß sich in der Dritten Welt radikale Wortführer in ihrer Position festigen konnten und daß sich unsere europäischen Partner dann einer dirigistischen Linie näherten und wir dabei in die Defensive gerieten. Aus dieser Defensive müssen wir herauskommen und trotz aller Schwierigkeiten in Europa zu einer gemeinsamen Linie finden.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Eine positive Alternative muß nach unserer Auffassung vor allem vier Punkte umfassen: 1. eine Steigerung der öffentlichen Entwicklungshilfe, um in absehbarer Zeit das 0,7-Prozent-Ziel zu erreichen, 2. ein umfassendes System der Exporterlösstabilisierung, 3. eine weitere Öffnung unserer Märkte für die Waren der Entwicklungsländer und 4. eine vorausschauende marktkonforme Strukturpolitik in den Industrieländern. Für diese marktwirtschaftliche Gegenoffensive muß unser Land als zweitgrößte Handelsmacht der Welt eintreten und werben, und auf diesem Wege werden Sie unsere Unterstützung bekommen.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß die Probleme der Entwicklungsländer und der Industrieländer nur in einer wirklich freien und sozialen Weltwirtschaftsordnung lösbar sind.
Wir wären sehr dankbar, wenn diese Erkenntnis Allgemeingut der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands würde und wenn sich hierzu vor allem auch der Kollege Brandt als Vorsitzender der SPD und als Vorsitzender der Sozialistischen Internationale bekennen würde, dessen Worte im Ausland in einem merkwürdigen Gegensatz zu dem stehen, was Sie, Herr Bundeskanzler, gestern hierzu im Plenum gesagt haben.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Wir teilen die Sorge der Bundesregierung über die Bestrebungen einiger NATO-Mitgliedsländer, ihre militärischen Verpflichtungen innerhalb der Allianz einseitig zu reduzieren. Nur, Herr Bundeskanzler, es sei uns und mir der Hinweis erlaubt: viele dieser Regierungen werden von Sozialisten angeführt; und wir hoffen sehr - und wünschen Ihnen auf diesem Wege alles Gute -, daß Sie auch mit der Aufgabe fertig werden, in der Sozialistischen Internationale dazu beizutragen, diese bedenklichen Entwicklungen zu korrigieren.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Sie sollten dabei vor allem auf eine wichtige Konsequenz dieser Entwicklung hinweisen. Es ist nicht unser Ziel und kann nicht unsere Politik sein, daß die Bundesrepublik die dann entstehenden Lücken auffüllt. Wir können - wie unsere Nachbarstaaten - aus begreiflichen Gründen kein Interesse daran haben, im Bereich der militärischen Rüstung zum Primus Europas zu werden.
Herr Bundeskanzler, Sie stellen in Ihrer Erklärung fest, daß der stetige Ausbau der militärischen Stärke des Warschauer Pakts anhält. Wir müssen von Ihnen erwarten, daß Sie um des Friedens willen eindringlich an die Adresse der Sowjetunion appellieren: Die Sowjetunion muß wissen, daß die freie Welt eine Veränderung des gegenwärtigen Machtgleichgewichts nicht hinnehmen kann. Dieses Gleichgewicht bleibt die Voraussetzung dafür, daß Entspannungspolitik überhaupt möglich ist. Wer das Gleichgewicht bedroht, gefährdet wirkliche Entspannungspolitik.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Die Sowjetunion muß wissen - dies müssen wir offen sagen -, daß sie jede politische Glaubwürdigkeit verliert, wenn sie weiterhin aufrüstet.
Glaubwürdigkeit und Vertrauen sind aber die Voraussetzungen für die Politik der Zusammenarbeit. Wir sind zur Verständigung und zum Ausgleich mit der Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten bereit. Verständigung und Ausgleich in Osteuropa sind aber nur dann möglich, wenn man nicht auf Illusionen, nicht auf Beschwichtigung und nicht auf Vertrauensseligkeit setzt, sondern wenn man kommunistische Politik und kommunistische Praxis richtig einschätzt.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Bei allen Verhandlungen und Verträgen müssen die deutschen, müssen unsere Interessen gewahrt bleiben. Leistung und Gegenleistung müssen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Und, meine Damen und Herren - ich hoffe, dem stimmen alle zu -, Grundlage für die deutsche Politik bleiben die gemeinsame Resolution des Deutschen Bundestages vom 17. Mai 1972 und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Ihre Ausführungen zur Lage der Nation, Herr Bundeskanzler, zu der wir noch einen eingehenden Bericht im neuen Jahr und die nachfolgende Debatte erwarten, haben uns nicht genügt. Natürlich - wer wollte das leugnen? - verkennen wir nicht die Bedeutung der Reisemöglichkeiten. Wir nutzen diese Möglichkeiten, wenn irgend möglich, ja selber. Aber gerade aus meinen persönlichen Erfahrungen von meinen Reisen nach Leipzig, Dresden und Weimar weiß ich, wie lebendig der Wille zur Einheit auch und gerade unter unseren Mitbürgern in der DDR ist.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Sogar der kommunistische Liedermacher Biermann hat in diesen Tagen darauf hingewiesen, daß die Teilung überwunden werden muß, wenn die Menschenrechte in der DDR und an der innerdeutschen Grenze Wirklichkeit werden sollen.
(Zurufe von der SPD.)
- Ich war eigentlich der Meinung, daß das ein Punkt ist, in dem wir uns noch gemeinsam verständigen können. Meine Damen und Herren, wir alle wollen die Spaltung Europas und mit ihr die Teilung unseres Vaterlandes überwinden, in Frieden überwinden; an Drohung und Gewalt denkt niemand. Wir verkennen auch nicht die realen Machtverhältnisse. Aber, meine Damen und Herren, zu der Macht der Tatsachen zählen nicht nur die Politik der Regierungen und die Stärke der Waffen, sondern auch der Wille der deutschen Nation zur Einheit, der seine geschichtliche Kraft behalten wird.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Wir fragen uns auch, warum die Bundesregierung nicht über die Folgeverträge zum innerdeutschen Grundvertrag spricht, die in Art. 7 angesprochen sind. Gerade sie sollten doch zu dem führen, was wir alle wollen: zu mehr menschlicher Erleichterung.
Und, meine Damen und Herren, ich hörte in der Regierungserklärung kein Wort zur inneren Entwicklung im anderen Teil Deutschlands, in der DDR.
(Sehr wahr! bei der CDU/CSU.)
Meine Damen und Herren, der Tod von Pfarrer Brüsewitz, die Zwangsausbürgerungen, die Menschenrechtsbewegung in Riesa, das alles findet doch nicht irgendwo auf einem fernen Kontinent statt; das ereignet sich doch mitten in unserem eigenen Vaterland. Das alles kann uns doch nicht ruhig lassen!
(Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
Es ist unser Auftrag, es ist unsere Pflicht, weil wir die Chance haben, im freien Teil unseres Vaterlandes zu leben, zu verhindern, daß es der SED gelingt, diesen Kampf um die Menschenrechte zu unterdrücken. Der Kampf um die Menschenrechte, Herr Bundeskanzler, meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, das ist ein wirkliches Feld für gemeinsame Anstrengungen und gemeinsame Verantwortung aller deutschen Demokraten.
(Erneuter lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
Wir können auch nicht dazu schweigen, daß, für jedermann erkennbar, die Sowjetunion verstärkte Anstrengungen unternimmt, die Staaten Osteuropas und Südosteuropas immer mehr gleichzuschalten. Wenn wir darüber sprechen, ist das überhaupt keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer. Friede, Freiheit und Menschenrechte gelten weltweit, und deshalb werden wir nicht zu Gewalt und Unterdrückung schweigen, wann und wo immer sie vollzogen werden.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Und ich füge hinzu: Wir werden dabei nur glaubwürdig sein, wenn wir bei uns selbst anfangen. Wir werden deshalb zu keinem Zeitpunkt, auch wenn manche glauben, das sei opportun, zu den Menschenrechtsverletzungen mitten in Deutschland, zu Schüssen an Mauer und Stacheldraht schweigen.
(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.)
Berlin und unsere Mitbürger in Berlin bedürfen der Hilfe und der besonderen Solidarität der freien Welt, der Hilfe von uns allen. Berlin, meine Damen und Herren, das ist nicht irgendeine Stadt wie jede andere. Berlin, das ist eine nationale Aufgabe für das freie Deutschland. Berlin ist Mittelpunkt aller Deutschen, und Berlin ist Prüfstein deutscher Politik.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Der Herr Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, daß das Viermächteabkommen zahlreiche Verbesserungen für die Menschen in Berlin gebracht hat. Das ist unbestreitbar richtig. Aber auf der anderen Seite ist die Lebensfähigkeit der Stadt insgesamt - auch dies ist richtig, leider richtig - nicht gestärkt worden. Es müssen weiterhin alle nur denkbaren Anstrengungen unternommen werden - und dabei können Sie immer auf uns in der Union zählen -, um die Lebenskraft und die Zukunftserwartung der Stadt und ihrer Bürger zu stärken. Dazu ist es sicher auch nötig, die Unternehmungen und die Wirtschaft voll zu entfalten, Arbeitsplätze zu sichern, neue Arbeitsplätze vor allem auch für junge Leute zu schaffen. Dies ist aber auch eine geistige, eine kulturelle und vor allem eine menschliche Aufgabe. Angesichts der vielfältigen Drohungen aus dem Osten muß der entschlossene Wille zur Verteidigung des freien Berlin zu jeder Stunde und an jedem Tag deutlich bleiben. Nur so kann das Vertrauen der Berliner in die Zukunft ihrer Stadt erhalten und gefördert werden.
Mit einiger Sorge, Herr Bundeskanzler, haben wir gestern feststellen müssen, daß in Ihrer Regierungserklärung so gut wie nichts über die Wiener Verhandlungen über die beiderseitige und ausgewogene Verminderung der Streitkräfte in Mitteleuropa ausgesagt wird. Auch dies steht übrigens in offenem Gegensatz zu den öffentlichen Erklärungen Ihres Parteivorsitzenden Willy Brandt,
(Sehr wahr! bei der CDU/CSU.)
der in diesem Punkte, wenn ich es recht verstehe, Ihrer Regierung mehr eine Annäherung an den sowjetischen Standpunkt empfohlen hat.
Ich stelle mit aller Deutlichkeit folgendes fest.
Erstens. Wir bedauern erneut, daß trotz unserer Warnungen der sachliche und zeitliche Zusammenhang zwischen den multilateralen Bemühungen um politische und militärische Entspannung in Europa, verhandlungstechnisch: zwischen KSZE und MBFR, aufgegeben worden ist.
Zweitens. Wir fordern die Bundesregierung auf, bei MBFR-Verhandlungen gemeinsam mit unseren NATO-Verbündeten Ergebnisse auf der Basis der NATO-Vereinbarungen zäh und geduldig und entschlossen anzustreben.
Drittens. Wir warnen vor einem deutschen Alleingang oder Vorprellen in diesen Verhandlungen. Wir warnen auch vorsorglich schon heute davor, in bilaterale deutsch-sowjetische Gespräche über neue Initiativen ohne die denkbar engste Konsultation mit unseren Verbündeten einzutreten.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Wir warnen - ich sage dies ganz offen - viertens vor unverantwortlichen Signalen an Moskau, die ein weiteres Aufweichen der gemeinsamen westlichen Grundsatzposition und ein Eingehen auf die sowjetischen Vorstellungen andeuten, obwohl die Sowjetunion auf die beiden bisherigen NATO-Vorschläge ausgesprochen negativ reagierte.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Sie, Herr Bundeskanzler, haben in Ihrer ersten Regierungserklärung - nach Ihrer Wahl zum Kanzler im Jahre 1974 - eine Alternative zu Ihrem Vorgänger Willy Brandt darzustellen versucht. In vielen Zeugnisen der verfaßten öffentlichen Meinung wurden Sie damals als der große Macher dargestellt, und Sie haben dies gerne ertragen. Gestern haben wir Ihr Bemühen gesehen, Ihre Politik wenigstens in Ansätzen wertmäßig zu begründen. Nicht wenige Ihrer Parteifreunde - auch nicht wenige, die hier im Saal sitzen - haben Ihnen im Innenverhältnis und in öffentlichen Zeugnissen immer wieder vorgehalten, daß Ihrer Politik die tiefere Dimension fehlt und daß sie ohne Perspektive für die Zukunft bleibt. Ich fürchte, trotz Ihres Bemühens, das ich würdige, wurde gestern dieser Eindruck nicht beseitigt, sondern nur verstärkt.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Meine Damen und Herren, so einfach ist das
(Zuruf von der SPD: Ja! - Lachen bei der SPD.)
- so einfach ist das für Sie: Liberalität gleich FDP,
(Beifall der Abgeordneten der FDP.)
Solidarität gleich SPD
(Wehner [SPD]: CDU gleich Kohl!)
und beides zusammen gleich SPD/FDP. Glauben Sie denn wirklich, daß Sie durch diese formale Addition von Begriffen eine tiefere Legitimation für Ihre Politik begründen können?
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Glauben Sie wirklich, daß Sie dadurch dem verstärkten Verlangen gerade junger Mitbürger nach einer wertmäßigen und sinnhaften Orientierung unserer Politik genügen können?
Solidarität: Herr Bundeskanzler, was Sie zur Solidarität gesagt haben, zeigt doch nur eines: daß Sie weder über ein modernes noch in meinem Sinne über ein freiheitliches Verständnis von Solidarität verfügen. Sie beschreiben Solidarität nach wie vor mit der alten sozialen Frage des 19. Jahrhunderts und bleiben damit der Tradition Ihrer Partei treu.
(Beifall der CDU/CSU.)
Sie haben eben kein liberales, sondern Sie haben ein sozialistisches Verständnis von Solidarität.
(Lachen bei der SPD. - Beifall bei der CDU/CSU.)
Solidarität ist für Sie in erster Linie eine staatliche Leistung, Sie spüren offensichtlich gar nicht, was immer mehr Menschen spüren: daß der einzelne auch entmündigt wird, wenn ihm die Motivation, der Anreiz zur eigenen solidarischen Leistung genommen wird.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Für uns, meine Damen und Herren, entsteht Solidarität aus verantworteter Freiheit. Der Staat darf den einzelnen nicht bevormunden, indem er alle Aufgaben für ihn übernimmt; er soll vielmehr dem Bürger eigene Initiative und Verantwortung zumuten und ermöglichen. Das ist unsere Vorstellung von Solidarität!
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Herr Bundeskanzler, die Unfähigkeit, Solidarität politisch neu zu definieren, findet ja auch ihre Entsprechung in Ihrer Regierungspraxis, die, wenn ich es recht sehe, immer mehr auf ein Kartell zwischen Regierung, manchen Bereichen der Verbände und der Wirtschaft hinausläuft. Bei diesem technokratischen Regierungsverständnis braucht man sich dann wirklich nicht darüber zu wundern, daß die nicht organisierbaren Interessen der Menschen durch die Maschen Ihrer Politik hindurchfallen.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Liberalität, diesen Anspruch wollen Sie vor allem einlösen durch eine, wie Sie sagen, liberalere Praxis gegenüber den Verfassungsfeinden. So verengt und verzerrt stellt sich Ihnen das Problem der Liberalität heute. Kein Wort, meine Damen und Herren, darüber, daß es die wirklich liberale Aufgabe des Staates war und ist, die Freiheit aller seiner Bürger zu schützen - auch vor ihren Feinden!
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
Jeder von uns geht doch davon aus, daß sich von daher unsere eindeutige Haltung gegenüber den Verfassungsfeinden rechtfertigt.
Zum Thema selbst, zum Thema „Verfassungsfeinde", heute nur eine kurze Bemerkung; wir werden im Januar mehr darüber zu sagen haben. Wir alle wollen weder Duckmäuser noch Gesinnungsschnüffelei, noch die Bestrafung von Jugendsünden.
(Zurufe von der SPD.)
Wir halten uns streng an das rechtsstaatliche Verfahren. Aber wir haben auch aus der Geschichte gelernt. Es ist schon einmal eine deutsche Republik an ihren Feinden zugrunde gegangen.
(Beifall bei der CDU/CSU. - Zurufe von der SPD.)
Wir werden nicht zulassen, daß zum zweitenmal unser freiheitlicher Staat seinen Feinden ausgeliefert wird, den Feinden unseres demokratischen Staates, ob sie von rechts oder von links kommen.
(Beifall bei der CDU/CSU. - Zurufe von der SPD.)
Deswegen gilt der Satz: Feinde der Freiheit können nicht Diener unseres freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates sein, weder als Richter noch als Lehrer, noch als Verwaltungsbeamter in irgendeiner Führungsfunktion dieses Staates.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Eine der entscheidenden Fragen unserer Zeit hat die Regierungserklärung allenfalls oberflächlich gestreift - wenn Sie den Text Ihrer Rede nachlesen, Herr Bundeskanzler, und den Vergleich mit der Gasrechnung noch einmal überdenken, werden Sie mir sicherlich recht geben -,
(Leicht [CDU/CSU]: Sehr gut!)
nämlich die immer mehr Menschen beunruhigende Frage, ob mehr Staat nicht automatisch immer mehr Bürokratie und immer mehr Ausgeliefertsein einer wachsenden Bürokratie gegenüber bedeutet und ob
(Dr. Marx [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
mehr Bürokratie nicht weniger Freiheit und weniger Selbstbestimmung nach sich zieht.
Sie reden jetzt von Liberalität; aber, Herr Bundeskanzler, Sie sagen kein Wort von der Gefahr, daß eine egalitäre Gleichheit und die drückende Last von Steuern und Abgaben den Raum der Freiheit mehr und mehr einengen.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Wer von Liberalität spricht und das dann nur noch mit der Frage der Verfassungsfeinde begründet, hat sich aus der Freiheitsdebatte selbst ausgeschaltet.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Wir, die Union, betrachten es als unsere vorrangige Aufgabe, die freiheitliche Alternative zum Sozialismus lebendig zu halten und nach Kräften durchzusetzen.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Ein gerechtes und ein freiheitliches Gemeinwesen zu schaffen - darin sehen wir die große Herausforderung unserer Zeit. Darin unterscheiden wir uns von jenen, die Gerechtigkeit mit Gleichheit verwechseln und die den Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung verkennen.
Bei der Begründung der Bundesrepublik Deutschland haben wir mit der Sozialen Marktwirtschaft eine neue Idee verwirklicht. Sie begreift die Freiheit des Menschen und die soziale Gerechtigkeit für alle nicht als Gegensatz, sondern sie stellt sie in ihren unauflöslichen Zusammenhang. Diese Aufgabe bleibt.
Darum: Schützen wir, was sich bewährt hat! Dies kann uns in einer Welt raschen Wandels nur gelingen, wenn wir es zugleich ständig erneuern. Wir, die Fraktion der CDU/CSU, mit unseren vielen Freunden im Lande haben die Zuversicht, daß es sich lohnt, für eine solidarische und verantwortete Freiheit zu kämpfen.
(Langanhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
Quelle: Helmut Kohl: Bundestagsreden und Zeitdokumente. Hg. von Horst Teltschik. Bonn 1978, S. 156-183.