17. Juni 1992

Regierungserklärung in der 97. Sitzung des Deutschen Bundestags zur deutschen Verantwortung in der Welt

 

I.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Wir gedenken heute des Tages vor 39 Jahren, als Arbeiter in Berlin, in Jena und Görlitz, in Leuna, Schkopau und vielen anderen Industriezentren der damaligen DDR auf die Straße gingen: gegen die Unterdrückung durch das SED-Regime, gegen die Teilung unseres Vaterlands, für freie Wahlen, für die Achtung der Menschenwürde und für das Recht aller Deutschen auf Selbstbestimmung. Dieser friedliche Aufstand wurde von Panzern niedergewalzt. Die Geschichte hat aber jenen recht gegeben, die damals für Freiheit und Einheit demonstrierten.

Bis vor zwei Jahren wurde der 17. Juni als Tag der Deutschen Einheit begangen. Im wiedervereinigten Deutschland ist der Tag der Deutschen Einheit nunmehr der 3. Oktober, an dem wir im Herbst 1990 die staatliche Einheit Deutschlands vollenden konnten. Der 17. Juni ist ein Tag der Trauer und der Mahnung, der 3. Oktober ein Tag der Freude und der Zuversicht.

Bei aller Freude über die Wiedervereinigung unseres Vaterlands darf jedoch die Erinnerung an den 17. Juni 1953 nicht verblassen; denn dieser Tag führt uns heute und in Zukunft vor Augen, dass Freiheit und Einheit nichts Selbstverständliches sind, sondern Ziele, für die mutige Menschen schwere Opfer auf sich genommen haben. Er mahnt uns zugleich, nicht nachzulassen in unserem Einsatz für die Achtung der Menschenrechte überall in der Welt.

 

II.

Die Bundesregierung hat bei der Konferenz von Rio deutlich gemacht, dass Deutschland seine Verantwortung in der Weit wahrnimmt und seinen Beitrag zur Lösung der weltweiten Probleme im Bereich von Umwelt und Entwicklung leistet.

[...] Wir haben in Rio weit mehr erreicht, als von manchen Pessimisten vorausgesagt worden ist. Als positive Ergebnisse der Konferenz von Rio können wir festhalten:

Erstens: Eine Klimakonvention mit der weltweiten Verpflichtung zur Begrenzung der Treibhausgase.

Zweitens: Eine Konvention zum Schutz bedrohter Tier- und Pflanzenarten.

Drittens: Eine Erklärung zur nachhaltigen Bewirtschaftung und zum Schutz der Wälder.

Viertens: Die sogenannte Agenda 21, die die zukünftige entwicklungs- und umweltpolitische Zusammenarbeit auf eine neue Basis stellt.

Fünftens: Die Erd-Charta mit Grundprinzipien der Umwelt- und Entwicklungspolitik.

Von der Konferenz in Rio ist eine Botschaft ausgegangen: die Botschaft der Solidarität, der gleichberechtigten Partnerschaft aller Völker und der gemeinsamen Verantwortung für die eine Welt. Es ist beeindruckend, dass erstmals Staats- und Regierungschefs der Welt über alle Grenzen und Religionen hinweg die Bewahrung der Schöpfung zum gemeinsamen Ziel erklärt haben.

Ich habe für die Bundesrepublik Deutschland deutlich gemacht, dass wir zur weltweiten Solidarität bereit sind. Sowohl in den Plenarversammlungen als auch bei den bilateralen Gesprächen mit vielen Staats- und Regierungschefs habe ich für gemeinsames weltweites Handeln geworben. Dabei konnte ich auf unsere nationalen Anstrengungen zum Schutz der Umwelt und auf unseren eigenen Beitrag zur internationalen Entwicklungspolitik hinweisen. Für unseren solidarischen Beitrag nach der Wiedervereinigung, nach dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation - fand ich viel Verständnis und auch Anerkennung.

Ich habe dargelegt, dass wir Deutschen heute vor drei großen Herausforderungen stehen:

Erstens: Unsere besondere Solidarität gilt den Menschen in den jungen Bundesländern.

Zweitens: Unsere Solidarität gehört unseren Nachbarn in Mittel-., Ost- und Südosteuropa. Wir wollen und müssen den demokratischen und wirtschaftlichen Aufbau in diesen Ländern mit Nachdruck unterstützen. Dies ist auch ein Beitrag zur Sicherung unserer eigenen Zukunft.

Als ein wichtiges Beispiel nenne ich die Sorge um die Sicherheit der Kernkraftwerke in diesen Ländern. Inzwischen kennen wir alle die gravierenden Sicherheitsmängel dieser Anlagen sehr viel genauer. Das kann uns nicht gleichgültig lassen; denn es berührt uns ganz unmittelbar, wie die Erfahrungen mit den Folgen des Reaktorunglücks von Tschernobyl gezeigt haben. Es liegt also in unserem eigenen Interesse, einen Beitrag zur Verbesserung der Sicherheit in den Kernkraftwerken Mittel-, Ost- und Südosteuropas zu leisten. Allerdings ist kein westliches Land allein in der Lage, die Last der Verantwortung und die Bereitstellung der hierfür notwendigen Finanzmittel zu schultern.

Bei dem Wirtschaftsgipfel in München werden wir diesen Punkt erörtern. Aber wir wollen und können den unmittelbar betroffenen Staaten, die über solche Anlagen verfugen, die Verantwortung nicht abnehmen. Es muss dabei bleiben, dass jeder Staat für die Sicherheit seiner Kernkraftwerke primär selber verantwortlich ist. Was wir leisten können und wollen, ist auch hier Hilfe zur Selbsthilfe.

Drittens: Wir schulden Solidarität und Hilfe nicht zuletzt den Menschen in den Entwicklungsländern. Das bezieht sich sowohl auf unmittelbare Hilfe als auch auf die Schaffung von nationalen und internationalen Rahmenbedingungen, die die Entwicklungsländer in die Lage versetzen, an der arbeitsteiligen Weltwirtschaft und damit an der Wohlstandsmehrung teilzunehmen. Wir wollen eine umfassende Entwicklungspartnerschaft, die den Willen der Entwicklungsländer und ihre eigene Verantwortung für die Politik stärkt. Wir wollen die anderen Länder dabei in einer besonderen Weise unterstützen. Dies gilt auch für Entschuldungsmaßnahmen. Wir werden uns deshalb um ein international abgestimmtes Vorgehen bemühen, damit eine faire Lastenteilung gesichert ist.

Der Teufelskreis von Armut, Bevölkerungswachstum und Umweltzerstörung muss durchbrochen werden. Weltweit ist das Problembewusstsein für die Bekämpfung der Armut und die Erhaltung unserer Schöpfung gewachsen. In Rio wurde ein dynamischer Prozess eingeleitet, der uns bei der Lösung der drängenden Zukunftsfragen der Menschheit voranbringt. Die Kräfte, die durch den Abbau des Ost-West-Gegensatzes frei werden, sollten nun zur Sicherung der Lebensgrundlagen der gesamten Menschheit genutzt werden.

 

III.

In den letzten Wochen ist die Europapolitik, nicht zuletzt auf Grund des Referendums in Dänemark, erneut in den Vordergrund der öffentlichen Diskussion gerückt worden. Das hier und da zu beobachtende Unbehagen an der Entwicklung hat ganz gewiss auch mit dem Tempo der tiefgreifenden Veränderungen in den letzten drei Jahren zu tun. Viele treibt die Sorge um, ob wir uns über die Deutsche Einheit hinaus mit der Vertiefung und Erweiterung der Gemeinschaft sowie der Hilfe für die Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas nicht zu viel auf die Schultern geladen haben.

Ich habe durchaus Verständnis hierfür. Aber ich denke, wir dürfen darüber nicht die langfristigen Ziele und die Richtung der Europapolitik aus den Augen verlieren. Angesichts unserer Interessenlage sowie des europäischen und des internationalen Umfelds gibt es keine vernünftige Alternative zu einer Politik, die unser Land, die Deutschland unwiderruflich in Europa eingliedert. Die europäische Einigung war, ist und bleibt ein Eckstein der Erfolgsgeschichte unserer Bundesrepublik Deutschland.

Europa hat Deutschland wie kaum einem anderen Land wirtschaftliche und politische Vorteile gebracht. Wie stark die deutsche Wirtschaft mit Europa verflochten ist, zeigt sich unmissverständlich in einer Zahl: Rund Dreiviertel unserer Exporte gehen heute in den europäischen Wirtschaftsraum. In einem ähnlichen Umfang beziehen wir Waren aus diesen Ländern. Dies bedeutet: Wirtschaft, Wachstum. Arbeitsplätze und Wohlstand in Deutschland sind auf das allerengste mit der Entwicklung in Europa verbunden. Nur wenn wir an der europäischen Einigung konsequent festhalten, können wir in Deutschland weiterhin Arbeitsplätze und Wohlstand sichern.

Unsere erfolgreiche Europapolitik hat letztlich auch ganz entscheidend zur Herstellung der Deutschen Einheit beigetragen; denn erst sie hat das Vertrauen geschaffen, das uns in der entscheidenden Stunde die Zustimmung unserer Nachbarn sicherte. Dies war nicht selbstverständlich; denn es gab und gibt Ängste aus der Vergangenheit, insbesondere die Erinnerung an die Untaten des Nazi-Regimes, die immer noch in vielen Ländern wach ist. Entscheidend war daher, dass wir von Anfang an die Deutsche Einheit mit einem klaren Bekenntnis zur europäischen Einigung verknüpft haben.

Auch dazu stehen wir uneingeschränkt. Wir wollen deutsche Europäer und zugleich europäische Deutsche sein. Dies ist die wohl wichtigste Lehre aus unserer wechselvollen Geschichte, aber auch und nicht zuletzt aus der geographischen Lage im Zentrum Europas.

Wir Deutschen würden vor der Geschichte versagen, wenn wir uns jetzt mit der nationalen Einheit begnügten und nicht alles daransetzten, in diesem entscheidenden Abschnitt europäischer Geschichte die Einigung des Kontinents zusammen mit unseren Partnern, insbesondere mit unseren französischen Freunden, weiter voranzubringen.

Machen wir uns nichts vor: Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts ist eine Klammer weggefallen, die bisher manches zusammengehalten hat. Auch im westlichen Teil Europas sind wir nicht vor der Versuchung gefeit, in nationalistisches Denken zurückzufallen. Es wäre ein historischer und nicht wieder gutzumachender Fehler, wenn Westeuropa angesichts der vor uns liegenden Herausforderungen seine politische und wirtschaftliche Integration verlangsamen oder gar abbrechen würde. Mit einer solchen Haltung würden wir nicht nur uns selbst, sondern auch ganz Europa schaden; abgesehen davon, dass ein zersplittertes Europa als politischer Faktor in der Welt von heute nicht mehr zählen würde.

Nur durch entschlossenes Eintreten für die Verwirklichung der europäischen Einigung können wir Rückfallen in den zerstörerischen Nationalismus vergangener Zeiten vorbeugen. Keine lose zusammengefügte Freihandelszone und auch nicht der Binnenmarkt allein, sondern nur eine starke und geschlossene Europäische Union kann diesen Rückfall verhindern und Sicherheit und Stabilität für ganz Europa garantieren.

Die großen Herausforderungen, die vor uns allen liegen, können wir nicht im nationalen Alleingang, sondern nur in enger Partnerschaft mit unseren Freunden meistern. Das gilt nicht nur für Wirtschaft, Handel und Technologie. Es gilt insbesondere auch für die Kernfragen der inneren Sicherheit und nicht zuletzt für eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Daher ist es jetzt wichtig, daranzugehen, die Europäische Union konsequent und unbeirrt zu verwirklichen. Der europäische Zug darf nicht angehalten werden, er muss weiterfahren; denn Stillstand wäre Rückschritt. Dies ist auch der Kern der gemeinsamen Erklärung, die der französische Staatspräsident und ich am 3. Juni abgegeben haben.

Ich erinnere mich in diesen Tagen immer wieder an das, was Konrad Adenauer 1954 vor der Abstimmung über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft in der französischen Nationalversammlung befürchtete: Wenn sie nicht zustande käme, könnte es 25 Jahre dauern, bis ein neuer Versuch möglich sein würde. Das war 1954. Maastricht war 1991: Es hat länger gedauert.

Auch heute gilt: Wenn wir in den Jahren nach der Deutsehen Einheit nicht auch die Europäische Union verwirklichen, besteht das Risiko, dass es noch länger dauert, bis wir erneut eine solche Chance erhalten. Die Bundesregierung wird deshalb den Vertrag von Maastricht ohne Neuverhandlungen den parlamentarischen Gremien zur Ratifizierung vorlegen.

Für uns ist es selbstverständlich, dass für Dänemark die Tür zur Europäischen Union offenbleiben muss. Allerdings muss Dänemark seinen Partnern rechtzeitig klar und deutlich sagen, was es selber will. Ich verkenne nicht, dass sich, falls Dänemark sich endgültig für ein Fernbleiben entscheiden sollte, schwierige Rechtsfragen stellen.

Entscheidend ist jetzt, dass wir gemeinsam mit unseren Partnern unseren politischen Willen deutlich gemacht haben, dass wir den Vertrag von Maastricht wie vorgesehen ratifizieren und in Kraft setzen wollen. Zugleich treten wir dafür ein, die Beitrittsverhandlungen mit Österreich. Schweden, Finnland und der Schweiz Anfang 1993 aufzunehmen und sie beschleunigt abzuschließen. Selbstverständlich ist uns auch Norwegen, sofern es dies wünscht, in der Gemeinschaft herzlich willkommen.

Wer vom Vertrag von Maastricht einen perfekten Bauplan für die Europäische Union erwartet hat, missversteht den Charakter des europäischen Integrationsprozesses. Die Europäische Union lässt sich eben nicht mit einigen Federstrichen am Reißbrett entwerfen, sondern sie muss, aufbauend auf den Erfahrungen ihrer Mitglieder, Schritt für Schritt entwickelt werden. Dies war von Anfang an die Grundlage und letztlich das Erfolgsgeheimnis der europäischen Integration von der Gründung der Montanunion über die Römischen Verträge und das Europäische Währungssystem bis hin zur Einheitlichen Akte und zuletzt zum Vertrag von Maastricht. Ich füge hier ausdrücklich hinzu: Dies war auch die Politik aller Bundesregierungen seit 1949.

Wir können mit Recht darauf hinweisen, dass dieser Vertrag in seinen wesentlichen Bereichen unsere Handschrift trägt und dass unsere Interessen voll berücksichtigt werden. Dies gilt insbesondere für die Wirtschafts- und Währungsunion. Wir haben in Maastricht einen Vertrag unterschrieben, der der künftigen europäischen Währung eine sichere Stabilitätsgrundlage gibt.

Die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion setzt voraus, dass sich alle Teilnehmer - das gilt natürlich auch für uns selbst - sich zu einer klaren „Stabilitätskultur" im Hinblick auf Inflation, Zinsen und Haushaltspolitik verpflichten.

An die Adresse derjenigen, die daran zweifeln, dass dies durchgesetzt werden kann, sage ich klar und unmissverständlich: Mit uns wird es keine Aufweichung der Stabilitätsbedingungen geben. Nur diejenigen Mitgliedsstaaten können an der Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion teilnehmen, die durch ihre Politik den dauerhaften Willen und die Fähigkeit zur Stabilität gemäß den in Maastricht vereinbarten Bedingungen unter Beweis gestellt haben.

Gleichzeitig haben wir in Maastricht gegen manchen Widerstand die Verankerung eines klar formulierten Subsidiaritätsprinzips und damit die Entwicklung hin zu einem föderalen Europa durchgesetzt.

Ich setze mich dafür ein, dass wir zu einer vernünftigen und angemessenen Fortschreibung der Beteiligung der Bundesländer in Fragen der Europäischen Union kommen. Die Arbeiten an entsprechenden Grundgesetzänderungen sind schon weit fortgeschritten. Wir wollen ein föderal verfasstes Deutschland in einem föderal gegliederten Europa.

Die europäischen Behörden müssen sich entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip klar auf das beschränken, was auf europäischer Ebene unbedingt geregelt werden muss; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dieses Prinzip bedeutet eine unmissverständliche Absage an ein zentralistisches Europa, an einen bürokratischen Moloch.

Die Europäische Gemeinschaft muss sich deutlicher als bisher darauf konzentrieren, die grundlegende Ausrichtung in wesentlichen Bereichen gemeinsamen Interesses festzulegen. Dies liegt im Interesse sowohl der Bürger als auch der eigenen Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft. Dies bedeutet auch, dass wir das, was die Gemeinschaft in den vergangenen Jahrzehnten an Regelungen geschaffen hat, immer wieder kritisch überprüfen müssen.

In Brüssel sind wir in der Vergangenheit oft zu perfektionistisch, and oft zu bürokratisch vorgegangen. Natürlich brauchen wir in der Europäischen Gemeinschaft faire Wettbewerbsbedingungen. Aber das bedeutet nicht, dass dort alles und jedes bis ins kleinste Detail geregelt werden muss.

Ich habe daher gemeinsam mit anderen Kollegen für den Europäischen Rat in Lissabon angeregt, auch über diese Frage zu sprechen, vor allem darüber, wie der Grundsatz der Subsidiarität noch besser zum Tragen kommen kann.

Wir wollen ein Europa, das von dem Reichtum seiner kulturellen und sprachlichen Vielfalt, von den Erfahrungen und Traditionen seiner Mitglieder getragen wird - ein Europa, das nationale und regionale Identitäten schätzt, ein Europa, das den notwendigen Freiraum lässt. Eine künftige Europäische Union ist eben kein Schmelztiegel, in dem die nationalen Identitäten aufgehen. Die Europäische Union, die wir uns wünschen, ist ein gemeinsames Dach, unter dem wir, ob Deutsche oder Franzosen oder Italiener, unsere Identität behalten. Nur so wird dieses Europa lebensfähig sein. Nur so wird es von unseren Bürgern akzeptiert. Nur so wird es eine Zukunft haben, und dies wünschen wir.

 

IV.

Vor 20 Monaten haben wir die staatliche Einheit Deutschlands vollendet. Viele Erwartungen haben sich in dieser Zeit erfüllt. Aber es hat auch Rückschläge und Enttäuschungen gegeben. Manches wird eben länger dauern; entsprechend höher ist auch der Transferbedarf an finanziellen Ressourcen von West nach Ost. Wer heute den Weg betrachtet, den wir seit dem 3. Oktober 1990 zurückgelegt haben, sollte sich die Ausgangslage noch einmal in Erinnerung rufen.

Inzwischen wissen wir, dass die DDR 1989 vordem Ruin stand. Sie war praktisch zahlungsunfähig und hatte aus eigener Kraft keinerlei Zukunftschancen mehr. Im Herbst 1989 war das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in diesem Gebiet nur geringfügig höher als vor dem Zweiten Weltkrieg. Es war etwa ebenso hoch wie in der Bundesrepublik im Jahre 1954.

Die Misswirtschaft des SED-Regimes hatte die Betriebe der DDR international wettbewerbsunfähig gemacht und - schlimmer noch - alle Voraussetzungen für einen wirtschaftlichen Aufschwung systematisch vernichtet. Der selbständige Mittelstand war ausgeschaltet und enteignet worden; die Planwirtschaftler hatten industrielle Monostrukturen geschaffen, die nur dank der künstlichen Arbeitsteilung im RGW lebensfähig waren.

Noch bei Abschluss des Vertrags über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, das heißt, vor zwei Jahren, gingen alle Fachleute davon aus, dass das Vermögen der DDR ausreichen würde, den Staatshaushalt der DDR zu sanieren, die wirtschaftliche Umstrukturierung zu finanzieren sowie den Sparern zu einem späteren Zeitpunkt sogar noch einen Anteil am volkseigenen Vermögen zu gewähren.

Ich will das angesichts der Diskussion dieser Tage in Erinnerung rufen. Damit hier kein Zweifel aufkommt: Das war auf allen Seiten der deutschen Politik gängige Meinung. Manch einer, der sich heute anders äußert, dachte damals genauso.

[...] Inzwischen ist unübersehbar, dass das Vermögen der DDR von allen Beteiligten beträchtlich überschätzt wurde. Als eine weitere schwere Belastung erwies sich die jahrzehntelange Vernachlässigung von Wohnungen, Straßen, Schienenwegen, Telefonen und jeglicher Infrastruktur, die für den wirtschaftlichen Aufschwung unabdingbar sind. Heute wissen wir aus den damals geheimen SED-Papieren, dass die SED die Kredite aus dem Westen nicht für notwendige Investitionen verwendete. Wesentliche Teile der Kreditmittel wurden gezielt auf Konten im Ausland deponiert, um die zunehmende Zahlungsunfähigkeit des DDR-Regimes zu verschleiern und weitere Kreditfähigkeit vorzutäuschen. Es wurde gleichzeitig ein unvorstellbarer Raubbau an der Natur betrieben, der uns heute vor enorme Rekultivierungs- und Sanierungsaufgaben stellt.

Diese schwierige Ausgangslage wurde zusätzlich belastet durch den weitgehenden Zusammenbruch des Osthandels. Wir sind - und auch das war einmal gemeinsame Meinung - im Einklang mit allen Experten im Herbst 1990 davon ausgegangen, dass die Ostexporte aus den neuen Bundesländern zu einem wesentlichen Teil erhalten werden könnten, auch wenn sie nicht mehr die frühere Höhe von 30 Milliarden D-Mark erreichen würden.

Es ist in diesen Tagen gerade erst ein Jahr her, dass mir Präsident Michail Gorbatschow bei unserer Begegnung in Kiew noch Käufe in Hohe von 20 Milliarden D-Mark zugesagt hat. Im Gefolge der tiefgreifenden Veränderungen in der ehemaligen Sowjetunion erreichen wir heute nicht annähernd diese Zahl.

Wir alle müssen uns die Frage stellen, ob diesen veränderten Rahmenbedingungen immer ausreichend Rechnung getragen wird. Dies gilt auch für die Lohnpolitik. So sind die Lohnkosten für die Betriebe dramatisch gestiegen, während Umsätze und Produktivität weit dahinter zurückgeblieben sind. Dies geht zu Lasten von Arbeit und Beschäftigung. Und es ist auch ein Hemmnis ist für Investoren, zu einem stärkeren Engagement zu kommen.

Wenn man sich an diese Tatsachen erinnert, kann man erst ermessen, welche Fortschritte trotz allem seit dem 3. Oktober 1990 bereits erreicht wurden. Alle Experten rechnen für dieses Jahr mit einem realen Wachstum in der Größenordnung von plus 10 Prozent in den neuen Bundesländern. Die Geschäftserwartungen der Unternehmen sind deutlich nach oben gerichtet. Es ist erkennbar, dass der Aufschwung Ost begonnen hat. Aber er muss natürlich noch an Breite gewinnen.

In der Politik der Treuhandanstalt gewinnt die Sanierungsaufgabe zunehmend an Gewicht, und wir wollen dies auch so. Die Treuhandanstalt unterstützt ihre sanierungsfähigen Unternehmen aktiv bei der Umstrukturierung. Sanierung und Privatisierung greifen ineinander.

Die Verbesserung der Infrastruktur - das ist wichtig für den Aufschwung - ist in vollem Gange. Je Einwohner liegen die öffentlichen Investitionen in Ostdeutschland um 30 Prozent über dem Niveau der westdeutschen Länder. In diesem Jahr wird die Telekom 600000 neue Telefonanschlüsse einrichten.

Das ist mehr als in zehn Jahren in der ehemaligen DDR. Die Gesamtinvestitionen für die Verbesserung der Verkehrs Infrastruktur in den neuen Bundesländern betragen in diesem Jahr über 14 Milliarden D-Mark. Schwerpunkt für die kommenden Jahre sind die 17 „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit" mit einem Investitionsvolumen von insgesamt 56 Milliarden D-Mark.

Die privaten Investitionen nehmen zwar ebenfalls deutlich zu, aber sie liegen - dies füge ich hinzu - immer noch spürbar unter dem Niveau der westlichen Länder. Es gibt für mich keinen Zweifel, dass verstärkte Investitionen der Schlüssel für den wirtschaftlichen Aufschwung sind und bleiben.

Die Bundesregierung setzt deshalb klare Prioritäten bei der weiteren Verbesserung der Investitionsbedingungen in den neuen Bundesländern sowie in der Wirtschaftsförderung. Wir werden auf der Kabinettssitzung im Zusammenhang mit der Entscheidung zum Bundeshaushalt 1993 am 1. Juli 1992 die dazu notwendigen Beschlüsse fassen. Niemand darf jedoch übersehen: Keine noch so großzügige staatliche Investitionsförderung kann den Lohnkostennachteil ostdeutscher Betriebe ausgleichen.

Ich weiß, wie schwierig es insbesondere für die Gewerkschaften ist, bei ihren Mitgliedern für einen behutsameren Lohnanpassungsprozeß zu werben. Ich weiß dies nicht zuletzt aus den Erfahrungen der letzten Stunden und der Diskussion um den Öffentlichen Dienst in den neuen Bundesländern. Aber ich bin mir auch sicher: Viele Arbeitnehmer, die um ihren Arbeitsplatz bangen, wären durchaus damit einverstanden, den Angleichungsprozess an das westliche Lohnniveau ein wenig zu strecken, wenn dadurch die Überlebenschance ihres Betriebs und die Sicherheit ihrer eigenen Arbeitsplätze erhöht werden könnten.

Denn der Arbeitsplatz bedeutet für die meisten mehr als nur den Anspruch auf Entlohnung. Viele Menschen finden in ihrer Beschäftigung zugleich Selbstbestätigung und soziale Anerkennung. Langjährige Betriebszugehörigkeit bedeutet auch die Geborgenheit in einem stabilen sozialen Umfeld und damit immer ein Stück persönliche Sicherheit. Wir verstehen die Sorgen der Menschen sehr gut, die um ihren Arbeitsplatz bangen.

[...] Besonders die älteren Arbeitnehmer sowie alleinstehenden Frauen mit Kindern haben es schwer, aus Arbeitslosigkeit in die Beschäftigung zurückzufinden. Mit unserer aktiven Arbeitsmarktpolitik, die von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen über Qualifizierungsangebote bis zum Altersübergangsgeld reicht, helfen wir gerade auch diesem Personenkreis.

In den alten Bundesländern muss das Verständnis noch zunehmen, wie schwierig die Zeit des Übergangs im Osten Deutschlands für die meisten Bürger ist. Der Weg, der im Westen im Laufe einer Generation zurückgelegt wurde, muss im Osten Deutschlands innerhalb einiger weniger Jahre geschafft werden.

Dies erfordert eine Bereitschaft und Fähigkeit zur Umstellung, die wir gar nicht hoch genug einschätzen können und zu der viele im Westen selbst unter sehr viel günstigeren Umständen wohl nicht mehr bereit wären.

In diesen Tagen erinnere ich mich oft an die Diskussion um Rheinhausen vor wenigen Jahren. Wenn ich mir noch einmal überlege, was damals im Zusammenhang mit der Verlegung von Arbeitsplätzen um eine Distanz von nur 9 km an öffentlicher Diskussion ablief, dann wundere ich mich schon über manche Stimme des Unverständnisses in den alten Bundesländern angesichts der Sorgen unserer Landsleute in den neuen Bundesländern.

Wir alle wollen den Aufschwung Ost. Dazu brauchen wir eine stabile Wachstumsgrundlage im Westen. In den alten Bundesländern ist die Konjunktur nach dem wiedervereinigungsbedingten Wachstumsschub in eine ruhigere Phase eingetreten. Im ersten Vierteljahr 1992 betrug das Wachstum plus 1,8 Prozent, begünstigt durch eine Reihe von Sonderfaktoren. Schon für das zweite Halbjahr dürfen wir nach meiner Überzeugung wieder eine lebhaftere Wirtschaftsentwicklung erwarten. Wir müssen uns jedoch darüber im klaren sein: Zusätzliche Lasten für die westdeutsche Wirtschaft würden nach den hohen Lohnabschlüssen dieses Frühjahrs die Konjunktur ernsthaft gefährden. Deshalb lassen sich die öffentlichen Transfers in die neuen Bundesländer auch nicht ohne Gefahr für Stabilität und Beschäftigung weiter steigern.

In diesem Jahr fließen nach Abzug der Steuereinnahmen netto rund 140 Milliarden D-Mark aus öffentlichen Kassen in die neuen Bundesländer. Dies entspricht in etwa dem gesamten erwarteten Zuwachs des Bruttosozialprodukts in diesem Jahr.

Die Hauptlast der Finanzierung trägt der Bund. Etwa jede vierte D-Mark aus dem Bundeshaushalt wird zugunsten der neuen Bundesländer verwendet. Wir stehen zu dieser großen Kraftanstrengung und verteidigen sie auch gegenüber denjenigen in den alten Bundesländern, die dies als Last und unzumutbare Opfer beklagen.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Menschen in den neuen Bundesländern viel in das vereinte Deutschland einbringen, nicht zuletzt in kultureller und menschlicher Hinsicht. Ihre Impulse und ihr Engagement können dazu beitragen, manche über Jahre gewachsene Verkrustungen in der alten Bundesrepublik zu überwinden.

Wenn der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Bundesländern weiter vorangekommen sein wird, werden von dort aus auch wesentliche Impulse für die internationale Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Standorts Deutschland ausgehen.

Wie nötig wir diese Impulse brauchen, zeigt die gegenwärtige Standortdebatte in unserem Land. Wenn wir als eine der größten Welthandelsnationen weiter auf Erfolgskurs bleiben wollen, müssen wir uns dem internationalen Wettbewerb stellen, und zwar ohne Wenn und Aber. Deshalb müssen wir bei uns die Standortdiskussion offensiv, zukunftsgerichtet und vor allem ohne Wehklagen führen.

Dabei muss sich jeder darüber im klaren sein: Es ist unsere - im übrigen gemeinsame - freie Entscheidung, dass wir uns die höchsten Arbeitskosten, die kürzeste Arbeitszeit und das dichteste soziale Netz leisten. Dafür müssen an anderer Stelle Kosten gespart oder Wege gefunden werden, um die Produktivität erheblich schneller zu erhöhen, als es die Konkurrenz schafft. Gelingt dies nicht, geraten Arbeitsplätze und natürlich Einkommen und damit auch soziale Sicherheit in Gefahr.

Diese Probleme sind in der alten Bundesrepublik entstanden und haben nichts, aber auch gar nichts mit dem Thema Wiedervereinigung zu tun. Wir müssten sie auf alle Fälle lösen, auch wenn es die Wiedervereinigung nicht gegeben hätte.

In vielen Ländern der Welt, nicht zuletzt in Europa, werden ungeachtet der parteipolitischen Ausrichtung der jeweiligen Regierung die Rahmenbedingungen für Unternehmensinvestitionen verbessert; denn die Investitionen von heute sind die Arbeitsplätze und Einkommen von morgen. Deshalb bleibt auch bei uns die Fortsetzung der Unternehmensteuerreform vordringlich. Dabei geht es nicht um „Steuergeschenke" für wenige, sondern um Beschäftigungs- und Einkommenschancen für alle. Deshalb wollen wir bis zum Ende dieses Jahres den Beschluss über die zweite Stufe der Unternehmen Steuerreform fassen; denn wichtig ist: Zu Beginn des europäischen Binnenmarktes am 1. Januar 1993 müssen die Unternehmen verlässliche Kalkulationsgrundlagen haben. Dies wird selbstverständlich auch im Gespräch mit den Bundesländern und nicht zuletzt mit den Kommunen zu geschehen haben.

Auch die Regierungen unserer Partner in der EG bereiten ihre Länder durch entsprechende Reformen auf den Binnenmarkt vor. Unabhängig von der jeweiligen parteipolitischen Orientierung steht für sie alle dabei die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit im Vordergrund.

Jenseits aller kurzfristigen Kostenaspekte - so wichtig diese auch immer sind - hängt die Zukunftsfähigkeit des Standorts Deutschland auch von einer Reihe ganz anderer Faktoren ab. Dazu gehören die kulturelle Vielfalt, Spitzenleistungen in Wissenschaft und Technik sowie eine leistungsfähige Infrastruktur und Verwaltung. Diese Stärken des Standorts Deutschland müssen wir bewahren und fortentwickeln.

Entscheidend ist auch, dass wir uns rechtzeitig auf die deutlich zu beobachtenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen einstellen. Das gilt auch für die dramatischen Verschiebungen im Altersaufbau der Bevölkerung unseres Landes. Als Folge einer der niedrigsten Geburtenraten in der Welt und der erfreulicherweise weiter ansteigenden Lebenserwartung kehrt sich die Bevölkerungspyramide in unserem Land der Tendenz nach um. Derzeit liegt der Anteil der über Sechzigjährigen an der Gesamtbevölkerung bereits bei über 20 Prozent, und er steigt weiter. Schon heute leben in Deutschland über drei Millionen Menschen im Alter von über 80 Jahren.

Dies alles verlangt Vorsorge in unserem Sozial- und Gesundheitssystem. Wer die Entwicklung betrachtet, erkennt: Die Pflegeversicherung ist eben kein Luxus, sondern eine dringende Notwendigkeil.

[...] Ich habe für die Bundesregierung in der Regierungserklärung zu Beginn dieser Legislaturperiode festgestellt, dass wir in dieser Legislaturperiode die notwendige Gesetzgebung zur Pflege Versicherung durchsetzen werden. Genau dies werden wir tun.

Soziale Leistungen müssen sich immer auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gründen. Auch hier werfen die Tatsachen Fragen auf, denen sich niemand entziehen kann. Wir haben heute - im Vergleich zu anderen Ländern in der Europäischen Gemeinschaft - extrem lange Ausbildungszeiten im akademischen Bereich, ein Renteneintrittsalter von durchschnittlich unter 59 Jahren, mit 37,7 Stunden die kürzeste Wochenarbeitszeit aller Industrieländer und als Folge kurzer Wochenarbeitszeiten und langen Urlaubs eine Jahresarbeitszeit von rund 1 500 Stunden. Das ist wesentlich weniger als in vergleichbaren Ländern in Europa und in der Welt. Diese Bilanz wird nicht etwa durch längere Maschinenlaufzeiten in unseren Betrieben ausgeglichen. Sie wissen alle, dass wir auch in dieser Frage mit das Schlusslicht bilden.

Das sind doch Tatsachen, die ungeachtet aller parteipolitischen Überlegungen und ungeachtet der Frage, ob jemand eher auf der Seite der Gewerkschaften oder eher auf der Seite der Industrie steht, von jedem erkannt werden. Ich weiß aus Gesprächen mit vielen wichtigen Repräsentanten der deutschen Gewerkschaftsbewegung, dass sie genauso wie ich und andere sehen, dass hier ein Problemberg auf uns zukommt, den wir angehen müssen.

Deswegen bin ich überzeugt, dass die Sicherung unserer Zukunft verlangt -und zwar von allen Verantwortlichen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft -, jetzt die Kraft und den Mut aufzubringen, die notwendigen Weichen Stellungen vorzunehmen.

Deutsche Einheit, europäische Einigung, der Zusammenbruch des kommunistischen Systems und der Aufbau von Demokratie und marktwirtschaftlicher Ordnung in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, vor allem aber auch der Aufbau in den neuen Bundesländern sind für uns vor allem eine großartige Chance und die Herausforderung unserer Generation schlechthin.

Wir haben jetzt die einmalige Chance, am Ende dieses Jahrhunderts Frieden und Freiheit für ganz Europa auf Dauer zu sichern. Wir wollen und werden diese Chance nutzen zum Wohle kommender Generationen, weil dies unsere Pflicht vor der Geschichte ist.

 

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 67 (18. Juni 1992).