17. Oktober 1992

Willy Brandt zum Gedenken

 

Wir nehmen heute Abschied von einem Mann, der durch seine Politik und durch seine außergewöhnliche Persönlichkeit die Geschichte unserer Bundesrepublik Deutschland entscheidend mitgeprägt und viel zum Ansehen unseres Vaterlands in der Welt beigetragen hat.

Ihnen, sehr verehrte Frau Seebacher-Brandt, und allen Familienangehörigen gilt in dieser Stunde unser herzliches Mitgefühl und unser Beileid.

Es war der ausdrückliche Wunsch von Willy Brandt, hier in Berlin seine letzte Ruhe zu finden - nach einem bewegten Leben voll von dramatischen Höhepunkten, aber auch manchen Niederlagen.

Diese Stadt und ihre Menschen standen immer auch im Mittelpunkt des politischen Denkens und Handelns von Willy Brandt. Ihr galt bis zuletzt seine besondere Zuneigung, ja seine Liebe. Als Willy Brandt hier Regierender Bürgermeister war, stand Berlin im Brennpunkt des Ost-West-Konflikts. Er musste hier in dieser Stadt ohnmächtig mit ansehen, wie die Mauer errichtet, wie die Trennung zementiert wurde. Er litt - wie wir alle - unter dieser Trennung. Er wusste, dass die Menschen in Berlin, dass die Menschen in Deutschland zusammengehören.

Willy Brandt sah es als seine Aufgabe an, Brücken zu bauen - Brücken über Stacheldraht und Mauer hinweg, Brücken zu unseren östlichen Nachbarn und - vor allem in seinen letzten Lebensjahrzehnten - Brücken zwischen Nord und Süd. Er verstand sich immer als Deutscher, als Europäer und als Weltbürger zugleich. Seine Politik der Öffnung nach Osten vollzog sich auf dem Fundament des Bündnisses, das die Bundesrepublik Deutschland mit den freien Völkern des Westens geschlossen hatte.

Gleichwohl - und er wusste dies - war diese Politik ein schwieriger Balanceakt. Auch für ihn war es die Verwirklichung eines Traums, als der Ost-West-Konflikt endlich überwunden wurde. Denn damit war vieles möglich geworden, was zuvor den meisten als Utopie erschien: umfassende Fortschritte bei Abrüstung und Rüstungskontrolle, die Heimkehr unserer östlichen Nachbarn nach Europa und die Vollendung der staatlichen Einheit Deutschlands in Frieden und in freier Selbstbestimmung.

Willy Brandt hatte keine Scheu, das Wort „Vaterland" in den Mund zu nehmen. Er gehörte zu einer Generation, die in einem Deutschland aufwuchs, das nicht geteilt war. Für ihn blieb die Einheit der Nation deshalb auch in den Jahrzehnten der staatlichen Trennung eine Realität.

Er hat mit großem persönlichen Mut gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft gekämpft, weil er ein demokratisches, freies und der Menschenwürde verpflichtetes Deutschland wollte. Diese Überzeugung bestimmte auch sein politisches Wirken nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs - nicht zuletzt hier, im damals noch geteilten Berlin.

Angesichts dieser eigenen Erfahrungen mit zwei totalitären Diktaturen auf deutschem Boden wusste Willy Brandt auch, dass Deutschland ein schwieriges Vaterland ist. Er wollte, dass die Deutsehen an die guten Traditionen ihrer Geschichte anknüpfen, ohne die schlimmen Kapitel aus ihrer Erinnerung zu tilgen. Er wandte sich gegen eine vereinfachende Aufteilung der Menschheit in Gute und Böse. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass Licht und Schatten eng beieinander wohnen - in jedem einzelnen, aber auch in jedem Volk.

Auf der Grundlage dieser Einsicht hat er nicht nur in seinen Staatsämtern Politik und politische Auseinandersetzung. Er konnte Menschen begeistern, er konnte aber auch polarisieren. Sein Wort hatte weit über die Grenzen seiner eigenen Partei hinaus Gewicht.

Ich danke Willy Brandt für manchen guten Rat in den zurückliegenden Jahren der dramatischen Veränderung in Deutschland und in Europa. Die Wiedervereinigung unseres Vaterlands in freier Selbstbestimmung hat er vorbehaltlos unterstützt. Schon vor dem Fall der Mauer hatte er erkannt, dass sich die einmalige Chance zur Überwindung der Spaltung Deutschlands und damit auch zur Überwindung der Spaltung Europas bieten könne.

Willy Brandts Worte hier an dieser Stelle als Alterspräsident des ersten frei gewählten Deutschen Bundestags bleiben unvergessen und sind uns Vermächtnis: Wir haben die Einheit Deutschlands im Innern zu vollenden, die Einigung Europas voranzubringen und unserer gewachsenen Mitverantwortung in der Welt gerecht zu werden.

Wir danken Willy Brandt.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 114 (20. Oktober 1992).