Herr Präsident des Senats,
Herr Präsident des Abgeordnetenhauses,
meine Damen und Herren Senatoren,
meine Damen und Herren Abgeordnete,
Exzellenzen,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihr freundliches Willkommen und für die ehrenvolle Einladung, auch heute, wie vor zwölf Jahren, vor beiden Häusern des Kongresses der Argentinischen Republik zu sprechen. Ich tue dies nicht nur als Bundeskanzler, sondern auch als Kollege. Seit 37 Jahren bin ich Parlamentarier, zunächst im Bundesland Rheinland-Pfalz, seit 20 Jahren im Deutschen Bundestag. Ich überbringe Ihnen, den Damen und Herren Senatoren und Abgeordneten und allen Bürgerinnen und Bürgern Argentiniens herzliche Grüße aus dem wiedervereinten Deutschland, vom befreundeten deutschen Volk.
Wir Deutsche erinnern uns mit Dankbarkeit daran, daß wir in der Zeit des geschichtlichen Umbruchs der Jahre 1989/90, als die Mauer fiel, die Berlin, die Deutschland und Europa trennte, und die Deutsche Einheit kam, in Ihrem Land viel Sympathie und Unterstützung erfahren haben. Wir haben dies nicht vergessen, wir werden dies nicht vergessen.
Unsere guten Beziehungen reichen weit zurück in die Geschichte. Seit Jahrhunderten, vor allem aber seit 150 Jahren, gab es einen ständigen Strom von Deutschen nach Argentinien - erst Missionare, Kaufleute, später Wissenschaftler, Mediziner und Pädagogen, aber auch Ingenieure, Landwirte und Industriearbeiter. Sie wurden hier in ihrer neuen Heimat mit offenen Armen und Herzen aufgenommen. Als Bürger Argentiniens bewahrten sie sich zugleich die Liebe zur alten Heimat und wurden so zu Bindegliedern zwischen unseren Ländern. Wer gestern dabei war, als wir das Schulfest der Goethe-Schule feierten, konnte etwas von diesen Bindungen spüren und erfahren - in den Liedern, in den Reden, in den Gesichtern und in den Augen der Menschen, die sich da versammelt hatten.
Vor zwölf Jahren habe ich Ihnen an dieser Stelle zur wiedergewonnenen verfassungsmäßigen Ordnung gratuliert. Wir Deutsche haben den erfolgreichen Weg Ihres Landes zurück zu Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat mit Bewunderung und Respekt verfolgt. Hervorragende Persönlichkeiten haben diese Entwicklung getragen. Stellvertretend für viele nenne ich den früheren Präsidenten, Dr. Raul Alfonsin und Ihren jetzigen Präsidenten, Dr. Carlos Menem.
Wir sind es in der Weltpolitik ja gewohnt, auf Krisenherde zu blicken. Von Erfolgen wird meistens nur wenig gesprochen. Der Siegeszug der Demokratie, der Prozeß der politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung in nahezu ganz Lateinamerika sind eine große, eine beispiellose Erfolgsgeschichte! Wir alle sollten mehr über solche Erfolge sprechen. Denn sie sind eine Ermutigung für die Menschen, in deren Ländern es keine Freiheit, keine Demokratie und keinen Rechtsstaat gibt.
Als ich vor zwölf Jahren hier sprach, ahnte ich selbst nicht, daß mein geteiltes Vaterland sechs Jahre später in Frieden und mit Zustimmung aller seiner Nachbarn wiedervereint werden würde. Heute leben die Deutschen wieder in gemeinsamer Freiheit in einem Staat zusammen. Und was kaum weniger wichtig ist: Deutschland - das Land mit den meisten Nachbarn in Europa - ist ausschließlich von demokratischen Rechtsstaaten umgeben.
Mein Vaterland blickt zurück auf die längste Friedensperiode seiner jüngsten Geschichte. In meiner Familie ist - wie in vielen anderen deutschen Familien auch - in den letzten 80 Jahren in jeder Generation ein Angehöriger als Soldat gefallen. Aus unserer Geschichte haben wir gelernt, wie wichtig es ist, den Frieden zu erhalten. Um diesen Frieden zu erhalten, wollen wir den Weg zu einem geeinten Europa unumkehrbar machen. Wir Deutschen brauchen das Haus Europa mehr als alle anderen. Wir wissen, daß der Friede und die Freiheit unseres Landes und unseres Kontinents auf Dauer nur in einem engen Zusammenschluß der europäischen Völker zu sichern sind. Wir wollen ein stabiles, ein starkes Europa bauen, aber keine "Festung Europa". Wir wollen ein offenes Europa. "Offen" heißt für mich auch, daß wir mit den Ländern Lateinamerikas und gerade auch mit Argentinien möglichst enge Beziehungen haben. Dem trägt auch das nach meinem Auftrag ausgearbeitete Lateinamerika-Konzept der Bundesregierung von 1995 Rechnung.
Freier Welthandel ist für die Exportnation Deutschland so wichtig wie die Luft zum Atmen. Deswegen sind alle Befürchtungen jetzt seien wir Europäer dabei, unsere inneren Grenzen abzuschaffen, um nach außen neue Grenzen zu errichten, unbegründet. Ich sage es noch einmal, wir wollen ein freies, offenes Europa. Auf diesem Weg gilt es - auch in unserem Land -, noch viele Probleme zu lösen.
Wirtschaftliche und soziale Probleme, die nach 40 Jahren sozialistischer Mißwirtschaft im Osten unvermeidlich waren, werden wir lösen. Aber schwerer tun wir uns, ich räume es offen ein, mit der "inneren Einheit" unseres Landes. Gewiß sind die Entwicklungen in unseren Ländern in vielem nicht vergleichbar. Aber wir wissen jetzt vielleicht besser, welch große Schwierigkeiten ein Land nach langer Zerrissenheit hat, zur inneren Aussöhnung zu finden.
Meine Damen und Herren, uns beeindruckt das Wachstum Ihres Landes, das Teil einer der weltweit dynamischsten Regionen ist. Durch mutige Wirtschaftsreformen hat Argentinien die Inflation erfolgreich bekämpft. Es hat dem freien Spiel der Marktkräfte wieder Raum gegeben und den Staat auf seine Rolle als Garant der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen beschränkt. Die argentinische Volkswirtschaft hat sich zum Weltmarkt hin geöffnet. Ihr Land präsentiert sich heute als ein Land von hoher monetärer Stabilität. Seine hohen Wachstumsraten in den vergangenen Jahren haben in der ganzen Welt Beachtung gefunden.
Besonders begrüße ich die Integrationsfortschritte, die mit dem MERCOSUR in Lateinamerika auf wirtschaftlichem Gebiet entstanden sind. Ihr Land hat an der Gründung und dem Fortschritt dieses Zusammenschlusses einen großen Anteil. Ich kann Sie nur ermutigen, diesen Weg weiterzugehen. Es ist der Weg, der auch die Staaten Europas zu Wachstum und Wohlstand geführt hat. Denn die großen Aufgaben unserer Zeit lassen sich nicht mehr im nationalen Alleingang lösen.
Die zunehmende Globalisierung der Märkte, der immer schärfer werdende Standortwettbewerb zwischen Ländern und Regionen um Investoren und Arbeitsplätze erfordern gemeinsame Lösungen. Dies haben ja auch andere Kontinente und Regionen erkannt - ich nenne die nordamerikanische Freihandelszone NAFTA sowie die Integrationsschritte der Zusammenschlüsse von ASEAN und APEC. Zwischen diesen Abkommen und Zusammenschlüssen muß es vernünftige Regelungen geben. Das im Dezember 1995 unterzeichnete Rahmenabkommen zwischen der Europäischen Union und dem MERCOSUR ist ein wichtiger Schritt für eine gute gemeinsame Zukunft unserer beiden Regionen und Länder.
Aus dem Rahmenabkommen von Madrid kann und soll eine neue Partnerschaft zwischen Europa und dem südlichen Teil Lateinamerikas hervorgehen. Die Freihandelszone zwischen den beiden Wirtschaftszonen, die bis zum Jahre 2005 verwirklicht werden soll, wird den interregionalen Handel, den freien Kapital- und Dienstleistungsverkehr, den Technologietransfer und die Zusammenarbeit in Telekommunikation, Wissenschaft und zum Erhalt der Schöpfung weiter fördern. Aber schon jetzt wird das Rahmenabkommen von Madrid den politischen Dialog zwischen Europa und den MERCOSUR-Staaten beleben und die gegenseitige Konsultation über die großen Fragen der Weltpolitik voranbringen.
Europa und der südliche Teil Lateinamerikas, der durch eine besonders starke Einwanderung aus Europa geprägt ist, werden durch diesen Dialog näher zusammenrücken. Diese Entwicklung richtet sich gegen niemand, sondern ist Teil eines weitergespannten Dialogs der Weltregionen auf unserem immer kleiner wirkenden Planeten. Im globalen Rahmen muß es um Kooperation, nicht um Konfrontation gehen. Für den freien Welthandel waren der erfolgreiche Abschluß der Uruguay-Runde des GATT vor drei Jahren und die Schaffung der Welthandelsorganisation ein großer Erfolg. Ihn gilt es zu bewahren. Aus diesem Grund sollte kein Land, und sei es noch so groß, Regeln aufstellen, die in den internationalen Handel eingreifen. Ich bin mir sicher, daß Europäer und Lateinamerikaner in diesem Punkt völlig einig sind.
Meine Damen und Herren, drei Tage lang habe ich Ihr großartiges Land besucht. Es waren Tage mit wichtigen Begegnungen und guten Gesprächen. Ich weiß, daß wir Deutsche in Argentinien viele gute Freunde haben. Die deutsch-argentinische Geschichte ist neben unseren intensiven wirtschaftlichen Beziehungen vor allem durch enge kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit geprägt. Viele große deutsche Unternehmen ließen sich schon um die Jahrhundertwende in Argentinien nieder. Deutsche Einwanderer begründeten hier den guten Ruf deutscher Kultur und Wissenschaft. Vor 130 Jahren rief Ihr Präsident Sarmiento viele deutsche Professoren ins Land, die ebenso wie ihre Nachfolger wichtige Beiträge zur Entwicklung des argentinischen Universitätswesens und der Wissenschaft leisteten.
Die deutsche Sprache wird heute in über 30 Schulen Argentiniens unterrichtet. In drei Goethe-Instituten des Landes wird ein Bild deutscher Kultur vermittelt und der kulturelle Austausch gefördert. Viele Argentinier haben als Stipendiaten an deutschen Universitäten studiert, viele Universitäten unterhalten einen Dozenten- und Studentenaustausch. Ich füge hinzu: Es ist nützlich, neben Besuchen in den USA, auch Europa und Deutschland zu besuchen. Es ist nützlich, auch für junge Leute aus Argentinien, wieder Deutsch zu lernen, denn im Haus Europa, mit seinen 370 Millionen Einwohnern, sprechen immerhin rund 100 Millionen Menschen Deutsch als Muttersprache. Unsere Länder haben sich in der Vergangenheit viel gegeben, und sie können sich weiter viel geben. Das wünsche ich mir. Das war auch das Ziel meines Besuches.
Ich habe gestern mit Präsident Menem vereinbart, daß wir eine neue Dynamik, einen neuen Schub in die Beziehungen zwischen unseren Völkern bringen wollen. Wir haben uns viel vorgenommen und ich hoffe sehr, daß wir beim Besuch Ihres Präsidenten im Mai nächsten Jahres bei uns in Deutschland bereits gemeinsam eine erste "Erfolgskontrolle" darüber vornehmen können, was wir erreicht haben.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir ein persönliches Wort. Wie Sie wissen, bin ich ein großer Freund des Fußballsports. Argentinien steht bei uns zu Hause für große Fußballkunst. Unsere beiden Länder haben sich ja im Fußball unvergessene Spiele geliefert - 1986 siegte Argentinien bei der Weltmeisterschaft gegen uns, 1990 gewannen wir. Es ist an der Zeit, daß einer von uns beim nächsten Mal wieder den Titel holt! Argentinien steht aber auch für Tanz und Musik - und für eine faszinierende Literatur, die - wie überhaupt die Werke lateinamerikanischer Autoren - in Deutschland viele treue Leser hat. Ich denke zum Beispiel an Jorge Luis Borges, der mit seinen Werken auch ein Kämpfer für Menschenrechte und Freiheit gewesen ist.
Argentinien und der lateinamerikanische Kontinent stehen uns in Europa durch die vielfältigen Gemeinsamkeiten näher als andere Regionen der Welt. Ebenso hat Argentinien stets nach Europa geblickt. Wir wollen unsere guten Beziehungen weiter ausbauen und vertiefen. Im Geist partnerschaftlicher Zusammenarbeit reicht Deutschland Argentinien die Hand.
Im Vergleich zu Deutschland hat Argentinien eine sehr junge Bevölkerung, an die ich zum Schluß ein Wort richten möchte: Argentinien verfügt über ein großartiges Zukunftspotential. Ich meine damit nicht nur seine Bodenschätze und seine Natur, sondern vor allem seine Menschen. Auf die junge Generation kommt es vor allem an. Es geht um Ihre Zukunft. Sie, die jungen Menschen hier und in Deutschland, in Lateinamerika und in Europa, haben die Chance auf eine Zukunft in Frieden, Freiheit und Wohlstand. Bauen wir eine friedliche Welt, die eine gemeinsame Heimat unserer Völker ist, für Argentinier und Deutsche, für die Menschen Lateinamerikas und Europas und für alle Menschen. Wir Deutsche sind froh, dieses großartige Land als Partner zu haben. Wir wollen mit Ihnen gemeinsam diesen Weg gehen. Es lebe die deutsch-argentinische Freundschaft!
Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 80. 11. Oktober 1996.